"Manchmal habe ich schon Angst" – Erinnerungen an die ersten freien Wahlen der DDR 1990

Von infratest dimap gab es am 21.08.2014 die Ergebnisse einer Sonntagsfrage zu den am 31.8.2014 stattfindenden Landtagswahlen in Sachsen. Das Schockierendste daran sind die Prognosen für die rechten Parteien, 7 Prozent für die AfD und 5 Prozent für die NPD. Das wäre ein offensichtlicher Rechtsruck in Sachsen im Vergleich zu den letzten Landtagswahlen.
Erinnerungen an die ersten freien Wahlen in der DDR werden wach.
Umschlag-vorn-klein
Ich erinnere mich in letzter Zeit bedingt durch den 25. Jahrestag des Mauerfalles oft an die letzten 12 Monate der DDR, den Wendesommer 1989, den heißen Herbst mitsamt Mauerfall aber auch die Monate der Ernüchterung im Frühjahr 1990, als es zum ersten Mal freie Wahlen gab in der DDR. Ich studierte damals im Erzgebirge in Schneeberg. Gestern fiel mir ein Brief in die Hände, den ich 24.02.1990 einer westdeutschen Freundin schrieb und den mir diese Freundin Jahre später mit anderen „Wendezeitbriefen“ als Erinnerung an diese Zeiten zurückgab. Die Angst von der ich damals schrieb, ist auch heute wieder da. So habe ich sie vor fast 25 Jahren ausgedrückt:

Ein Sonnabend – ausnahmsweise etwas freie Zeit, ein Tag voll Wahlplakateklebens* liegt hinter mir (…). Alles ist so konfus und ein bißchen schwer, jeder 2. hält sich für einen dringenden Fall für den Psychater (gehöre wahrscheinlich dazu…aber das gibt sich, ich bin auf dem aufsteigenden Ast). (…) Man grübelt viel, über alles, vorwärts und rückwärts – zeitlich gesehen. (…) Der Tag war ohnehin traurig. Mir ging es seelisch ja bedeutend besser als vor nur 2 Wochen (tiefstes Tief) aber jetzt steckt meine Mutter drin, macht sich fix und fertig – oder ist es schon, reibt sich auf für die Politik und verzweifelt an der Zukunft. (…) Es nutzt keinem Neuen Forum und keiner DDR, wenn sie sich vollends kaputt macht. Sie weint ständig.(…) Dir wird es schwer fallen, diese eigenartige Form von DDR-Depressionen** zu verstehen.
Im Süden bin ich kaum noch gern. So rechtsradikal ist er geworden. Fleischig grinsende Kohlgesichter zieren jede Ecke, im Bäcker bekommt man zur Semmel einen DSU-Kurier, „Wohlstand statt Sozialismus“ steht in leuchtenden Glanzlettern 50m weit lesbar auf Plakaten. Eine feine Devise, oder nicht? Wohlstand… naja. Wir wollen ein CSU-Antiwahlplakat herstellen, mit ebendiesem vielsagenden Spruch und Bildern aus der 3. Welt. Wahrscheinlich versteht das da unten niemand. Unser Hausmeister (Grüne Armee Fraktion und Kreisforumsprecher) bekommt schon verschiedentliche Morddrohungen. Der Süden ist furchtbar rechts.
Links ist gefährlich geworden, jedes Forumplakat wird zerfetzt. Alte Zeitungsschrift der 30er Jahre ist beliebt (Plakat: „Sachsen – Deutschland – Europa“ – mehr stand nicht drauf, in zackiger SS Schrift!!!), auch romantische Schnörkel werben für CSU und DSU, die bekommen da unten bestimmt 80 Prozent. Widerlich. Und überall Sachsenfahnen, kein Haus ohne, kein Auto ohne, jedes Moped hat ein flatterndes buntes Sachsenbändchen wedeln, Aufkleber überall. Der reinste Nationalismus. Das Pendel schlägt entgegengesetzt aus, hoffentlich pegelt es sich bald in der Mitte ein. Manchmal habe ich schon Angst da unten und bin froh in liberal-linker Gegend zu wohnen.

