Teil 7 – Aus meinem Tagebuch vor 25 Jahren – mein erstes Mal im Westen – 13.11.1989

„Gefühle kann ich nicht beschreiben, ist absolut unmöglich. Ich hab wie viele mit den Tränen gekämpft. Es war so unglaublich, man geht da durch, als wäre es nicht gestern noch ein Todesfeld mit Minen, ein Stromstacheldraht und und und, alle gingen durch, nur so, es war völlig normal. Der Empfang war ebenso unbeschreiblich. Wildfremde Menschen umarmten sich. Westberliner klatschten, alles lachte und heulte. Nie im Leben vergeß ich das.“

Meine Tagebuchnotizen vom 13. November 1989. (English Version coming soon!)

Dies ist Teil 7 aus der Reihe “Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989″, frühere Teile sind am Ende dieses Posts verlinkt, ebenso wie Dokumente, Fotos aus der Zeit und mein Buch „Mauern einreißen“. Es gibt alle Teile auch in englischen Übersetzungen auf meinem Blog. Kürzungen (private Inhalte) sind erkennbar an “(…)”, Erklärungen gibt es in Klammern: (ADB: Erklärung) oder so: (=blabla). Ausführlichere Erklärungen gibt es in Fußnoten.

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Heute ist der 13.11.89, 11:15, Hauptbahnhof am Montag
Ich faß es noch gar nicht, vor 1 Stunde genau setzte ich mich in die S-Bahn-Charlottenburg… kam von der Riki (1), wo ich ein Wochenende gelebt hatte. Ein so volles. Wahnsinn, unbeschreiblich, Herr Gott, gib mir Worte, das Maß an Emotion auszudrücken – unmöglich. Versuchen?

So eine Zählkarte hatte ich noch für den Grenzübertritt am 11.11.1989 ausfüllen müssen, sehen wollte sie aber dann doch keiner mehr an der Grenze…

Nach der Trauer am Donnerstag – waschen Freitag früh (2). U. kommt ins Bad und strahlt – na, was sagst Du zu unserem Sieg? – Ich wußte nichts, da redet er von Mauerschwund… Ich renne zum Radio und höre es selbst, jeder darf rüber wie er will. Unfaßbar. Ich bin mit Gundi gleich zur Polizei und in 1 Std. hatten wir das Visum. (3) Der Tag war gelaufen. Kein Fatz Entwurf gemacht. Frühstück (mit) Gundel gefeiert, ein Likörchen getrunken. Angerufen zu Hause und die Eltern zur Polizei geschickt. Kunstgeschichte geschwänzt und heim gefahren. Riki war schon weg. Am Samstag früh mit Auto los zum neuen Übergang Bernauerstrasse-Brunnenstrasse, der Vater drängelte sich rein, wir standen 1 Stunde, die Schlange war endlos, es ging ständig vorwärts. Nur Ausweis hochhalten. Ringsherum aufgebrochene Mauern, Bauarbeiter, Grenzer. Ich strahlte einen an – auch die freuen sich jetzt, trotz Streß.
zaehlkarte-RSAuf der Mauer saßen Westberliner Jugendliche, klatschten und winkten, mir standen auch Tränen in den Augen. Überall die Westberliner, lachen, winkend, x-Fernsehteams (vielleicht sah mich M…?) Eine Frau verteilte Nimm-2, andere Rosen, weiß und rot, Kaiser verteilte Kaiserkaffee und Schokolade – wir suchten einen Bus und fuhren dann per SBahn zur Riki. Mittags waren wir da. Ein Taumel, so viele Leute. Schon die Busse sind viel schöner, die Mauer so bunt, “sauer macht lustig, Mauer macht frustig” – schöne Sprüche überall. Riki wohnt gegenüber vom Azteken (=Schmuckladen), in der Hektorstr. (…), neben dem Kudamm, ganz dicht. Eine schöne Altbauecke, 4. Stock, Riesenfenster (im ganzen Viertel), Blick auf die Dächer, wunderschön. Helle, unkomplizierte Wohnung, liebenswert. Tolle Fotos, 2 Katzen… schön. Sohn Emil mit langen Lohden, 20. Jahre, zukünftiger Schlagzeuger. Ich hatte ein Zimmer für mich ganz allein. Die Eltern fuhren nachts zurück. Vorher sind wir (ich allein) den Kudamm auf und ab gebummelt. Hab im Ku-eck im Indienladen die Simone G. (=Schulkameradin) getroffen – die Welt ist klein, (…) Müncheberg (=Heimat- und Schulort) ist überall.

Genau an dieser Stelle - direkt hinter dem Brandenburger Tor - war ich mit meiner Mutter auf die Mauer geklettert. Ein unvergesslicher Moment in einer euphorischen Menge. Magie eines Augenblicks. Foto: Wikipedia Commons, Link: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Thefalloftheberlinwall1989.JPG, Autor unbekannt, Reproduktion: Lear 21 von einer Fotodokumentationswand des Berliner Senats

Genau an dieser Stelle – direkt hinter dem Brandenburger Tor – war ich mit meiner Mutter auf die Mauer geklettert. Ein unvergesslicher Moment in einer euphorischen Menge. Magie eines Augenblicks. Foto: Wikipedia Commons, Link: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Thefalloftheberlinwall1989.JPG, Autor unbekannt, Reproduktion: Lear 21 von einer Fotodokumentationswand des Berliner Senats

Um 18:00 haben wir uns bei Riki getroffen und beim Italiener gegessen, auf der Strasse, die in die des 17. Juni übergeht. Die Kellner rannten, mit roten Schürzen, das Essen war göttlich, der Chianti rosso wunderbar und ziemlich stark. Der Vater aß Calamari (in Ringen), Riki und die Meuder (=Spitzname meiner Mutter) eine Riesennudelplatte mit Füllungen, Pilzen und Saucen. Ich hatte eine Calzonepizza mit Pilzen, Käse und Schinken. Vorspeise war Fenchel, gefüllte Paprika, Oliven, eingelegte Forelle (super), Artischocke, irgendwie bearbeitete Tomate (unkenntlich)(4), gefüllte Pilze etc., göttlich. Ich dachte, ich muß platzen, es tat leid um jeden Rest. Wir aßen jeder von jedem, die Nudeln waren das beste dabei. Die Kellner flitzten und strahlten. Wir wurden einmal an einen anderen Tisch platziert, es war so viel Betrieb dort. Riki hatte uns eingeladen. Unvergeßlich alles. Viva la vita viva l’amore – der Kellner auf meine Umzugsbemerkung: “das bringt doch Leben in die Bude”, so toll alles.
Als wir gingen hielt uns der Restaurantchef vor der Tür an, ob wir nicht zum Abschied noch einen Amaretto oder dergleichen – wir waren schnell überredet, nach hinten geführt und bekamen jeder vom Chef was spendiert, einen Sambucco für mich (Anis, angezündet, fein und süß), Amaretto für den Vater, Sekt für die Meuder. Der Chef freute sich über uns, hatte nur 2 St. geschlafen, war nachts um 3:00 nach der Arbeit noch zur Mauer gewandert um zuzuschauen. (5) Alles war so lustig, ich freue mich schon sehr auf den Italiener, G. (=Brieffreund, er hatte mich eingeladen).
Die Zeit verrennt. Die Eltern fuhren dann heim, ich schaute mit Riki noch Landkarten an, M. wohnt nördlich von New York, gar nicht so weit. Boston ist auch in der Nähe. Riki’s Sohn ist bald ein halbes Jahr in Hollywood, zur Schule, das ist auch in Californien. Ich freue mich so auf die Reise! Padua (=wo mein Brieffreund wohnte) ist ganz dicht bei Venedig – ein Traum! In Amsterdam habe ich sogar die Helmerstraat von Wiel (=holländischer Brieffreund) entdeckt, eine lange Straße. Amsterdam macht einen feinen Eindruck. Geschlafen habe ich wie ein Engel und nur von Italienern geträumt, Kellnern die auf dem Hof herumrannten und servierten. (…) Ich wollte ja schon gestern abend nach Leipzig kommen, komme ich eben heute, hoffentlich sind sie (=meine Freunde) noch da. Zur Demo (=Montagsdemo) schaffe ich es noch. Heute abend wollen wir feten. (…) Ich werde jetzt nach Schöneweide fahren, da ist bestimmt auch noch Zeit.

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(1) Die Rede ist von der westberliner Dokumentarfilmerin Riki Kalbe, eine Freundin meiner Mutter, mit der uns eine enge Freundschaft verband. Sie hat fotographisch u.a. die Veränderungen rund um den Potsdamer Platz nach dem Mauerfall begleitet. Sie war herzlich und humorvoll aber ist leider 2002 viel zu früh gestorben, nach dem schon ihr Sohn Emil, ein begabter Musiker, mit nur 30 Jahren gestorben war. Meine Erinnerungen an den Mauerfall 1989 sind für immer mit Riki und ihrem herzlichen Lachen verbunden, mit ihrer Gastfreundschaft und den inneren Bildern z.B. von Postkartenfotos aus ihrer Kamera, Landkarten, die in ihrer Wohnung an den Wänden hingen, von der kleinen Küche, in der sich schöne Keramik stapelte und in der wir türkischen Kaffee und Rotwein tranken.

Unser alter Waschraum im Wohnheim der Fachschule für Angewandte Kunst in Ober-Schlema/Erzgebirge

Unser alter Waschraum im Wohnheim der Fachschule für Angewandte Kunst in Ober-Schlema/Erzgebirge (Foto: Kathrin Roth-Wagner)

(2) Es gab einen gemeinsamen Waschraum im Studentenwohnheim, einer Holzbaracke. Von diesem (unisex) Waschraum ist die Rede…Es war allerdings nicht mehr der alte Waschraum, wie hier abgebildet, sondern ein neuer, mit richtigen Fliesen an der Wand und gekachelten Duschkabinen, nicht mit so einer aus Blech wie in meinen ersten Studienjahren.
(3) In den Nachrichten hieß es noch, dass man einen Stempel von der Polizei braucht, deshalb sind wir zur Meldestelle, die zur Polizei gehörte und haben uns dieses Visum besorgt. Auch eine Zählkarte bekamen wir, die ich noch ausfüllt hatte, aber die niemand an der Grenze mehr sehen wollte.
(4) Mein allererstes italienisches Essen… bis auf den heutigen Tag das leckerste italienische Essen, dass ich je gegessen habe. Bestimmt auch wegen der Umstände, aber es war einfach auch himmlisch. Ich beschrieb das alles so genau, weil es alle diese Speisen so in der DDR nicht gegeben hatte. Weder Calamari noch gefüllte Pilze. Und wie getrocknete Tomaten aussehen, wußte ich auch nicht, daher beschrieb ich ihre Bearbeitung als “unkenntlich”.
(5) Erst beim Herausgehen hatte der Restaurantbesitzer mitbekommen, dass wir Ossis und bei unserem ersten West-Essen waren. Deshalb lotste er uns wieder hinein, um gemeinsam zu feiern. Es war ein magischer Moment des gemeinschaftlichen Glücks.

