Das Zentrum für Politische Schönheit wird am 9. November 2014 den Ersten Europäischen Mauerfall inszenieren, als Kunstaktion an der „größten Bühne der Welt“ – an den europäischen Außengrenzen.
„Während in Berlin Ballons in die Luft steigen und nostalgisch-sedierende Reden gehalten werden, wird die deutsche Zivilgesellschaft in einem Akt politischer Schönheit die europäischen Außenmauern zu Fall bringen.“ (Zentrum für Politische Schönheit)
Was haben denn deutsche Mauertote, die beim Verlassen eines Landes (der DDR) getötet wurden, zu tun mit Menschen, die beim Betreten einer Landesgrenze in die andere Richtung zu Tode kommen? Sterben beim Ausreisen ist doch überhaupt nicht vergleichbar mit Sterben beim Einreisen! Ü.B.E.R.H.A.U.P.T. N.I.C.H.T. Sagen jedenfalls ganz viele und, dass ein Vergleich der mehr als 23.000 Toten an Europas Grenzen in den letzten 14 Jahren mit den vermutlich mindestens 138 Maueropfern, (andere Quellen nennen über 1000 Tote), die in den 28 Jahren der deutsch-deutschen Mauer ums Leben kamen, sich verbietet – weil es das Gedenken an die letzteren verunglimpft, oder DDR Unrecht verharmlost.
Ich kann mit dieser Kritik nichts anfangen. Die Argumentation ist mir schleierhaft. Welchen Unterschied macht es für einen Menschen, wenn er oder sie beim Ein- oder Ausreisen an einer Grenze stirbt? Welchen Unterschied macht es für die Hinterbliebenen? Ist nicht in beiden Fällen eine Einschränkung der Reisefreiheit ursächlich für das Lebensrisiko beim Grenzüberschreiten? Ist nicht in beiden Fällen der Wunsch nach einem besseren Leben (nach in allen Fällen sehr individueller Interpretation dessen, was das jeweils bedeutet) die Motivation für den Mut, es trotz Lebensgefahr einfach zu versuchen?
Natürlich weiß ich, dass die Berliner Mauer ein perfides Konstrukt war, um die Bevölkerung einzusperren. Ich war eine der Eingesperrten und ich finde nichts daran verharmlosungswürdig. Aber für mich gibt es keine mehr oder weniger wichtigen Grenztoten. Ich finde JEDEN Tod an einer Grenze nicht nur unnötig sondern zutiefst unmenschlich und absolut unvereinbar mit dem Artikel 1 unseres Grundgesetzes, das sich bekanntlich nicht nur auf deutsche Staatsangehörige bezieht. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jedes Menschen. Die Art und Weise, wie die europäischen Außengrenzen „gesichert“ werden, ist eine extreme Verletzung der Würde von Menschen, die aus unhaltbaren Zuständen fliehen, um woanders ein würdevolleres Leben führen zu können. Hunger, Krieg und bittere Armut verjagen sie aus ihrer Heimat. Zustände, an denen der Reichtum der westlichen Teil einen sehr großen Teil zu verantworten hat. Unsere Antwort darauf ist eine Grenzkonstruktion, die durch ihr Design und das verwendete Material nicht nur Unüberwindbarkeit als Ziel hat, sondern offenbar auch schwere Verletzungen bis hin zum Tod – um abzuschrecken.