Die tatsächlichen Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen 1990 waren dann nicht ganz so schlimm, wie ich befürchtet hatte, dennoch kamen konservative und rechte Parteien auf knapp 60 Prozent, die CDU errang sämtliche sächsischen Direktmandate und kam allein auf 54 Prozent. Die wirklich schlimmen rechten Parteien kamen jedoch gemeinsam „nur“ auf knapp 5 Prozent, keine einzige von ihnen bekam einen Sitz im Landtag, die NPD hatte damals nur 0,7 Prozent. Mein Eindruck stammte seinerzeit aus dem Erzgebirge, das offenbar politisch weiter rechts lag als der Rest von Sachsen. Dieses Jahr – 2014 – können es aber sogar zwei solcher Parteien in den Landtag schaffen, eine davon könnte 70 Jahre nach dem Ende des Naziregimes die NPD sein. 25 Jahre sind seit den ersten freien Wahlen in der DDR vergangen und ich kann den gleichen Satz von damals wieder schreiben: „Manchmal habe ich schon Angst“.

Ich hoffe so sehr, dass die Prognosen schlechter sind als das Wahlergebnis am kommenden Sonntag. Der Rechtsruck ist gefährlich, für unsere Demokratie und damit für uns alle. Ich hoffe daher, dass alle Demokrat*innen wählen gehen, dass sie Parteien wählen, die für ein offenes Sachsen stehen (z.B. die Piraten) und dass Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit keinen Fuß in den sächsischen Landtag bekommen.

Mir sind dabei auch kreative Aktionen recht, wie die „Aktion Doppelstimme“. Mögen viele NPD-Wähler darauf reinfallen.
Umschlag-hinten-klein
* Ich klebte Wahlplakate für das Neue Forum, das später gemeinsam mit anderen oppositionellen Bewegungen in das Bündnis 90 aufging.
** Diese DDR-Depressionen bekamen einige Oppositionelle damals, die die  Chance auf den „Dritten Weg“ schwinden sahen, denn große Teile des Volkes interessierten sich nach dem Mauerfall mehr für die D-Mark und die Wiedervereinigung als für eine gesellschaftliche Reform und das Experiment eines echten Neubeginns. Das kurze historische Zeitfenster, in dem ein solcher Versuch möglich gewesen war, war dabei sich zu schließen. Eine Desillusionierung setzte ein. Gleichzeitig haben sich Unterstützer*innen der Opposition sehr aufgerieben, waren mit Haut und Haar, Leib und Seele, Tag und Nacht engagiert. So war auch meine Mutter dem Burnout nahe damals. Aber sie zog ein in das Stadtparlament von Müncheberg als Vertreterin von Neues Forum/Bündnis 90 und war viele Jahre kommunalpolitisch aktiv – bis zu ihrem Austritt aus Bündnis90/Die Grünen, als ihre Partei dem militärischen Engagement Deutschlands in Afghanistan zustimmte.
UPDATE nach der Landtagswahl – 01.09.2014
Die Wahlnacht war sehr aufregend, ihr Ergebnis frustrierend. Ihr schlechtestes Ergebnis war die Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent aller Wahlberechtigten.
Tagesschau - Wahlergebnisse Sachsen LTW 2014
Die rechten Parteien AfD und NPD kamen zusammen auf knapp 15%, lange sah es so aus, als hätte es die AfD über 10% und die NPD über 5% geschafft, dann kurz vor Mitternacht die Information des Landeswahlleiters, dass der NPD doch etwa 800 Stimmen fehlten, um die 5% Hürde und damit (erneut) den Einzug in das Landesparlament zu schaffen. Es ist also „nur“ eine rechtskonservative Partei im sächsischen Parlament vertreten, allerdings mit knapp 10%. Das ändert natürlich nichts daran, dass auch die NPD eine erschreckend hohe Wählerzahl hatte. In einigen Orten war sie zweitstärkste Partei.
Man könnte darüber heulen. Heulen hilft aber nichts, sondern mehr politische Bildung. Aufklärung, was nationale und rechtskonservative Politik anrichten können und schon angerichtet haben in der Vergangenheit, Aufklärung über verfassungsrechtlich bedenkliche Aktivitäten, Aufklärung darüber, wer bzw. was das größere Problem für Otto und Frieda Normalwähler*in darstellt – nicht die Handvoll Rumänen oder Bulgaren, die so wie Deutsche auch, die Freizügigkeit der EU nutzen, sondern die zunehmende Spaltung zwischen Arm und Reich. Wenn 10 Prozent der Bevölkerung bei uns 60% des Vermögens besitzen, aber 50% der Bevölkerung ein gemeinsames Vermögen von NULL ihr Eigen nennen, dann liegt das wohl kaum an den eingewanderten Osteuropäern. Darüber sind Debatten zu führen…und über den Einfluss der Großindustrie-Lobbyisten auf unsere Politik und über notwendige andere politischen Alternativen zur Pseudo-„Alternative für Deutschland“, die Arme Menschen gegen noch Ärmere aufhetzt, um von den eigentlichen Krisenursachen abzulenken. Wenn wir weiter in einer Demokratie leben wollen, die Grundwerte achtet, müssen wir gemeinsam mehr dafür tun, dass gesellschaftliche Probleme sachlich fundiert debattiert werden. Wir müssen dafür kämpfen, dass es wieder Gründe gibt, sich politisch wenigstens soweit zu interessieren, dass man sich mit den Programmen politischer Parteien auseinander setzt und wählen geht. 50% Nichtwähler sind ein Legitimationsproblem in einer Demokratie. Ein riesengroßes.
 
