Teil 7 – Aus meinem Tagebuch vor 25 Jahren – mein erstes Mal im Westen – 13.11.1989

„Gefühle kann ich nicht beschreiben, ist absolut unmöglich. Ich hab wie viele mit den Tränen gekämpft. Es war so unglaublich, man geht da durch, als wäre es nicht gestern noch ein Todesfeld mit Minen, ein Stromstacheldraht und und und, alle gingen durch, nur so, es war völlig normal. Der Empfang war ebenso unbeschreiblich. Wildfremde Menschen umarmten sich. Westberliner klatschten, alles lachte und heulte. Nie im Leben vergeß ich das.“

Meine Tagebuchnotizen vom 13. November 1989. (English Version coming soon!)

Dies ist Teil 7 aus der Reihe “Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989″, frühere Teile sind am Ende dieses Posts verlinkt, ebenso wie Dokumente, Fotos aus der Zeit und mein Buch „Mauern einreißen“. Es gibt alle Teile auch in englischen Übersetzungen auf meinem Blog. Kürzungen (private Inhalte) sind erkennbar an “(…)”, Erklärungen gibt es in Klammern: (ADB: Erklärung) oder so: (=blabla). Ausführlichere Erklärungen gibt es in Fußnoten.

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Heute ist der 13.11.89, 11:15, Hauptbahnhof am Montag
Ich faß es noch gar nicht, vor 1 Stunde genau setzte ich mich in die S-Bahn-Charlottenburg… kam von der Riki (1), wo ich ein Wochenende gelebt hatte. Ein so volles. Wahnsinn, unbeschreiblich, Herr Gott, gib mir Worte, das Maß an Emotion auszudrücken – unmöglich. Versuchen?

So eine Zählkarte hatte ich noch für den Grenzübertritt am 11.11.1989 ausfüllen müssen, sehen wollte sie aber dann doch keiner mehr an der Grenze…

Nach der Trauer am Donnerstag – waschen Freitag früh (2). U. kommt ins Bad und strahlt – na, was sagst Du zu unserem Sieg? – Ich wußte nichts, da redet er von Mauerschwund… Ich renne zum Radio und höre es selbst, jeder darf rüber wie er will. Unfaßbar. Ich bin mit Gundi gleich zur Polizei und in 1 Std. hatten wir das Visum. (3) Der Tag war gelaufen. Kein Fatz Entwurf gemacht. Frühstück (mit) Gundel gefeiert, ein Likörchen getrunken. Angerufen zu Hause und die Eltern zur Polizei geschickt. Kunstgeschichte geschwänzt und heim gefahren. Riki war schon weg. Am Samstag früh mit Auto los zum neuen Übergang Bernauerstrasse-Brunnenstrasse, der Vater drängelte sich rein, wir standen 1 Stunde, die Schlange war endlos, es ging ständig vorwärts. Nur Ausweis hochhalten. Ringsherum aufgebrochene Mauern, Bauarbeiter, Grenzer. Ich strahlte einen an – auch die freuen sich jetzt, trotz Streß.
zaehlkarte-RSAuf der Mauer saßen Westberliner Jugendliche, klatschten und winkten, mir standen auch Tränen in den Augen. Überall die Westberliner, lachen, winkend, x-Fernsehteams (vielleicht sah mich M…?) Eine Frau verteilte Nimm-2, andere Rosen, weiß und rot, Kaiser verteilte Kaiserkaffee und Schokolade – wir suchten einen Bus und fuhren dann per SBahn zur Riki. Mittags waren wir da. Ein Taumel, so viele Leute. Schon die Busse sind viel schöner, die Mauer so bunt, “sauer macht lustig, Mauer macht frustig” – schöne Sprüche überall. Riki wohnt gegenüber vom Azteken (=Schmuckladen), in der Hektorstr. (…), neben dem Kudamm, ganz dicht. Eine schöne Altbauecke, 4. Stock, Riesenfenster (im ganzen Viertel), Blick auf die Dächer, wunderschön. Helle, unkomplizierte Wohnung, liebenswert. Tolle Fotos, 2 Katzen… schön. Sohn Emil mit langen Lohden, 20. Jahre, zukünftiger Schlagzeuger. Ich hatte ein Zimmer für mich ganz allein. Die Eltern fuhren nachts zurück. Vorher sind wir (ich allein) den Kudamm auf und ab gebummelt. Hab im Ku-eck im Indienladen die Simone G. (=Schulkameradin) getroffen – die Welt ist klein, (…) Müncheberg (=Heimat- und Schulort) ist überall.