Mit Verlaub, ich finde das widerlich. Ich schäme mich dafür, wieder in einem Land – als Teil der Europäischen Union – zu leben, in dem man ganz bewußt in Kauf nimmt, das Menschen, die aus Not von woanders her fliehen, an unseren Grenzen sterben. Ich könnte kotzen bei der Vorstellung. Leider ist das aber tägliche Realität. Ja, jeden Tag sterben Menschen an unseren Grenzen – WEGEN dieser Grenzen. Während der Lektüre dieses Textes ist vielleicht jemand im Mittelmeer ertrunken, weil das Fluchtboot nur eine Nußschale war oder ein Grenzbewacher mit Gummigeschossen auf Flüchtlinge schoss. Oder es stürzte jemand an der spanischen Außengrenze beim Versuch den 7 meter hohen Zaun zu überklettern in den Nato-Stacheldraht, der mit geschliffenen Metallschneiden besetzt ist, oder auf die andere Seite in ein Drahtgeflecht, wo zusätzlich reizende Flüssigkeiten aus automatischen Spritzanlagen am danach stehenden, fast 6 meter hohen Zaun in die offenen Wunden dringt. Das ist keine Fantasie. Solche haarsträubenden Zustände herrschen wirklich an den Außengrenzen unserer demokratischen Europäischen Union. Wir investieren sogar Millionen in den Ausbau dieser tödlichen Konstrukte.
Ich finde es daher völlig angemessen und eine besonders gute Art des Mauerfall-Gedenkens vom Zentrum für Politische Schönheit, sich nicht nur der Nostalgie hinzugeben und davon zu schwärmen, wie großartig es war, durch Widerstand der Massen und diverse glückliche Umstände für 16 Mio DDR Bürger*innen die Freiheit zu erringen und die Mauer einzureißen sondern aus der Geschichte für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen und das Gelernte auf das Leben zu übertragen.
Eine solche Lektion heißt: tödliche Grenzen sind unmenschlich und mit demokratischen Grundwerten nicht vereinbar, sie gehören eingerissen.
Das Argument: „aber dann kommen doch Abermillionen Afrikaner*innen!!!EinsElf!! und was machen wir dann?!“ kann ich nicht gelten lassen, denn wie schon zitiert, die Würde des Menschen ist unantastbar. Immer. Man tötet einfach nicht. Niemanden. Nicht direkt aber auch nicht indirekt. Wenn wir dazu beitragen, dass woanders das Leben nicht mehr lebenswert ist, und Menschen deshalb Strapazen auf sich nehmen, um ihre Heimat zu verlassen, dann sollten wir uns endlich einmal aufrichtig fragen, wie wir das ändern können. Wir wir unser Leben so leben können, dass nicht unseretwegen woanders Not und Armut herrschen anstatt immer noch tötlichere Grenzanlagen zu bauen, damit auch ja die Ärmeren alle draußen bleiben.
Die westliche Welt verursacht den größten Anteil des Klimawandels, aber die dadurch ausgelösten Katastrophen haben vorwiegend Menschen in anderen, ärmeren Ländern zu ertragen. Wir exportieren die Waffen, mit denen in allen Kriegs- und Konfliktgebieten dieser Welt Menschen getötet werden. Wir kaufen die Billigjeans, die in Bangladesh in brüchigen Fabriken unter finstersten Bedingungen genäht werden. Wir verschenken die Blumen, die in Lateinamerika mit soviel Gift gezüchtet werden, dass dort die Schwangeren ihre Babies verlieren. Wir tanken den Biosprit, für den Ackerflächen gebraucht werden, auf denen früher Nahrungsmittel wuchsen, die jetzt andernorts fehlen. Wir tragen goldene Ringe und telefonieren mit Handies, an denen das Blut von Kindern klebt, die die dafür notwendigen Rohstoffe aus der Erde kratzen. Diese Liste ist leider beliebig lang fortsetzbar.