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Dies ist mein letzter Beitrag aus der Serie „Mein Tagebuch vor 25 Jahren“, als Bonus gibt es noch eine Postkarte, die ich wenige Tage nach dem Mauerfall an eine Freundin in Westdeutschland schrieb. Sie gab sie mir Jahre später mit anderen Briefen aus der Wendezeit zurück, als Erinnerung, und ich bin dafür sehr dankbar!

Liebe Elisabeth,               – 19.11.1989, Schlema

bevor ich ins Bett verschwinde, noch schnell ein paar Zeilen. Zuerst lieben Dank für den Havel-Artikel, vielleicht verschwindet heute wirklich nichts mehr? Ihr hört sicher, was so alles los ist bei uns, es überschlägt sich. Die Euphorie war groß. Gleich am 10.11. haben wir uns ins Auto gesetzt, um uns in Berlin von der Wahrheit des Unvorstellbaren zu überzeugen. Ich bin ulkigerweise just 11:11 Uhr durch die ehemalige Mauer – frisch durchgebrochen gewandert. Gefühle kann ich nicht beschreiben, ist absolut unmöglich. Ich hab wie viele mit den Tränen gekämpft.

Es war so unglaublich, man geht da durch, als wäre es nicht gestern noch ein Todesfeld mit Minen, ein Stromstacheldraht und und und, alle gingen durch, nur so, es war völlig normal. Der Empfang war ebenso unbeschreiblich. Wildfremde Menschen umarmten sich. Westberliner klatschten, alles lachte und heulte. Nie im Leben vergeß ich das. Hoffentlich war es trotz allem nicht zu früh, ich fürchte eine ökonomische Katastrophe. In W-Berlin tauscht man schon 1:20, was soll da aus der DDR-Mark werden? Hoffentlich kommen wir über den Winter. Apropos, so oft habt Ihr mich schon eingeladen, da würde ich so gern wirklich kommen. Ich habe nur im Dezember frei, sonst erst im Sommer. Wäre es vom 27.-30.12. möglich? Wenn Ihr schon Besuch habt, oder um diese Zeit lieber unter Euch seid, versteh ich das natürlich. Ich würde nachts fahren und vormittags ankommen in FFM. Es wäre so schön. Alles Liebe und Grüße an alle,

Anke

Dies war der 7. und letzte Teil einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989.  Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch ans Herz gelegt.

For english versions, see HERE.
Weitere Informationen rund um die Wende ’89:

Teil 6 – Aus meinem Tagebuch vor 25 Jahren – Die Mauer fällt – 9.Nov.1989


„Heute – heute vor Stunden die Nachrichten – Grenze der DDR geöffnet! Ausreisen innerhalb von 24 Stunden, Privatreisen ab sofort bei 1 Wo – 2 Wo. Anmeldung möglich. Unglaublich. Große Freude? Große Trauer, unbegreiflich? – Je Stunde 3.500 Ausreiser, je Stunde!! Oh je, alle verlassen uns.“


Meine Tagebuchnotizen vom 09. November 1989. (English version HERE!)

Dies ist Teil 6 aus der Reihe “Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989″, frühere Teile sind am Ende dieses Posts verlinkt, ebenso wie Dokumente, Fotos aus der Zeit und mein Buch „Mauern einreißen“. Es gibt alle Teile auch in englischen Übersetzungen auf meinem Blog. Kürzungen (private Inhalte) sind erkennbar an “(…)”, Erklärungen gibt es in Klammern: (ADB: Erklärung) oder so: (=blabla). Ausführlichere Erklärungen gibt es in Fußnoten.

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09.11.89 – 0:15, WH, FREITAG
Bruder verloren? (1) Heute – heute vor Stunden die Nachrichten – Grenze der DDR geöffnet! Ausreisen innerhalb von 24 Stunden, Privatreisen ab sofort bei 1 Wo – 2 Wo. Anmeldung möglich.

Unglaublich. Große Freude? Große Trauer (2), unbegreiflich?  – Je Stunde 3.500 Ausreiser, je Stunde!! Oh je, alle verlassen uns. Ist Kuno (= mein Bruder) überhaupt noch da? Der Demokratische Aufbruch (3) hat sich vor dem Übergang hingestellt und Leute versucht, zum hierbleiben zu bewegen. Alles geht, zu so vielen, alles bricht zusammen. Ständig neue Rücktritte, (4) alles überschlägt sich.

Auf diesem Radiorecorder habe ich am 9.11.1989 die Nachrichten von der Grenzöffnung verfolgt

Auf diesem Radiorecorder habe ich am 9.11.1989 die Nachrichten von der Grenzöffnung verfolgt

Neujahr in Italien? (5) Wie geht es Sebastian? (6) Solche Nachrichten und er da drin (= Gefängnis), wichtige Zeit. Zeitgeschichte. Berliner Millionendemo unvergesslich, Plakatsprüche Zeitdokumente. Neben mir schnurrt Cäsar, unsere 3. WH Katze, neben Susi und Detlef. K. wie ausgewechselt, so lieb. Ach ja. Wir werden eine 6 Mon. Studienunterbrechung beantragen, um in der Prod. zu arbeiten. Fürs Gesundheitswesen haben wir uns jetzt schon zur Aushilfe gemeldet. In KMST (=Karl Marx Stadt, heute Chemnitz) will man “versuchen”, die Dispensairebetreuung, die DMH (=Dringliche Medizinische Hilfe) und die Intensivtherapie aufrecht  zu erhalten… der Rest liegt brach, frei haben sie dort kaum. Wird das die allg. Lage der Ärzte verbessern helfen? Arbeit im Betrieb oder Altersheim – gut für den Menschen, wahr, nebenbei Geld für Reisen verdienen. Im Sommer nach Amerika? Kann ich die Überfahrt bezahlen? M. lädt mich ein, eine so liebe Seele. Frankreich besuchen? Mittelmeer, Holland, alle Leute, (7) Tunesien, Luanda, woher Urlaub, woher Geld?? Ich habe Sehnucht, überallhin, um wiederzukommen.
Anke.

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(1) Mein Bruder hatte die Ausreise beantragt und wie ich früher in mein Tagebuch schon schrieb, fürchtete ich bei einer Ausreise, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Bei den Nachrichten war mir also eine der wichtigsten Erkenntnisse: Mein Bruder ist nicht verloren, egal, ob er nun ausreist oder nicht, ich werde ihn wieder sehen können :-).

Selbstportrait, entstanden am 09.11.1989 unter dem Eindruck von Grenzöffnung und Massenflucht

Selbstportrait, entstanden am 09.11.1989 unter dem Eindruck von Grenzöffnung und Massenflucht

(2) Das mit der „großen Trauer“ versteht heute wohl kaum jemand mehr, aber so war es tatsächlich, ich hatte sehr ambivalente Gefühle. Die Alternative von der ich träumte, der Dritte Weg eines demokratischen Sozialismus, der mir und anderen Oppositionellen damals vorschwebte, war mit der Maueröffnung schlagartig obsolet geworden. Es war sonnenscheinklar, dass nun keine Massen mehr dafür auf die Straße gehen werden. Außerdem gab es gleichzeitig die Nachricht eines Ausreise-Tsunamis und die sofort einsetzende Massenflucht machte mir große Sorgen. Deshalb war ich eben nicht nur froh sondern auch traurig an jenem Abend. Wir hatten nicht nur für Reisefreiheit gekämpft sondern für ein großes Ganzes. Als ich die Nachrichten von der Grenzöffnung hörte, zeichnete ich gerade für das Fach Naturstudium Selbstportraits. Meine ambivalente Gefühlswelt ist in diesen grob mit Rohrfeder und Tusche gezeichneten Bildern gut erkennbar. Schön sind sie nicht geworden…aber eindringlich.

(3) Der Demokratische Aufbruch (DA) war eine der zahlreichen oppositionellen Gruppen der DDR. Sie existierte nur von Oktober 1989 bis August 1990 und ist vor allem durch Personalien bekannt. Innerhalb der DDR Opposition war der DA eine konservativere Strömung, seine Pressesprecherin war z.B. Angela Merkel, sein letzter Vorsitzender Rainer Eppelmann saß nicht nur am Runden Tisch in Berlin sondern wurde auch Minister in der ersten frei gewählten Regierung der DDR 1990. Eher berühmt berüchtigt war der zuerst als Vorsitzende amtierende Wolfgang Schnur, ein Rechtsanwalt, dessen Telefonnummer ich auch erhalten hatte, als ich Hilfe für meinen Freund Sebastian suchte. Ich habe diese Nummer vielfach angerufen aber zum Glück hob nie jemand ab. Es stellte sich nämlich heraus, dass Schnur langjähriger Stasispitzel war und insbesondere aus dem Inneren der Opposition fleißig berichtet hatte. Das kostete ihn dann auch den Job als Vorsitzender beim Demokratischen Aufbruch und machte damit den Posten frei für Rainer Eppelmann. Im August 1990 beendete der Demokratische Aufbruch seine Existenz als eigenständige Partei und schloss sich der DDR- CDU an, die wiederum im Oktober mit der West-CDU fusionierte. Und so kam Angela Merkel vom Demokratischen Aufbruch zur CDU, der erste Schritt in Richtung Kanzlerinnenamt.