 
 

2 thoughts on “"Manchmal habe ich schon Angst" – Erinnerungen an die ersten freien Wahlen der DDR 1990

  1. 2014 könnte die NPD also in den sächsischen Landtag einziehen ? Mal sehn, ich entdecke dort eine Person mit dem urdeutschen Namen Holger Szymanski als Fraktionsvorsitzenden der Nationaldemokratenfraktion. Nagut, kann einem mal durch die Lappen gehen. Das war übrigens die Fraktion die damals den Antrag gestellt hatte den Asylantrag von E. Snowden nochmals zu prüfen. Klar, sie sind nicht so peinlich wie ihre Kameraden aus MekPom die ab und zu durch ihr rumgepöbel negativ auffallen. Insbesondere Steffan Köster fliegt ja von Zeit zu Zeit aus den Sitzungen raus.
    Sie sind also längst da und haben nicht wirklich Überraschungen am Start: Mindestlohn, Asylpolitik und als Knüller die schleppende Aufklärung bezüglich Nationalsozialistischer Untergrund. Jetzt kommt die Deutsche Alternative dazu. Werden sie zusammen ne Fraktion eingehen ?
    Werden WIR es schaffen ? Das wäre für mich viel Interessanter auch in Bezug darauf mit wem wir denn eine Fraktion bilden könnten. Werden die freien Demokraten wieder dabei sein ? Wie konform zur Union ist Bündnis90/Grüne ? Wie gewogen ist und sachsens Linke ?
    Also mal keine grauen Haare wachsen lassen.

  2. Ich habe Angst vor weiteren Bürgerkriegen. Afghanistan, Syrien, Israel, Ukraine, dort toben Kriege, seit Wochen , Monaten, Jahren. Es scheint niemanden mehr zu interessieren. Alles schon Alltäglichkeit geworden? Deutschland will Waffen in Krisengebiete liefern, wieder stört es niemanden. Gestern waren nur ungefähr 5000 Bürger auf der Demo „Freiheit statt Angst“ in Berlin. Diese verdammte Gleichgültigkeit in diesem Land.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.