Wir sind ohne eigenes Zutun an der günstigeren Stelle der Welt geboren worden und meinen daraus ableiten zu können, dass wir mehr Wert sind und einen höheren, gewissermaßen naturgegebenen Anspruch auf die Reichtümer dieser Welt haben. Aber so ein Denkansatz ist purer Egoismus, er führt in gerader Linie zu den Grenzanlagen der EU-Außengrenzen. Wer von Euch würde einem Hungernden die Schale Essen wegnehmen oder einer Verdurstenden die Flasche Wasser aus der Hand schlagen? Wer würde ein Kind zurück in die Schußlinie zwischen verfeindeten Rebellen schubsen? Niemand mit Herz würde das fertig bringen. Aber diese Grenzanlagen haben das gleiche Ergebnis. Mit dem komfortablen Nebeneffekt, dass wir die Not nicht mehr sehen müssen und unsere Hände in Unschuld baden können. Dass wir nachts schön in unseren weichen und sauberen Betten schlafen können, weil uns nicht die Bilder der Hungernden, Durstenden und Traumatisierten verfolgen, die wir ausgestoßen und sich selbst überlassen haben. Wir schließen wie kleine Kinder die Augen und denken, dann ist das Problem nicht mehr da. Aber wir sind groß und wissen, dass das Unsinn ist. Das Problem ist da. Es einfach aussperren führt leider nie zu einer Lösung.
Wir müssen endlich kreativer werden, unsere enormen Ressourcen diesen Problemlösungen widmen und uns endlich daran erinnern, dass wir ALLE Menschen sind, die etwas verbindet, eine globale Empathie, ein Band aus Menschlichkeit. Würden wir gemeinsam an den Problemen dieser Welt arbeiten, wir hätten sie längst gelöst oder wären ihrer Lösung schon sehr nahe gekommen. Hunger ist kein Naturgesetz. Krieg auch nicht. Auch nicht Ebola.
Daran möchte ich an diesem 9. November, 25 Jahre nach dem Mauerfall gern erinnern. An die Notwendigkeit von Menschlichkeit, von Reisefreiheit und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Ich bin stolz auf alle, die die Idee mit dem Europäischen Mauerfall hatten und ihre Umsetzung durch Spenden ermöglichten (Spenden geht immer noch!) und vor allem auf die, die die Risiken und Strapazen auf sich nahmen, mit zwei Bussen Tausende von Kilometern zurückzulegen, um mit Bolzenschneidern in einer Zweiten Friedlichen Revolution dem unmenschlichen Bollwerk zuleibe zu rücken. Mein Mann ist einer dieser Reisenden. Ich hoffe, er und alle anderen kommt unbehelligt zurück.
Neben den neuen Mauern an Europas Außengrenzen gibt es noch viele andere Grenzen, an denen Menschen sterben. Egal ob in Mexiko, Israel oder Nordkorea: sie alle müssen weg.
Mehr zur Aktion:
- Ein Storify von @nachtkritik hat Bilder, Tweets und Nachrichten zum Start am 7. November 2014 am Gorki-Theater gesammelt
- LiveBlog von @nachtkritik (solange die Akkus halten)
- Facebook-Seite vom Zentrum für Politische Schönheit mit Informationen auch von unterwegs
- über die Twittersuche nach den Hashtags: #europaeischermauerfall und #EUwall
Hintergrund zum Thema:
- Huffingtonpost: „Frontex – der mobile Stacheldraht Europas: was sie dazu wissen müssen“
- ProAsyl: journalistisches Datenprojekt: Todesfälle an den europäischen Außengrenzen
- UNHCR: Statistiken über Europas Grenztote
Medienberichte (Inland):
- Spiegel: „Aktion zum Mauerfalljubiläum: Knackt die Festung Europa!“
- Taz: „Mauertote versus Frontex-Opfer“
- Berliner Morgenpost: „Maxim Gorki Theater unterstützte Diebe der Mauerkreuze„