So signierte ich die 6-7 Selbstportraits auf der Rückseite, die am 09. Nov. 1989 entstanden

So signierte ich die 6-7 Selbstportraits auf der Rückseite, die am 09. Nov. 1989 entstanden

(4) Der wichtigste Rücktritt war natürlich der von Erich Honecker, dem Staatsratsvorsitzenden, am 18.10.89, weitere Mitglieder des Politbüros folgten. Ein Kulminationspunkt in der Rücktrittsorgie war jedoch der Abgang von Erich Mielke, Chef der Staatssicherheit, am 7.11.89 – zusammen mit der Regierung Willi Stoph (Vorsitzender des Ministerrates). Am nächsten Tag, dem 8.11.89, trat das verbliebene Politbüro des ZK der SED zurück. Unvergessen sein (letzter?) Auftritt in der DDR Volkskammer, wo er den lachenden Abgeordneten und dem Rest der Welt erklärte, dass er sie doch alle liebe… „Ja, ich liebe, ich liebe doch alle… alle Menschen… ich liebe doch…“. Mir kommen die Tränen. (Video auf YouTube)

Screen Shot 2014-11-02 at 18.11.08

(5) Ich hatte einen Brieffreund in Italien, der mich schon oft eingeladen hatte zu sich nach Padua. Nun schien ein Besuch auf einmal möglich…

(6) Sebastian heißt eigentlich anders. Ein Freund aus Kindertagen, der in Halle im Gefängnis saß. Ich hatte mich als seine Verlobte ausgegeben, um Schreib- und Besuchsrechte zu erhalten. Es hatte Anfang Oktober auch in der Justizvollzugsanstalt Proteste gegeben, von denen er mir in einem Schmuggelbrief berichten wollte. Er war erwischt worden (siehe dazu auch Teil 4 und 5 der Tagebücherserie) und litt unter verschärften Haftbedingungen.

Ausschnitt aus einem der 6-7 Selbstportraits, die am 9.11.89 entstanden

(7) In all diesen Ländern hatte ich Brieffreundschaften. Ich pflegte viele solche Briefkontakte, da es auch eine Art des Reisens war und  ein sprachlich-kultureller Austausch. Als auf einmal Reisefreiheit herrschte, schwirrte mir der Kopf voller Möglichkeiten. Ich hatte so viele potenzielle Einladungen, so viele Anlaufpunkte, so viele mögliche Reiseziele, dass ich ganz pragmatisch anfing zu überlegen, wo ich denn nun hinfahre, und wo ich die Zeit und das Geld dafür bekomme. Ich begriff erst dadurch, dass Reisefreiheit erst einmal nur eine theoretische Möglichkeit ist. Mein folgender Sommerurlaub führte mich aber dann tatsächlich mit dem Trabbi nach Frankreich in die Normandie und mit PanAm (das war früher mal eine recht große Airline) in die USA zu meiner Freundin M. Mit ihr fuhr ich per Auto von Massachusetts durch 11 Bundesstaaten, bis nach Tennessee zu ihrem brotbackenden Onkel. Auf dem Rückweg bestaunten wir die Niagarafälle, ich besuchte Boston und New York City. Dort sah ich die ersten Obdachlosen gleich am Busbahnhof, darunter jüngere Frauen, die auf Pappen schliefen. Ich wurde diesen Anblick sehr lange nicht mehr los…

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Dies war der 6. Teil einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989. Weitere folgen in den nächsten Tagen. Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch ans Herz gelegt.
For english versions, see HERE.
Weitere Informationen rund um die Wende ’89:

 

Teil 5 – Aus meinem Tagebuch vor 25 Jahren – Herbst 1989 DDR (05.11.1989)

„Welch ein Wochenende! In Berlin die größte Demo die es je in dieser Stadt gab, freiwillig 1 Mill auf der Strasse! Direktübertragen auf DDR1, alle Redner ungekürzt, die Aufrufe zum Rücktritt der Regierung, Schmähreden über Krenz und Anhang, Neuwahlen, NF-Zulassung etc. So schöne Transparente, sie sollten für eine Sonderausstellung gesammelt werden. Ein Geschichtsbeleg. Ich wäre gern dort gewesen.“

Meine Tagebuchnotizen vom 05. November 1989. (English Version HERE)
Dies ist Teil 5 aus der Reihe “Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989″, frühere Teile sind am Ende dieses Posts verlinkt, ebenso wie Dokumente, Fotos aus der Zeit und mein Buch „Mauern einreißen“. Es gibt alle Teile auch in englischen Übersetzungen auf meinem Blog. Kürzungen (private Inhalte) sind erkennbar an “(…)”, Erklärungen gibt es in Klammern: (ADB: Erklärung) oder so: (=blabla). Ausführlichere Erklärungen gibt es in Fußnoten.

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den 05.11.89, 10:15, P-Zug Halle-Leipzig, Sonntag
Welch ein Wochenende! In Berlin die größte Demo die es je in dieser Stadt gab, freiwillig 1 Mill auf der Strasse! Direktübertragen auf DDR1 (=DDR Fernsehen) alle Redner ungekürzt, die Aufrufe zum Rücktritt der Regierung, Schmähreden über Krenz und Anhang, Neuwahlen, NF-Zulassung (=Neues Forum) etc. So schöne Transparente, sie sollten für eine Sonderausstellung gesammelt werden. Ein Geschichtsbeleg. Ich wäre gern dort gewesen.
Am Freitag bin ich zuerst nach Ha-Neu, (=Halle Neustadt) von dort zum Superintendenten nach Halle, in der Marktkirche war er nicht, (er war) zu Hause (…). Ein hagerer Mann, kurzfassend und konzentriert. Er hörte zu, ich kämpfte mit den Tränen. Er fragte auch nebensächlich, das beruhigte mich, wie ich zur Kirche stünde, wie wir uns kennengelernt hatten etc., zum Studium. Er rief bei der Mahnwache an und fuhr mit mir im Auto hin, zu Pfarrer Hanewinckel.(1) Das ist die Seele der Georgenkirche, der Mahnwache, ein Mann mit goldener Nickelbrille und wallendem grauen Bart, viel rauchend, wie fast alle dort. Bis in die Nacht ist er dort und hilft jedem. Er ging mit uns in einen Raum, wo wir allein waren, hörte sich alles an und beschloß, zu helfen.

Mahnwache Nov. 1989, Bild: Hans-Joachim Hanewinckel, aus Udo Grashoff "Keine Gewalt! Dokumente und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale"

Mahnwache an der Georgenkirche in Halle/Saale, Nov. 1989, Bild: Hans-Joachim Hanewinckel, aus Udo Grashoff „Keine Gewalt! Dokumente und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale“

Er holte einen jungen Mann herein “Mike”, entlassen nach 14 Monaten aus dem Jugendhaus Halle (=Gefängnis) am 10.10.89. Der ist jetzt ein Fall für Amnesty International. Er hörte mir zu und ließ sein Rendezvous platzen, um sich mit mir zu unterhalten. Er hat noch verschiedene Beziehungen zum Jugendhaus und versprach, Montag etwas in Erfahrung zu bringen und mir zu schreiben. Wir wanderten gg. 23:00 nach Ha-Neu, er erzählte seine Geschichte, haarsträubend. Er hatte 1987 einen Ausreiseantrag gestellt, die Stasi mehrfach provoziert (2 Std. sitzen vor dem Brandenburger Tor, langsames Auf- und abfahren davor etc.) Er wurde mehrmals verhört und einmal auf der Fahrt nach Eisenach wegen Verdacht der Republiksflucht im Zug festgenommen. Er wanderte ab für 14 Monate.
Seine Eltern sagten sich los von ihm. Die Bedingungen waren denkbar miserabel, immer eingesperrt, auch bei der Arbeit, er streikte mehrmals, um die Bedingungen zu verbessern. Einmal wurden die vor Dreck stehenden Arbeitssachen 60 Tage nicht gewechselt, es gab Suppe von 1969 und beim Auswickeln des Camembert krochen Würmer heraus… Einmal ging er in Hungerstreik, saß im Arrest. Das Bett wurde nur nachts aufgeschlossen, das Klo war nachts zu. Nach 3 Tagen ohne Essen und Trinken öffnete man ihm das Klo nicht mehr, “wer nicht ißt, braucht sich nicht waschen und braucht auch nicht Zähne putzen”, nach 5 Tagen, als es ihm schon ständig schwarz wurde, kamen sie, legten ihm Schellen mit Ketten an Händen und Füßen, legten ihn auf ein Stahlbett und ernährten ihn per Zwang mit einem Trichter – da gab er auf.

Mahnwache Nov. 1989, Bild: Hans-Joachim Hanewinckel, aus Udo Grashoff "Keine Gewalt! Dokumente und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale" (S.20)

Mahnwache an der Georgenkirche in Halle/Saale, Nov. 1989, Bild: Hans-Joachim Hanewinckel, aus Udo Grashoff „Keine Gewalt! Dokumente und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale“ (S.20)

Dass es sowas bei uns gibt! Sebastians (2) Name kam ihm bekannt vor, aber sein Gesicht kannte er nicht. Er wird sich kümmern. Am nächsten Morgen rief ich den Rechtsanwalt Frenzel an, der aber würde sich frühestens am 16.11. des Falles annehmen. Ich rief Hanewinckel an, wir versuchten noch 2 andere RA’s zu erreichen. Es wurde Mittag. Ich rief Sebastians Mutter an, wegen neuer Info. Am Vortag waren vom Strafvollzug und von Sebastian je 1 Brief gekommen. Sebastian schreibt, es ginge ihm gut… er hätte einen Brief schmuggeln wollen und wäre dafür disziplinarisch belangt worden. Auf dem Kopf hätte er eine Entzündung, wegen der seine Haare ab mußten. Sebastian als Skinhead… Ein neuer Besuch stand nicht drin.

Auszug aus den Gründungsstatuten der Sozialdemokratischen Partei der DDR - ich habe die Papiere von der Hallenser Veranstaltung mitgenommen

Auszug aus den Gründungsstatuten der Sozialdemokratischen Partei der DDR – ich habe die Papiere von der Hallenser Veranstaltung mitgenommen

Von Hanewinckel gegen 16:00 neue Nachricht. In der Puschkinstrasse, im Haus der jg. Gemeinde wäre gerade SDP-Tagung, hinten säße Dr. Willms mit schwarzem Hemd und beigem Pullover drüber… der wüßte Bescheid und würde mich einem Rechtsanwalt vermitteln. Als ich endlich hinfand, war die Tagung eben zu Ende und Dr. Willms über alle Berge. Bei Pfarrer Körner im Haus rief ich Hanewinckel an. Der gab mir dann die Adresse des RA Schwahn im (…)weg (…), Halle-Döhlau. Es war inzwischen dunkel geworden. Mit der Str(aßen)bahn fuhr ich raus, fand die Bushaltestelle, wartete 1/2 Stunde  und fuhr mit der A bis Döhlau-Post, ödeste Wildnis, die nächsten 3 Leute kannten den Weg nicht. Ich irrte durch das öde menschenleere Nest, kreuz und quer, entdeckte einen Mann in einer Einfahrt, der mir den Weg erklärte. Ich fand den Weg – der verlassenste in ganz Döhlau. Nebel, kaum ein Licht, die Häuser weit auseinander, kein Laut, Pfützen, Wald herum. Oh Grusel, ich mittendrin. Ich irrte bis zur 1B, dann war die Welt schwarz und zu Ende.