Genau an dieser Stelle - direkt hinter dem Brandenburger Tor - war ich mit meiner Mutter auf die Mauer geklettert. Ein unvergesslicher Moment in einer euphorischen Menge. Magie eines Augenblicks. Foto: Wikipedia Commons, Link: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Thefalloftheberlinwall1989.JPG, Autor unbekannt, Reproduktion: Lear 21 von einer Fotodokumentationswand des Berliner Senats

Genau an dieser Stelle – direkt hinter dem Brandenburger Tor – war ich mit meiner Mutter auf die Mauer geklettert. Ein unvergesslicher Moment in einer euphorischen Menge. Magie eines Augenblicks. Foto: Wikipedia Commons, Link: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Thefalloftheberlinwall1989.JPG, Autor unbekannt, Reproduktion: Lear 21 von einer Fotodokumentationswand des Berliner Senats

Um 18:00 haben wir uns bei Riki getroffen und beim Italiener gegessen, auf der Strasse, die in die des 17. Juni übergeht. Die Kellner rannten, mit roten Schürzen, das Essen war göttlich, der Chianti rosso wunderbar und ziemlich stark. Der Vater aß Calamari (in Ringen), Riki und die Meuder (=Spitzname meiner Mutter) eine Riesennudelplatte mit Füllungen, Pilzen und Saucen. Ich hatte eine Calzonepizza mit Pilzen, Käse und Schinken. Vorspeise war Fenchel, gefüllte Paprika, Oliven, eingelegte Forelle (super), Artischocke, irgendwie bearbeitete Tomate (unkenntlich)(4), gefüllte Pilze etc., göttlich. Ich dachte, ich muß platzen, es tat leid um jeden Rest. Wir aßen jeder von jedem, die Nudeln waren das beste dabei. Die Kellner flitzten und strahlten. Wir wurden einmal an einen anderen Tisch platziert, es war so viel Betrieb dort. Riki hatte uns eingeladen. Unvergeßlich alles. Viva la vita viva l’amore – der Kellner auf meine Umzugsbemerkung: “das bringt doch Leben in die Bude”, so toll alles.
Als wir gingen hielt uns der Restaurantchef vor der Tür an, ob wir nicht zum Abschied noch einen Amaretto oder dergleichen – wir waren schnell überredet, nach hinten geführt und bekamen jeder vom Chef was spendiert, einen Sambucco für mich (Anis, angezündet, fein und süß), Amaretto für den Vater, Sekt für die Meuder. Der Chef freute sich über uns, hatte nur 2 St. geschlafen, war nachts um 3:00 nach der Arbeit noch zur Mauer gewandert um zuzuschauen. (5) Alles war so lustig, ich freue mich schon sehr auf den Italiener, G. (=Brieffreund, er hatte mich eingeladen).
Die Zeit verrennt. Die Eltern fuhren dann heim, ich schaute mit Riki noch Landkarten an, M. wohnt nördlich von New York, gar nicht so weit. Boston ist auch in der Nähe. Riki’s Sohn ist bald ein halbes Jahr in Hollywood, zur Schule, das ist auch in Californien. Ich freue mich so auf die Reise! Padua (=wo mein Brieffreund wohnte) ist ganz dicht bei Venedig – ein Traum! In Amsterdam habe ich sogar die Helmerstraat von Wiel (=holländischer Brieffreund) entdeckt, eine lange Straße. Amsterdam macht einen feinen Eindruck. Geschlafen habe ich wie ein Engel und nur von Italienern geträumt, Kellnern die auf dem Hof herumrannten und servierten. (…) Ich wollte ja schon gestern abend nach Leipzig kommen, komme ich eben heute, hoffentlich sind sie (=meine Freunde) noch da. Zur Demo (=Montagsdemo) schaffe ich es noch. Heute abend wollen wir feten. (…) Ich werde jetzt nach Schöneweide fahren, da ist bestimmt auch noch Zeit.

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(1) Die Rede ist von der westberliner Dokumentarfilmerin Riki Kalbe, eine Freundin meiner Mutter, mit der uns eine enge Freundschaft verband. Sie hat fotographisch u.a. die Veränderungen rund um den Potsdamer Platz nach dem Mauerfall begleitet. Sie war herzlich und humorvoll aber ist leider 2002 viel zu früh gestorben, nach dem schon ihr Sohn Emil, ein begabter Musiker, mit nur 30 Jahren gestorben war. Meine Erinnerungen an den Mauerfall 1989 sind für immer mit Riki und ihrem herzlichen Lachen verbunden, mit ihrer Gastfreundschaft und den inneren Bildern z.B. von Postkartenfotos aus ihrer Kamera, Landkarten, die in ihrer Wohnung an den Wänden hingen, von der kleinen Küche, in der sich schöne Keramik stapelte und in der wir türkischen Kaffee und Rotwein tranken.