- Süddeutsche: „Aktivisten entfernen Gedenkkreuze für Mauertote“
- ZEIT.online: „Flüchtlingsaktivisten entfernen Berliner Mauerkreuze“
- Tagesspiegel: „Mauerfall 2014?“
- Heise.de: „Wann kommt nach dem Berliner der Europäische Mauerfall?“
- Vice.com: „Die neuen Mauertoten Europas“
- Spreezeitung: „ZPS startet Initiative für Europäischen Mauerfall“
- bz-berlin: „Polizei nimmt Aktivisten unter die Lupe“
- RBB.online: „Gedenkkreuze für Maueropfer entwendet“
- ntv.de: „Polizei ermittelt, CDU entsetzt: Aktivisten entwenden Berliner Mauerkreuze“
- ZDF Aspekte Sendung mit Bericht am 7.November 2014
- taz: „Die Polizei hatte sie schon erwartet“ (8.11.2014)
- taz: „Künstler machen Bulgarien nervös“ (9.11.2014)
- ohne Link: Interview mit mir auf RadioEins am 9.11.2014 um 11:50 Uhr zu „Freiheit“ und „Europäischer Mauerfall“
- Salto.bz: „Erster Europäischer Mauerfall“
- Tagesspiegel: „Grenzen müssen fallen“ (9.11.2014)
- Pressenza (intern. Press Agency) „Erster Versuch gescheitert, die EU Mauer zu Fall zu bringen, Ziel dennoch erreicht“
- Spiegel Online: „Aktion gegen EU Außengrenze: Die Mauer bleibt stehen“ (9.11.2014)
- Berliner Morgenpost: „Die Kreuze zum Gedenken der Mauertoten hängen wieder“ (10.11.2014)
- taz: „Kreuze zurück – Polizei ins Theater?“ (10.11.2014)
- Berliner Zeitung: „Zentrum für politische Schönheit: Polizei stoppt Aktion Europäischer Mauerfall“ (10.11.2014)
- Berliner Zeitung: „Gedenktafeln für Maueropfer: Die gestohlenen Mauerkreuze sind wieder da“ (10.11.2014)
- taz: „Keine Mauer ist unantastbar“ (11.11.2014)
- Junge Welt: „Frag doch die Kreuze“ (11.11.2014)
- Der Freitag: „Grenzen einreißen“ (11.11.2014)
- Berliner Zeitung: „Zentrum für politische Schönheit: Provokation an Europas Schmerzgrenze“ (11.11.2014)
- Die Welt: „Die Kreuze zum Gedenken der Mauertoten hängen wieder“ (11.11.2014)
- Der Freitag: „Wir müssen Risiken eingehen“ (12.11.2014)
- Die Welt: „Theater als Zentrum für politische Blödheit“ (12.11.2014)
- Generalanzeiger: „Die Mauerkreuze sind wieder da“ (12.11.2014)
Medienberichte (Ausland):
- The Guardian: „Art group removes Berlin Wall memorial in border protest“
- Washington Post: „To some, the EU’s deadly border is the new Berlin Wall“
- The Local.es: „Stolen Berlin Wall Memorial taken to Spain“
- blitz.bg: „Германски радикали пътуват насам да бутат оградата ни с Турция“
- artslant Los Angeles: „Stolen Berlin Wall Memorials Shift Focus to EU Borders Amidst Anniversary Celebrations“
- Vsekiden (Bulg.): „Германци ще режат тази нощ оградата на границата с Турция„
- topaktualno (Bulg.): „Немски активисти искат да рушат телената ограда с Турция“
- bez zensura (Bulg. Blog): „100 ПОЛИЦАИ срещу германците, които ЩЕ РЕЖАТ ОГРАДАТА НИ С ТУРЦИЯ!“
- webcafé (Bulg.): „Германски активисти пристигнаха на границата с Турция (обновена)„
- tarator (Bulg.): „Германски радикали искат да бутнат оградата ни с Турция, алармира Джамбазки„
- ohmynews (Korea): „독일서 떠오른 평화 풍선, 우리 ‚삐라’가 부끄러웠다“ (10.11.2014) (google translate link)
- ohne Link: Interview mit mir für Mexico TV Televisa zum 25. Mauerfall Jahrestag UND „europäischer Mauerfall“ am 9.11.2014, Aufzeichnung am Nachmittag
- ohne Link: Interview mit mir für Skynews (UK) TV zum 25. Mauerfall Jahrestag UND „europäischer Mauerfall“ am 9.11.2014, Live um 18:30 Uhr