Beim letzten Licht bimmelte ich einen Mann heraus. Der Weg würde rechts abbiegen und dann wieder links und dann käme schon die Einfahrt des RA. Also wieder in die Nacht, Riesenpfützen, Schwärze, blindes Gehen, Knistern. Eine Andeutung von Weg linker Hand. Ich riß die Augen auf und kämpfte gegen Verzweiflungstränen, lief auf ein Licht zu. Kurz vor dem Haus ein wütendes Bellen. Herrgott. Ich hob die Hände und rührte mich gar nicht. Der Hund schwieg, ich ahnte, dass er fest lag, weil er nicht kam. Ich scharrte mit dem Fuß, dass er wieder bellte und jemanden zum Nachschauen zwang. Es funktionierte. Der da kam war RA Schwahn selbst.

Er hörte mich an und versprach zu helfen. Nur die Vollmacht müßte Frau (… =Sebastians Mutter) unterschreiben. Ich irrte durchs Dunkel zurück, rannte viel, fuhr ins Zentrum, zur Mahnwache, suchte den Pfarrer vergeblich und fuhr nach Haneu. Die Kleine Kathrin (3) war inzwischen da. Ich sah sie zum letzten Mal. Ich kanns noch nicht fassen. Wenn ich rüber komme, dann muss ich sie in Kassel besuchen, das ist nicht so sehr weit von Frankfurt am Main. Wir haben noch einen Abschiedswermut getrunken. Die Mutter (von Sebastian) rief ich wieder an, über G., C. holte sie (ADB: sie hatte kein eigenes Telefon). Inzwischen war ein 2. Brief eingetroffen, mit Sprecherkarte (=Besuchserlaubnis im Gefängnis) für den 19.11.89 – für G. Später weiter, Leipzig naht.

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(1) Pfarrer Hans-Joachim Hanewinckel wird mir als eine der eindrucksvollsten Personen der Wendezeit für immer im Gedächtnis bleiben (wer ihn kennt, bitte richtet ihm das aus, sowie meinen Respekt, meine Hochachtung und meine Dankbarkeit – ich hoffe, ich schaffe das auch mal persönlich!). Er war das Herz der Mahnwache, die am 10.10.1989 an der Georgenkirche eingerichtet wurde, nachdem es rund um den 40. DDR Geburtstag (7.10.89) gewalttätige Übergriffe der Polizei und Verhaftungen in Halle gegeben hatte. Leipzig mag als Stadt der DDR Opposition bekannter sein, aber auch in der Nachbarstadt Halle ist damals sehr viel passiert. Ich empfehle das Dokument „Keine Gewalt! Dokument und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale“ von Udo Grashoff. Es ist chronologisch gegliedert, unterscheidet zwischen nationalen und lokalen Ereignissen, und enthält in den über 100 Seiten auch Stasidokumente und Fotos aus der Zeit. Es ist ein wunderbares zeitgeschichtliches Dokument. Ein Interview mit Hans-Joachim Hanewinckel zu Wende und Mauerfall kann man HIER nachlesen (dort gibt es auch eine schöne Fotostrecke von der Mahnwache).
(2) Sebastian heißt eigentlich anders. Ein Freund aus Kindertagen, der in Halle im Gefängnis saß. Ich hatte mich als seine Verlobte ausgegeben, um Schreib- und Besuchsrechte zu erhalten. Es hatte Anfang Oktober auch in der Justizvollzugsanstalt Proteste gegeben, von denen er mir in einem Schmuggelbrief berichten wollte. Er war erwischt worden (siehe dazu auch Teil 4 der Tagebücherserie) und litt unter verschärften Haftbedingungen. Ich wollte mit der Hilfe von Pfarrer Hanewinckel Rechtsbeistand organisieren.
(3) Die Kleine Kathrin war eine Kommilitonin von mir. Ihr Ehemann war in die westdeutsche Botschaft in Ost-Berlin geflohen und verließ sie erst nach dem Versprechen, in absehbarer Zukunft ausreisen zu dürfen. Einige Monate später bekam er die Erlaubnis und mußte seine Frau zurück lassen. Sie hatte ebenfalls einen Ausreiseantrag gestellt und bekam endlich die Bewilligung. Deshalb dachte ich, ich würde sie nie wieder sehen… Mehr über die Kleine Kathrin gibts in Teil 4 dieser Tagebuchserie. Ihr Spitzname „Kleine Kathrin“ ist dem Umstand zu verdanken, dass wir 4 Kathrins in unserer Studiengruppe hatten, das waren die „Kleine Kathrin“, die „Blonde Kathrin“, die „Große Kathrin“ und die „Holz-Kathrin“ (die Holzgestaltung studierte). (Fußnote 3 ergänzt am 30.10.2014)
Dies war der 5. Teil einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989. Weitere folgen in den nächsten Tagen. Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch ans Herz gelegt.
For english versions, see HERE.
Weitere Informationen rund um die Wende ’89:

English Version Part 4: My Diary from Autumn 1989 – around the Fall of the Berlin Wall – 2nd Nov.1989

„He had written a letter to me, with detailed information about what happened at 5th and 7th Oct. (strikes, hungerstrikes) and in which he had asked me to make it all public. Somebody denunciated him and the letter was found. Now he is in solitary confinement, might face a trial on ‚illegal transmission of messages with subversive/anti-government content'“

This is the English Version, the German version is HERE.
Preface:
This is part 4 of my series „My diary – 25 years ago – Autumn 1989“. Part 1 is a diary entry of 4th October 1989, (English: HERE, German: HERE. There, you will find also a little introduction to this series. Part 2 are diary entries of 6th and 9th Oct. 2014 covering the upheavals around the 40th anniversary of the GDR (English: HERE, German: HERE). Part 3 is the diary entry of 15th Oct. 2014 (English: HERE, German HERE). On my homepage there are many more documents from the time when the Wall fell (LINK) and some pictures of 1989 (LINK) as well as information about my book „Mauern einreißen!“ („Tearing down walls“ LINK). However, all these pages are in German…
I took out some parts which are private, you will recognise this at „(…)“, explanations come in brackets with my initials: „(ADB: explanation)“ or (= explanation). More detailed explanations will be found in footnotes.

Selbstportrait als Studentin an der Fachschule für Angewandte Kunst Schneeberg, ca. 1989
Selfportrait as a student at the Art School in Schneeberg, app. 1989

Diary 2nd Nov. 89 – 10pm, Thursday, Student Dormitory

I just came back from the citiziens forum Schlema (= small municipality where I lived), after 3.5 hours discussion. It was not overly exciting. In the chairing body only one woman – she wrote the minutes. Young only the representative of the Environment (CDU = Christdemocrates) and the pastor, who spoke most intelligent, with fine irony and accomplished polemics. One of the few, who put the „bananaproblem“ into perspective and pointed to more fundamental things. He was applauded. But also the mayor himself spoke good, he could win my vote at the next elections. Sometimes it became apparent that the people are not used to free dispute. Some became abusive and there had been ad hominem, unqualified attacks. Its a shame how shortsighted many people still are. But great how many there have been and how much they engaged.

Everywhere debates take place. Yesterday was the Schneeberg-Forum.

The guy from Radiation Protection was rather embarassing. Everything here to be totally non-dangerous. (1) Some citizens became slightly racist. About the DSF Street (= street where our student homes were) one complained that there was a rehabilitation workshop, a home for foreigners and a workers home for soldiers…instead of appartments for citizens. The FAK (=my Art School) was not mentioned by the lady when listing all evils, most likely only because she sat right behind us. It was a shame. The med doctor replied accordingly. Everywhere debates take place, yesterday there was the Schneeberg-Forum. On Monday, we had decided on the foundation of our student council, 2 representatives for each study year and 1 for Markneukirchen (=offsite campus for artistic music instruments construction), which is T., a guitar maker from the 1st (=study year), good guy and committed. He would rather debate with us instead of with those deadheads. His first deed: Request a foreign language selection by majority vote, or in clear text: English instead of Russian.

Somebody denunciated him and they found the letter. Now he is in solitary confinement. 

Yesterday, I got a letter from Halle, written 2 weeks ago by Sebastian (2) and smuggled outside (=the prison). A week ago, a letter from an unknown woman from Karl-Marx-Stadt, with the advise to use another return address and to write harmless content. Oh my, Sebastian, the letter killed me. He had written a letter to me, with detailed information on what happened (= in the prison) the 5th and 7th Oct. (strikes, hungerstrikes), and in which he had asked me to make it all public. Somebody had denunciated him and they found the letter. Now he is in solitary confinement, might face a trial on ‚illegal transmission of messages with „subversive/anti-government content“, 3 times daily he gets food through a hole in the door, a glimpse of the street through the small window, thats all. He receives nearly no more mail from me. He saw them in their files, my letters. I am writing now very frequently, using various sender addresses, Bertram wants to write him too, I try to express myself harmlessly. Poor Sebastian!

I have asked everybody here whether they know a legal consultant who is trustworthy 

I am now busy trying everything possible to get him out of there. Still yesterday, I wrote a letter to the prison director (3), with the explicit request, to give me as the fiancée information about the reasons of his tightened arrest conditions since I had not received any news for over 8 weeks, or to at least allow for a consultation. They will not be able to get rid of me just like that. They want to take away his allowance to write to my address, prohibit my visits! I have asked everybody here, whether they know a legal consultant who is trustworthy. Eva provided the address of the Superintendent (= of the protestant church) and of a lawyer in Halle, both via her uncle, and he via his ev.-meth. pastor. After a long struggle with telephone technology and the secretary of the lawyer, I have achieved a lot. Tomorrow, I will drive to Halle, outside to Neustadt, to Little Kathrin, who will give me keys (=for her appartment), then drive to Halle center, past 9pm I can talk with the Superintendent.
Brief an den Leiter der Justizvollzugsanstalt Halle, vom 1. Nov. 1989 (handschriftliche Vorlage, abgeschickt wurde eine Schreibmaschinenabschrift)

Everybody is happy about the illusion of success, the „Wende“ and the „Progresses“ but at the core, nothing has changed. 