Unser alter Waschraum im Wohnheim der Fachschule für Angewandte Kunst in Ober-Schlema/Erzgebirge

Unser alter Waschraum im Wohnheim der Fachschule für Angewandte Kunst in Ober-Schlema/Erzgebirge (Foto: Kathrin Roth-Wagner)

(2) Es gab einen gemeinsamen Waschraum im Studentenwohnheim, einer Holzbaracke. Von diesem (unisex) Waschraum ist die Rede…Es war allerdings nicht mehr der alte Waschraum, wie hier abgebildet, sondern ein neuer, mit richtigen Fliesen an der Wand und gekachelten Duschkabinen, nicht mit so einer aus Blech wie in meinen ersten Studienjahren.
(3) In den Nachrichten hieß es noch, dass man einen Stempel von der Polizei braucht, deshalb sind wir zur Meldestelle, die zur Polizei gehörte und haben uns dieses Visum besorgt. Auch eine Zählkarte bekamen wir, die ich noch ausfüllt hatte, aber die niemand an der Grenze mehr sehen wollte.
(4) Mein allererstes italienisches Essen… bis auf den heutigen Tag das leckerste italienische Essen, dass ich je gegessen habe. Bestimmt auch wegen der Umstände, aber es war einfach auch himmlisch. Ich beschrieb das alles so genau, weil es alle diese Speisen so in der DDR nicht gegeben hatte. Weder Calamari noch gefüllte Pilze. Und wie getrocknete Tomaten aussehen, wußte ich auch nicht, daher beschrieb ich ihre Bearbeitung als “unkenntlich”.
(5) Erst beim Herausgehen hatte der Restaurantbesitzer mitbekommen, dass wir Ossis und bei unserem ersten West-Essen waren. Deshalb lotste er uns wieder hinein, um gemeinsam zu feiern. Es war ein magischer Moment des gemeinschaftlichen Glücks.

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Dies ist mein letzter Beitrag aus der Serie „Mein Tagebuch vor 25 Jahren“, als Bonus gibt es noch eine Postkarte, die ich wenige Tage nach dem Mauerfall an eine Freundin in Westdeutschland schrieb. Sie gab sie mir Jahre später mit anderen Briefen aus der Wendezeit zurück, als Erinnerung, und ich bin dafür sehr dankbar!

Liebe Elisabeth,               – 19.11.1989, Schlema

bevor ich ins Bett verschwinde, noch schnell ein paar Zeilen. Zuerst lieben Dank für den Havel-Artikel, vielleicht verschwindet heute wirklich nichts mehr? Ihr hört sicher, was so alles los ist bei uns, es überschlägt sich. Die Euphorie war groß. Gleich am 10.11. haben wir uns ins Auto gesetzt, um uns in Berlin von der Wahrheit des Unvorstellbaren zu überzeugen. Ich bin ulkigerweise just 11:11 Uhr durch die ehemalige Mauer – frisch durchgebrochen gewandert. Gefühle kann ich nicht beschreiben, ist absolut unmöglich. Ich hab wie viele mit den Tränen gekämpft.

Es war so unglaublich, man geht da durch, als wäre es nicht gestern noch ein Todesfeld mit Minen, ein Stromstacheldraht und und und, alle gingen durch, nur so, es war völlig normal. Der Empfang war ebenso unbeschreiblich. Wildfremde Menschen umarmten sich. Westberliner klatschten, alles lachte und heulte. Nie im Leben vergeß ich das. Hoffentlich war es trotz allem nicht zu früh, ich fürchte eine ökonomische Katastrophe. In W-Berlin tauscht man schon 1:20, was soll da aus der DDR-Mark werden? Hoffentlich kommen wir über den Winter. Apropos, so oft habt Ihr mich schon eingeladen, da würde ich so gern wirklich kommen. Ich habe nur im Dezember frei, sonst erst im Sommer. Wäre es vom 27.-30.12. möglich? Wenn Ihr schon Besuch habt, oder um diese Zeit lieber unter Euch seid, versteh ich das natürlich. Ich würde nachts fahren und vormittags ankommen in FFM. Es wäre so schön. Alles Liebe und Grüße an alle,

Anke

Dies war der 7. und letzte Teil einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989.  Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch ans Herz gelegt.

For english versions, see HERE.
Weitere Informationen rund um die Wende ’89:

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