At Saturday, I can call the lawyer to make an appointment for that same day. He was most friendly and promised to help, should it be possible. There is solidarity after all, I am so happy! If only Sebastian knew about it! I also have some connections to Berlin, to lawyer Giesinger, he deals with cases of the 7th of October, amongst them Maria. I also asked B. for help, his Bishop-father surely knows somebody. Via Petra I contacted the New Forum, they too may know somebody who can help. I am so excited! Something eventually has to change! Everybody is happy about the illusion of successes, the „Wende“ and the „progresses“ but at the core absolutely nothing has changed. As if there was excemption from punishment for convictions and political opinions… ha, ha. Solitary confinement, poor Sebastian. I would so much like to help you. (…)

We will see our Little Kathrin the last time tomorrow. She already received her circulation slip and will soon be in Kassel. 

I already received 5 post cards from Padova from Gabriele (=ital. pen friend). (…) We will see our Little Kathrin the last time tomorrow. She already received her circulation slip (4) and will soon be in Kassel (= West Germany). Our third Kathrin will only finish her studies first. Her boyfriend received his slip too. Now its already 3 out of 20 designers. Can we afford this?! In this year, instead of over 100 we only have 40 applicants, a catastrophe. FAK (= Art School) anounced open study places… unthinkable before.
***

beim Naturstudium an der Fachschule für Angewandte Kunst Schneeberg, 1988/1989(1) Our dormitories had been in Schlema, Erzgebirge, an uranium mining area of the Wismut. We were surrounded by radiating mining dumps. They built fundaments out of burden material, the soil was perforated by old cores, out of some of them, radon gas was discharging and irradiating the environment. When I told my father, a medical doctor, that I wanted to study at an Art School in Schneeberg, he told me of the diagnosis „Schneeberg-Lung-Cancer“… a frequent disease of miners in that region. During the political Turnaround in East Germany (=Die Wende), that issue had been often debated. Lateron, radiation had also been measured. In our student homes they measured 2.000 Becquerel. The legal limit in West Germany was 60 Becquerel… Somewhen after the Iron Curtain fell, the Federal Minister for Environment and Nuclear Energy, Klaus Töpfer, came to Schneeberg. That was not much better. He recommended a woman who had 30.000 Becquerel in her home to open her windows more often, to make the Radon gas go away. It was in the middle of a freezing cold winter.

(2) Sebastian has another name in real life. A friend of childhood days who was imprisoned in Halle. I had pretended to be his fiancée in order to get writing and visiting rights. There had been protests in early October in that prison too, of which he wanted to inform me in his smuggeled letter. At that time, I wrote him colourful letters nearly daily and I nummerated them so he could see, how many letters had been censored.

(3) I never received any answer to this letter from the Halle prison. At 22nd Nov. 1989 – in between the Berlin Wall had fallen – I wrote another letter to the prison director. But I did not get any answer on that one neither. The second letter is linked HERE. With the progress of the East German revolution, a few months later, an amnesty had been passed and my friend got free again.

(4) A so called circulation slip („Laufzettel) was given to those who had requested their official emigration once their request got approved.  With this slip they had to run from authority to authority to get all sorts of confirmations, and eventually, handover their papers, in order to receive the emigration document. 
***

This was the 4th part of a small series of diary entries from autumn 1989 in East Germany. Further posts will follow in the next days. Should you want to read more from me about my time in East Germany, you can read my book „Tearing down Walls“ (original title „Mauern einreißen!“ which only exists in German so far :-().
Further Information around the Fall of the Berlin Wall ’89:

Teil 3: Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989 DDR (15.10.1989)

„Von Leuten, die stundenlang nackt an eine Wand gestellt verhört wurden, von Frauen, die man auf LKW lud und raus fuhr, nachts auf einem Acker aussetzte“

Meine Tagebuchnotizen vom 15. Oktober 1989.
Dies ist Teil 3 aus der Reihe „Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989“, Teil 1 ist ein Tagebucheintrag vom 04.Oktober 1989, er findet sich HIER. Dort gibt es auch eine kleine Einleitung zu dieser Reihe. Teil 2 sind Tagebucheinträge vom 6. und 9.10.1989 (LINK). Auf meiner Homepage gibt es auch noch mehr Dokumente aus der Wendezeit (LINK) und persönliche Bilder von 1989 (LINK) sowie Informationen zu meinem Buch „Mauern einreißen!“ (LINK).
Kürzungen (private Inhalte) sind erkennbar an „(…)“, Erklärungen gibt es in Klammern: (ADB: Erklärung) oder so: (=blabla)

Montag, 15.10.1989
Heute ist Dietel (=Schulrektor) wieder da, ich bin hier – Mbg. (=Müncheberg), Eli auch, Anka Goll ist schon weg. Müde, 22:00, geschafft, Politik nervt und reibt auf, aber positiv! Wir sind so viele! VBK Frankfurt (=Verband Bildender Künstler) -> Resolution. Vom VBK Berlin schon 3 neue, alle. Unsere (ADB: gemeint ist die Resolution vom 9.10.1989) ist wohl über D. schon in Berlin angekommen, hörte heute in Tagesschau über Stud., die unabhängige Studentenvertretungen vorschlugen – kann sich nur auf unseren gleichlautenden Satz in der Resolution handeln. Hatte sie oft abgetippt. Habe von Golls neuen, konkreten Forum-Text bekommen. Bin noch beim tippen. Zu müde für heute. Morgen vielleicht? (…)

Ausschnitt-15-10-1989-HoneckerIn Berlin gestern Rockkonzert für Demokratie, Karat, Pudys, Pankow, Silly – alle dabei. Hurra! In Leipzig 10.000 draußen heute, gestern 15.000 friedliche Demonstranten in Plauen. Hurra. Prozess nicht aufzuhalten. Volkswitz: Honecker wurde doch an der Galle operiert. Entließ dann den Chirurgen, da dieser sich in seine inneren Angelegenheiten (ein)gemischt hätte. Entließ dann auch den Internisten, dieser hatte eine Reformdiät verschrieben. “Früher hieß es Volk ohne Raum, heute Raum ohne Volk”. Ungarn ist jetzt ganz zu, wegen Ferienverkehr sind am Wochenende 4.000 (!) rüber. In Warschau schon wieder 1.400, man rechnet mit 150.000 Ausgereisten bis Jahresende. Schlimm. ZK (=Zentralkommittee der SED): “Denen weinen wir keine Träne nach, auf Verräter können wir verzichten” – schlimm.

Ausschnitt-Kuno-15101989

Kuno hat man gesagt, sein Problem würde noch dieses Jahr gelöst werden… Sehe ich ihn noch mal wieder? (ADB: Mein Bruder hatte einen Ausreiseantrag gestellt) Er glaubt nicht an eine Änderung. Anka G. hat viel Gutes erzählt, das Forum hat ganze Belegschaften, Betriebe einschließlich Leiter gewonnen, Massen. So viele, Idee, die die Massen ergreift! Da ist die Wahrheit, und dann  kommt Hager (=Kurt Hager, Mitglied des ZK der SED und des Politbüros) und sagt, wir haben soviele Plattformen und Foren, da haben wir sozialismusfeindliche neue gar nicht nötig, Geschichte des Soz(ialismus) sei doch Geschichte von Reformen schon immer gewesen… Ironisch, lenkt ein, um von den Machtpositionen nicht gehen zu müssen. Nichts da, ihr habt Eure Unfähigkeit lange genug bewiesen!
Von den Behandlungen der Gefangenen am 7.10. gibt es schreckliche Berichte. (ADB: siehe dazu mein Tagebucheintrag vom 09.10.1989 – LINK) Von Leuten, die stundenlang nackt an eine Wand gestellt verhört wurden, von Frauen, die man auf LKW lud und raus fuhr, nachts auf einem Acker aussetzte, sie trampten (die ersten) und ein informierter Kommissar hat wütend alle anderen per Taxi holen lassen. Rest-mensch gibt es also auch noch. Jedenfalls hat die Schule das Argument mit dem Antisozialismus für das Forum nicht mehr. In der neuen Erklärung ist es genau fixiert, im Sozialismus, und für Sozialismus und ohne Wiedervereinigung die DDR bessern und reformieren.

Auszug-Stasiakte-Sputnik

Ausschnitt aus meiner Stasi-Akte mit Bezug auf eine Eingabe gegen das Verbot der russ. Monatszeitung „Der Sputnik“ vom November 1988

Müde. Von Eli (=Studienfreundin meiner Mutter aus der BRD) der Super – Phillips – Doppeldeckerrecorder, sicher sehr teuer. Mein Geld hat sie nicht genommen. (…) Er ist supergestylt, abgerundet überall, schwarz, leicht, schön, superklang. Karsten wird staunen. Freue mich, Ananas und Nutella mit ihm zu verzehren. Auch feine Kassetten habe ich jetzt 5 Stück. Alexej (=russischer Brieffreund) hat zwei Sputniks losgeschickt, hoffentlich kommen sie an, hoffentlich sind es deutsche! Müßte ja bald sein. (1)
Die Stasi läßt mich sicher bald in Ruhe, wo die doch merken, dass ich Schädling geworden bin.(2) (…) Sebastians (=Name geändert) Besuch am Sonntag fiel aus, seine Mutter bekam am Vorabend ein Telegramm – “aus strafvollzugstechnischen Gründen kein Besuch möglich”, voll, was? (3)

Erläuterungen der Fußnoten:
(1) Der Sputnik war ein russisches Monatsjournal, im dem sich früh der Geist von Glasnost abzeichnete. So kritisch und offen, wie im Sputnik geschrieben wurde, kannten wir das noch gar nicht in der DDR. Daher war der Sputnik ein begehrtes Heft geworden. Aber im Herbst 1988 (also ein Jahr vor dem Mauerfall) wurde der Sputnik verboten. Ich schrieb damals eine Eingabe an das Postministerium, die knapp 2 Monate später vom Ministerium belanglos beantwortet wurde. Schneller ging der Eintrag in meine Stasiakte, die aus diesem Anlass angelegt worden war.

(2) Die Stasi lockte mich im September 1989 mit einem fingierten Brief in ein Jugendreisebüro, wo man versuchte mich zur Mitarbeit als IM zu erpressen. Ich sollte über die Aktivitäten an der Kunstschule berichten und dafür eine Genehmigung bekommen, ein Stipendium einer französischen Kunstschule annehmen zu dürfen, das ich gewonnen hatte. Zusätzlich wurde mir angedroht, dass mein Vater seine Arbeit als städtischer Arzt verlieren würde, wenn ich die Kooperation verweigerte. Meine Parisreise fiel aufgrund meiner Verweigerung ins Wasser, aber wenigstens behielt mein Vater seinen Job.
(3) Sebastian heißt eigentlich anders, er ist ein Freund aus Kindertagen, der in Halle im Gefängnis saß. Ich hatte mich als seine Verlobte ausgegeben, um Besuchsrecht zu haben und damit er mir schreiben darf. Von ihm wird später noch mehr die Rede sein.

***

Dies war der 3. Teil einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989. Weitere folgen in den nächsten Tagen.
Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch ans Herz gelegt 🙂
Weitere Informationen rund um die Wende ’89:

Vor 25 Jahren – Spiegelschrift-Brief zu den Geschehnissen in der Wende vom 9.10.1989

Manchmal waren Vorlesungen auch in der DDR langweilig und dann schrieb ich Briefe. Wenn es dabei in der Wendezeit um brisante Inhalte ging und ich nicht riskieren wollte, dass jemand Falsches beim Über-die-Schulter-Schauen mitliest, schrieb ich in Spiegelschrift – eine Art minimaler Selbstschutz. Einen solchen Brief hatte ich nicht fertiggeschrieben, deshalb überlebte er in meinen Unterlagen. Er entstand am 9.10.1989 und richtete sich an eine Freundin.

Ausschnitt Spiegelschrift-Brief

Ausschnitt Spiegelschrift-Brief vom 09.10.1989

Hier der Brief im Wortlaut:

Liebe XXXX,                                                                                                      09.10.89
Ich habe wieder mal WS (=Wissenschaftlicher Sozialismus), da bleibt mir nichts Anderes übrig, als so rum zu schreiben. Da wirst Du Dich wieder ärgern. Ach C., sag nicht, Du hättest noch den geringsten Durchblick…Ich habe keinen mehr. unsere Studenten erzählen alle von den Ereignissen in ihren Heimatkreisen. In Dresden war es besonders schlimm. Ich vertrag es nicht, DDR und Schlagstöcke, Schilder, Hunde, etc. … paßt denn das zusammen? In Halle soll ja heute was passieren. Bist Du dabei? Bist Du noch Genosse? Ich wüßte nicht, was ich als Genosse tun würde. Ich habe am Wochenende getippt. Ich schicke Dir doch ein Forumexemplar, wer weiß, wann wir uns wiedersehen und Information war nie notwendiger als heute. Vielleicht habe ich Glück und es kommt glücklich in Deine Hände. Schreib bitte sofort, wenn Du es erhalten hast. Ich muss das wissen, weil ich doch schon überwacht werde. Ein komisches Gefühl. In WS höre ich gerade, Schuld an den blutigen Zwischenfällen wäre das Neue Forum. Makaber…

An dieser Stelle brach der Brief ab.
Weitere Informationen rund um die Wende ’89:
umfangreiche Sammlung von Originaldokumenten aus der Wendezeit
Tagebucheintrag 4.10.1989
Tagebucheinträge 6. und 9.10.1989
Resolutionen der Fachschule für Angewandte Kunst vom 9. und 10.Oktober 1989
mein Buch – Mauern einreißen
Fotos aus der Wendezeit

Vor 25 Jahren – Resolutionen der FS für Angewandte Kunst Schneeberg vom 9. u. 10.10.1989

Ausschnitt aus der Resolution der Student*innen der FAK Schneeberg vom 09.10.1989

Vor 25 Jahren war ich FDJ-Sekretärin an der Fachschule für Angewandte Kunst, Schneeberg (Erzgebirge), wo ich Textilkunst studierte. Wir Student*innen haben diesen heißen Herbst 1989 mit vielen Debatten verbracht, viele von uns haben sich am Widerstand beteiligt, unter anderem haben wir Dokumente der Opposition weiterverbreitet. Nacht für Nacht saß ich selbst an der Schreibmaschine meines Großvaters und schrieb v.a. Dokumente des Neuen Forums ab, Aufrufe (z.B. „Aufbruch 1989“ vom 10.09.1989) und Mitgliederlisten ab, sowie Dokumente anderer oppositioneller Gruppen (siehe auf meiner Dokumentenseite für mehr). Aber ich schrieb auch für uns Student*innen Resolutionen, die wir nach Debatte als unsere Stellungnahme verteilten.

Die erste Resolution entstand am 09.10.1989, nachfolgend der Text im Wortlaut (Bildausschnitt siehe oben, Datei als pdf HIER):

Resolution der Studenten der FAK Schneeberg

Wir Studenten sind tief besorgt und beunruhigt über die gegenwärtige Krisensituation unserer Gesellschaft. Unser Land kann seine Jugend nicht halten, es gefährdet seine Zukunft. Wir können uns unsere Hoffnungen für unsere Zukunft nicht zerstören lassen. Die Verharmlosung und Leugnung der Ernsthaftigkeit der Sitaution, die Gewaltausübungen seitens der Staatsführung machen einen Dialog von vornherein unmöglich. Es muss eine Basis für ein Vertrauensverhältnis zwischen Staatsführung und Volk geschaffen werden.

Wir wollen nicht weiter passiv bleiben und damit mitschuldig an der Deformierung unserer sozialistischen Ideale sein.

Wir werden uns bei der Gestaltung unserer Zukunft mit all unseren Fähigkeiten einbringen. Mut macht uns die wachsende Bereitschaft breiter Bevölkerungskreise, sich an der Erneuerung der Gesellschaft zu beteiligen. Ein Zeichen dafür sind die vielfachen Resolutionen aus allen Teilen der DDR (VBK, Kulturbund Berlin, Komitee für Unterhaltungskunst, Schriftstellerverband, VEB Bergmann Borsig, Evangelische Kirche, Verband der Theaterschaffenden, Neues Forum, Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt, SDP).

Wir solidarisieren uns mit dem Aufruf der Schauspielstudenten Berlin.

Schneeberg, den 9.10.1989

Diese Resolution entstand unter dem Eindruck der neuesten Berichte zu Übergriffen und Aufständen insbesondere rund um den 40. Geburtstag der DDR. In meinem Tagebuch habe ich darüber geschrieben (meine alten Tagebuchnotizen dazu gibt es HIER – Tagebuch vom 4.10.89 –  und HIER – Tagebuch vom 6. und 9.10.1989). Innerhalb von 24 Stunden habe ich die Resolution noch einmal überarbeitet, am 10.10.1989 war das neue Exemplar fertig. Ich stellte ihr ein Zitat von meinem Lieblingsautor Tschingis Aitmatow voran.

Resolution der Student*innen der FAK Schneeberg vom 10.10.1989

Ausschnitt aus der Resolution der Student*innen der FAK Schneeberg vom 10.10.1989

Der vollständige Text dieser Resolution vom 10.10.1989 im Wortlaut:

Nicht mehr ganz fünftausend Tage trennen uns vom Jahrtausendende… Die Menschen sind von einem Gefühl der Verzweiflung erfüllt. Die traditionellen Institutionen haben sich überlebt. Wir alle müssen uns an der Suche nach neuen Lösungen beteiligen.
Tschingis Aitmatow
Resolution der Studenten der Fachschule für Angewandte Kunst Schneeberg vom 10.10.1989
Die dramatische Zuspitzung der Krisensituation in unserem Lande zwingt uns Studenten zur öffentlichen Äußerung.

  • Die Ignoranz der Partei- und Staatsführung gegenüber den bestehenden Widersprüchen,
  • Die Kriminalisierung der Reformbemühungen,
  • Das starre Festhalten am überholten Kurs,
  • Identitätskrise und Massenflucht,
  • sowie die wachsende Zerstörung der Umwelt bedrängen uns.

Wir Studenten können uns unsere Hoffnung auf unsere Zukunft nicht zerstören lassen. Wir wollen nicht weiter passiv bleiben und damit mitschuldig an der Deformierung unserer sozialistischen Ideale sein. Wir wollen eine Gesellschaft, die einen Sozialismus möglich macht und die die Hoffnung auf eine sinnvolle Zukunft, für die es sich lohnt zu studieren, zu arbeiten, zu leben und sich mit aller Kraft und Kreativität zu engagieren, zuläßt. Dazu brauchen wir in erster Linie das Vertrauen der Partei- und Staatsführung. Wir fordern den öffentlichen Dialog mit allen gesellschaftlichen Kräften, auch mit den neue entstandenen alternativen Gruppen. Die Vorstellungen der Initiativen entsprechen unseren Gefühlen, unserem Denken und müssen öffentlich zur Diskussion stehen. Wir stellen den absoluten Wahrheitsanspruch der Partei- und Staatsführung in Frage. Ebenso können wir uns nicht mit der alleinigen Vertretung unserer Interessen durch die staatliche Massenorganisation FDJ identifizieren. Wir schlagen die Bildung unabhängiger Studentenvertretungen vor. Wir werden uns den Widersprüchen stellen und fordern Gleiches von der Partei- und Staatsführung. Nur so ist eine Lösung, ein Ausweg aus dieser Krise und der Bestand der sozialistischen Gesellschaft möglich. Mut macht uns die wachsende Bereitschaft breiter Bevölkerungskreise, sich an der Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft zu beteiligen. Ein Zeichen dafür sind die vielfachen Resolutionen.
Wir haben erfahren, dass an der Fachschule für Angewandte Kunst Heiligendamm 14 Studenten die Exmatrikulation angedroht wurde aufgrund ihres politischen Engagements. Wir protestieren entschieden dagegen und solidarisieren uns hiermit mit den Studenten der FAK Heiligendamm.
Im Auftrag der gesamten Studentenschaft durch die FDJ-GO der FAK Schneeberg
FDJ-GO Sekretär
Anke Domscheit-Berg  (zu diesem Edit siehe Kommentar vom 16.8.2016 und meine Antwort darauf!)

Ich schickte diese, unsere wichtigste Resolution, vom 10.10.1989, an eine ganze Reihe Adressaten. Ich erinnere mich nicht mehr an wen genau, aber von einigen habe ich Antworten erhalten, die ich im Original aufbewahrt habe. Dies sind Antworten vom Staatsrat der DDR, vom Zentralrat der FDJ und von der nationalen Presseagentur der DDR, dem ADN. Interessant der Hinweis in der Antwort des Staatsrates, dass unsere Resolution an das Ministerium des Inneren weitergeleitet wurde. Dem MdI war die Staatssicherheit unterstellt… überrascht hat uns der offene Hinweis darauf,  nicht der Umstand der Weiterleitung.

Antwort des Staatsrates der DDR auf unsere Studentenresolution vom 10.10.1989

Antwort des Staatsrates der DDR auf unsere Studentenresolution vom 10.10.1989

Noch mehr Informationen:
Weitere Informationen rund um die Wende ’89:

 

Teil 2: Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989 DDR (6.+9.10.1989)

Meine Tagebuchnotizen vom 6. und vom 9. Oktober 1989.
Dies ist Teil 2 aus der Reihe „Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989“, Teil 1 ist ein Tagebucheintrag vom 04.Oktober 1989, er findet sich HIER. Dort gibt es auch eine kleine Einleitung zu dieser Reihe. Auf meiner Homepage gibt es auch noch mehr Dokumente aus der Wendezeit (LINK) und persönliche Bilder von 1989 (LINK) sowie Informationen zu meinem Buch „Mauern einreißen!“ (LINK).
Kürzungen (private Inhalte) sind erkennbar an „(…)“, Erklärungen gibt es in Klammern: (ADB: Erklärung)
Den 6.10. 89 – Schneeberg – Kunstgeschichte, Freitag

K. (ADB: Lehrer für Kunsterziehung) erzählt vom Futurismus. Freitag Nachmittag ist dafür denkbar ungeeignet. Bin müde, habe heute verschlafen. (…) Habe gestern zuhause angerufen. (…) Die Meuder (ADB: meine Mutter) hat erzählt, daß Kuno mit Kollegen eine Betriebsfahrt in die CSSR machen wollte, Visum abgelehnt. Hier bekommt man nicht mal mehr einen Antrag. Nur Reisebüro-reisende dürfen noch… Schweinerei. (…) Habe ein Buch über “Deutsch als Männersprache” gelesen (Pusch), sehr interessant. Ich beobachte meine Worte und die Anderer. (…). Warum sagt man in Sport zu einer Gruppe “8 Mann”, wo doch 7 Frauen dabei waren! Warum “jedermann” sagen, wenn nur weibliche Menschen gemeint sind? So viele sprachliche Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen. (…)

Ausschnitt-1989-10-06

Gundi war gestern in Plauen, dort war viel los, wegen der durchfahrenden Flüchtlingszüge aus Prag und Warschau. Man stand auf den Gleisen und die Gummiknüppel räumten die Bahnsteige. In der Markuskirche war eine (2) Großveranstaltung als Friedensgottesdienst getarnt. Da ging es auch friedlich aber sehr aktuell zu. Morgen ist Gorbi in Berlin…bin gespannt, ob ich doch mal reinfahre? Wer weiß, heißes Pflaster und die Fahnen und Stasimänner sind gewiß widerlich und unerträglich. Da werde ich wohl in Müncheberg bleiben und Teppich schrubben. Kunstgeschichte nimmt kein Ende. Diese geschraubten Sätze: “so Boccioni, der da sagte ‘…’” pfui, kein normales Deutsch kriegt der raus. Meuderchen sagt, alle sind so, die kunstgeschichteten Männer. (…)

09.10.1989 – Schlema, 19°°, WH d. FAK, Montag

Tagebuch 09.10.1989

Tagebuch 09.10.1989

Ist der Republikgeburtstag also vorbei. Erwartungen übererfüllt. Soviel passiert, heute wieder Versammlung der Studenten. Ziel= Erfahrungsaustausch. Jetzt kommt es. Überall Schlagstöcke, Hunde, Helme, Schilder, Wasserwerfer, Verletzte, allein in Berlin 700 Gefangene. U.’s Freund darunter. 24 Stunden gefangen, davon 2 Std. von Gefängnis zu Gefängnis gefahren – alle schon voll. 18 Stunden auf dem Stuhl sitzend, registriert wie Schwerverbrecher, kein Essen, Klo in 4-Mann-Begleitung. In Leipzig in einer Kirche = 150 Leute, Rufe “Wir bleiben hier” – einfach alle bis auf 12 in LKW geladen und rein in einen Westzug… U. war mit Freund nur vom Jugendclub gekommen. Straße mit Grünen abgeriegelt. Kampftruppen (gemeint waren die paramilitärischen Kampfgruppen) überall, jeden auf der Straße eingeladen, ohne Auskunft, jeden. Auf dem Alex einige Tausend mit Chören wie “Demokratie hier”, “Wir bleiben hier”, “Stasi raus” “Gorbi hilf uns”, “Keine Gewalt” etc.

Ausschnitt Freie Presse 9.10.1989, Berichterstattung zum 7.10.89 (40. Republikgeburtstag) in Berlin

Ausschnitt Freie Presse 9.10.1989, Berichterstattung zum 7.10.89 (40. Republikgeburtstag) in Berlin

Polizei holte wieder wahllos Leute. Im ND (ADB: Neues Deutschland) heute – eine dicke Zeitung voll Jubel, Hetze, über Vorgehen der Westbullen gegen Antifa-Demo, irgendwo eine 5 Zeilen Notiz über die vereitelte Provokation – Störung der der Feierlichkeiten auf dem Alex, Festnahme der Rädelsführer der Randalierer – alles, kein Leipzig, kein Potsdam – wo B. nur noch Bullen und Krankenwagen sah, in Leipzig eine Kanone mit Gummigeschossen, in Dresden etliche Tausende, auch mit Gewalt bekämpft. Öffentliche Bekanntmachung: Wer Ausreise will bei dem zuständigen Stadtbezirksvorstand melden – erledigt in 2 Tagen, gültig nur für Dresdner, in Plauen: 20.000 Demonstranten, eingeschlagene Scheiben, Ronny hat geknipst, beinahe den Apparat dafür lassen müssen, der Film mußte geopfert werden. Ein Freund hat heimlich mit kleiner Kamera geknipst. Mal sehen, ob das durchkommt. Gundi wollte auch hin, kommt sicher erst morgen. Es wird kriminell. D. schreibt, die Grenzen nach Polen und CSSR werden gesichert, weil noch so viele flüchten. Falk hat erzählt bei ihm in Grenznähe wimmele es nur so von “Grünen”. Wo die soviel Sicherheit aufeinmal herhaben! (…)

Freie Presse, 09.10.1989 zu Protestaktionen am Republiksgeburtstag

Freie Presse, 09.10.1989 zu Protestaktionen am Republiksgeburtstag

Die eingefügten Zeitungsartikel waren im hinteren Zeitungsteil zu finden. Wie die erste Seite der gleichen Zeitung aussah (ein Jubeln zum 40. Republiksgeburtstag) kann man sich HIER anschauen.
Dies war der 2. Teil einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989. Weitere folgen in den nächsten Tagen. Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch ans Herz gelegt 🙂
UPDATE 4.10.2014: Am 09. und am 10.10.1989 habe ich unter dem Eindruck der oben beschriebenen Erlebnisse gemeinsam mit Student*innen der Fachschule für Angewandte Kunst Schneeberg, an der ich seinerzeit studierte, zwei Resolutionen veröffentlicht. Dazu gibt es jetzt auch einen Blogpost (LINK).
UPDATE 21.10.2014: In den Tagen nach dem 7. Oktober 1989 haben wir Student*innen untereinander Berichte aus den Heimatregionen ausgetauscht, auf Zetteln habe ich die Fakten notiert. Ein solcher Zettel hat die Zeit überlebt, man kann ihn sich HIER ansehen.

Notiz-Zettel mit Informationen Dritter zu Vorfällen am 7.10.1989

Notiz-Zettel mit Informationen Dritter zu Vorfällen am 7.10.1989

UPDATE 7.10.2014:
Weitere Informationen rund um die Wende ’89 im Überblick:

Teil 1: Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989 DDR (4.10.1989)

Tagebuch Nr. 24, Oktober - November 1989

Tagebuch Nr. 24, Oktober – November 1989

English version HERE.
Auch im heißen Herbst 1989, während meines Studiums an der Fachschule für Angewandte Kunst, Schneeberg, als ich 21 Jahre alt und in der Opposition engagiert war, schrieb ich über das was mich bewegte, in mein Tagebuch, wie schon seit meinem 14. Lebensjahr. Ich bekomme noch heute Gänsehaut, wenn mir beim Lesen der alten Zeilen diese Wochen wieder lebendig werden. Nicht nur Erinnerungen werden dabei wieder wach sondern gerade auch Emotionen. Es war eine Phase intensivster Gefühle, von Angst und Panik, Euphorie und Hoffnung, von Verzweiflung bis zum Gefühl der eigenen Unbesiegbarkeit und dem Erleben von Mut, den man sich gar nicht zugetraut hatte.
Weil diese sehr persönlichen Notizen vielleicht auch für Andere einen Einblick geben können, in diese Zeit, möchte ich sie hier veröffentlichen. In meinem Buch „Mauern einreißen“ sind Ausschnitte dieser Texte gekürzt  veröffentlicht. In dem Buch erzähle ich auch, was diese Zeit insgesamt für mich bedeutete und warum sie mir ein Quell unbegrenzter Energie geworden ist. Warum ich wegen dieser Erfahrungen heute noch glaube, dass selbst unmögliche und große gesellschaftliche Veränderungen möglich sind. Mehr Dokumente – die im Tagebuch erwähnten Aufrufe und Listen des Neuen Forums – aber auch viele weitere Originaldokumente der Wendezeit habe ich auf dieser Website bereitgestellt (LINK).  Ein paar mehr Fotos von 1989 gibt es dort auch (LINK).
Nachfolgend ein Transkript aus meinem Tagebuch, ich habe nur private Inhalte gekürzt, erkennbar an „(…)“. Erklärungen von Abkürzungen o.ä. habe ich in Klammern kursiv gesetzt. Einige Namen habe ich nur als Initialen erwähnt. Dies ist mein erster Blogpost zu meinen Tagebuchnotizen vom Herbst 1989, es werden weitere folgen.
04.10.2014, 23:15 Uhr, Schlema, WH FAK DSF 3
(Wohnheim, Fachschule für Angewandte Kunst, Strasse der DSF 3)

„Unbegreiflich, warum ich so lange nicht geschrieben habe. Vielleicht konnte ich einfach nicht beginnen? Horror Vacui bei so viel zu Schreibendem? In Gedanken oft getan. Herrje, so viel Politik, Politik, Politik. Nie hat sie mich so beherrscht, so mein Leben ausgefüllt (und) angeleitet.

Tagebuch, 4.10.1989

Eine heiße Zeit, gefährlich, endlich aktiv und interessant. Niemand kommt ohne Standpunkt davon.

Eine heiße Zeit, gefährlich, endlich aktiv und interessant. Die Situation ist gekommen, wo Entscheidungen getroffen werden müssen, wo Bedeutendes geschieht. Historische Ereignisse und Möglichkeiten, die es vorher nicht gab. Es kann ausarten in jede Richtung, selbst Neo-Stalinismus, was die Praktiken angeht oder eine Militärdiktatur sind möglich. Eine Konterrevolution ist ahnbar. Es brodelt, es kocht, es brennt. Überall. Niemand kommt ohne Standpunkt davon. Man muss sich endlich bekennen. Sagen, was man denkt. Es ist höchste Zeit.

Selbstportrait, 1989, im Studentenwohnheim

Was ist passiert? Den ganzen Sommer schon sind Tausende über Ungarn ausgewandert. Jetzt im September haben sich letztes Wochenende insgesamt 6.800 Bürger (mit kleinen Kindern!) in und um die BRD-Botschaft in Prag und einige 100 in Warschau festgesetzt. Auf Planen und in Zelten unter unwürdigen Bedingungen haben einige davon Wochen so zugebracht. 1 Arzt für alle, der schon längst jede Verantwortung abgelehnt hat. Von 50 Kindern hatten 40 Durchfall. Genscher selbst hat am Samstag die Lösung – Ausreise – durch die DDR mit Reichsbahn verkündet. Ein unvorstellbarer Jubel. Komische Bilder, wie Völkerwanderungen nach dem Kriege. Wie Flucht aus der Barbarei. Umarmen, Tränen.
In Dresden und unterwegs sprangen immer mehr Leute auf. Ein Drama. Ein Müncheberger, B. – Achims Bruder – bedankte sich im Fernsehen für die Hilfe von Seiten der polnischen Regierung und der Solidarnosc… Ein Anblick! Die Botschaften sollten geschlossen werden. Aber die BRD hielt sich nicht dran und heute früh waren es schon wieder 11.000 Leute (!) um die Botschaft. Gestern die Nachricht, dass der visafreie Reiseverkehr in die CSSR bis auf Weiteres aufgehoben ist. Ein Hammer nach dem Anderen. Jetzt geht also nur noch Rostock und Suhl ohne Visum. Hurra. Keine Überfallbesuche bei Gustav mehr! 11.000, und Kuno (mein Bruder) hatte auch überlegt, ob er nach Prag fährt. Hätte er geahnt, wie flink das geht, er wäre schon längst weg.

Es muss doch endlich was passieren!

In der Schule wurde es auch immer heißer. Bertram hatte mir ein NF-Info-blatt (NF=Neues Forum) und eine Mitgliederliste sowie eine Broschüre über den Neofaschismus in der DDR mitgebracht. Das Infoblatt haben wir gleich mehrfach abgetippt (im Werkstattsekretariat) und unter Leute gebracht. Hier habe ich erst Sylvia und Gundula geworben. Nach den letzten Ereignissen (Karsten wird wohl beschattet und sein Zimmer ist ebenfalls betreten worden) hat auch er sich entschlossen, zu unterschreiben und Annett und einige Andere folgen noch. Erstmal muss ich irgendwie an die Liste rankommen, ich  habe sie blöderweise zuhause liegenlassen. Auf meine Familie kann ich stolz sein. Vater, Mutter, Schwester, Schwager, Freund – alle unterschrieben. Auch wenn z.B. meine Mutter Hemmungen hatte. Ihr Stasierlebnis war nicht wirkungslos. Wo man damals zu ihr sagte: Seien Sie froh, wenn Sie Ihre Kinder wieder sehen dürfen… Der Vater war eher überzeugt. Es muss doch endlich was passieren! (…)

Aus der Wendezeit - mein Schreibtisch im Wohnheim - hier schrieb ich mein Tagebuch

Aus der Wendezeit – mein Schreibtisch im Wohnheim – hier schrieb ich mein Tagebuch

Wir haben Mut getankt.

Zu Anka Goll sind wir gefahren, es stellte sich heraus, dass sie selbst uns des Forums wegen besuchen wollten. Sie hatten auch das Blatt und eine Liste dort. Wir haben Mut getankt. Am 16.10. kommen sie zu uns, wenn die E. auch da ist. Hier gab es fast täglich Versammlungen. Es ging um die Frage Fete – ja oder nein, wen ja, dann wie. Mit Fete ist das Keilbergfest am 8.10. gemeint. Es war schon überall ausgehängt und in der Presse stands und eine Menge war organisiert. Umsonst. Unsere Studentenschaft hat sich tapfer geschlagen. Wir haben lange und viel dikutiert. Erst am Dienstag – nach der CSSR-Mitteilung haben wir aufgefordert, zum Boykott.

Ehrlichkeit ist von Nöten, jetzt nicht zu feiern heißt nicht, 40 Jahre zu ignorieren, sondern zu sehen.

Wir haben alles abgewogen, kamen dann einstimmig zu dem Schluss, dass wir uns verweigern müssen. Dass es in der gegenwärtigen Situation, die eine nie geahnte Fluchtbewegung aufzeigt, unmöglich ist , ein Fest zum 40. DDR Geburtstag zu veranstalten. Auch wenn wir mit Plaketten und in schwarz erschienen wären. Ehrlichkeit ist von Nöten und jetzt nicht zu feiern heißt nicht, 40 Jahre zu ignorieren, sondern zu sehen. Diese letzten Wochen sind das Ergebnis dieser 40 Jahre, ohne letztere also auch nicht möglich. Feiern? Nie.

Schwere Ereignisse erwarten alle, und “dass es noch viel schlimmer” kommt.

In Leipzig am Montag die größte Demo seit 1953, 20.000, die Stasi “lud” einige auf LKW, an Händen und Füßen gepackt. Furchtbar, es geht los. Bei den Dozentengesprächen wurde deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es jederzeit zu einer Situation kommen kann, wie sie ’53 oder noch nie da war. Schwere Ereignisse erwarten alle, und “dass es noch viel schlimmer” kommt. Oh weh. Aber endlich tut sich was und eine Geburt ist immer mit Schmerz verbunden.

Meine Post wird neuerdings offen nach Müncheberg geschickt. Schön, wie schnell die reagieren.

Meine Post wird neuerdings offen nach Müncheberg geschickt. Schön, wie schnell die reagieren. Adieu, Frankreich, das wird wohl nichts werden. Die können ja kein verbotenes NF-Mitglied dahin schicken. Und raus kriegen die alles. In den Zeitungen steht entweder nichts oder nur Mist. Schlimm in jedem Falle. Haarsträubend. Die Tausenden sind “einige Bürger, darunter Asoziale”, die Ungarnflüchtlinge sind mit “Drogen betäubt worden und über die Westgrenze verschleppt” worden, der “Sklavenhandel” in den Imperialismus blüht… da kommt einer das Kotzen. Widerlicher Mist. Ich habe ein Einladung bekommen, zum Fackelzug nach Aue zu fahren, “Bekenntnis zum Vaterland”, “Vertrauen in die Politik der Heimat”, “Für ein Leben in Glück und Frieden, uns und unseren Kindern”, welch Hohn. Im Dresdener Bahnhof haben sich mehr als 3000 Bürger verschanzt, die auf die Züge aufspringen wollen, die durch die DDR fahren, von Prag kommend. Erst hat eine nette Frau durchs Mikro geredet, dann wurden die Maßnahmen schrittweise verschärft und am Ende griff die Polizei ein. Die Menschen legten sich auf die Schienen, um die Züge zu stoppen.
Kleine Ergänzung vom 4.10.2014: gestern gab es auf Twitter eine zum vorhergehenden Absatz passende Kopie eines Stasi-Dokumentes, die ich hier nachträglich einfügen möchte:

Man wundert sich über die große Freundschaft zu China – denke an den Juniaufstand und sein so blutiges Ende. Ob die Soldaten so etwas mitmachen würden?

Man wundert sich über die große Freundschaft zu China – denke an den Juniaufstand und sein so blutiges Ende. Ob die Soldaten so etwas mitmachen würden? Was mache ich nun am 07.10.? Nach Berlin fahren? Es passiert garantiert irgendetwas. Muß ja. Die Spannung schreit nach Entladung. Von Gabriele (italienischer Briefreund) der Brief ist verschwunden. Gemeinheit. Einfach konfisziert. Der von Melissa (amerikanische Brieffreundin) kam offen. Sie hat sehr lieb geeschrieben, hat mich so gefreut. Florence (französische Brieffreundin) hat mir angeboten, wenn ich eine Bleibe suchen sollte, sie wäre immer da und ich könnte bleiben, so lange es Not täte. Von Gabriele kam wenigstens das Päckchen, auch das, trotz Eilpost, war 5 Wochen unterwegs. (…)

Dies war der Auftakt zu einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989. Weitere folgen in den nächsten Tagen. Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch  „Mauern einreißen!“ ans Herz gelegt 🙂
Weitere Informationen rund um die Wende ’89:

"Manchmal habe ich schon Angst" – Erinnerungen an die ersten freien Wahlen der DDR 1990

Von infratest dimap gab es am 21.08.2014 die Ergebnisse einer Sonntagsfrage zu den am 31.8.2014 stattfindenden Landtagswahlen in Sachsen. Das Schockierendste daran sind die Prognosen für die rechten Parteien, 7 Prozent für die AfD und 5 Prozent für die NPD. Das wäre ein offensichtlicher Rechtsruck in Sachsen im Vergleich zu den letzten Landtagswahlen.
Erinnerungen an die ersten freien Wahlen in der DDR werden wach.
Umschlag-vorn-klein
Ich erinnere mich in letzter Zeit bedingt durch den 25. Jahrestag des Mauerfalles oft an die letzten 12 Monate der DDR, den Wendesommer 1989, den heißen Herbst mitsamt Mauerfall aber auch die Monate der Ernüchterung im Frühjahr 1990, als es zum ersten Mal freie Wahlen gab in der DDR. Ich studierte damals im Erzgebirge in Schneeberg. Gestern fiel mir ein Brief in die Hände, den ich 24.02.1990 einer westdeutschen Freundin schrieb und den mir diese Freundin Jahre später mit anderen „Wendezeitbriefen“ als Erinnerung an diese Zeiten zurückgab. Die Angst von der ich damals schrieb, ist auch heute wieder da. So habe ich sie vor fast 25 Jahren ausgedrückt: Continue reading