Mein Nachtrag zur Anne Will Sendung "Kippt die Stimmung gegen Flüchtlinge?"

Am 31.01.2016 war ich zu Gast bei Anne Will, wo darüber debattiert wurde, ob denn nun die Stimmung gegen Flüchtlinge gekippt sei oder nicht. Der aktuelle Aufhänger waren pauschale Hausverbote von Nachtclubs in Freiburg und Schwimmbädern an anderen Orten für Flüchtlinge, nachdem es dort vereinzelte Übergriffe gegeben hatte.
Die ganze Sendung kann man übrigens HIER anschauen. Die Gäste waren:

  • Jens Spahn, CDU, Finanz-Staatssekretär
  • Dieter Salomon, Oberbürgermeister Freiburg, Mitglied der Grünen
  • Mehmet Daimagüler, Nebenklägeranwalt im NSU Prozess
  • und ich selbst…

Wie immer ging die eine Stunde Debattenzeit viel zu schnell vorbei, wie immer gab es ein paar Eigendynamiken, die jede Gesprächsstrategie unterminieren können – wie der zeitweilig lustige Dialog zwischen Daimagüler und Spahn, in dem sie nicht recht wußten, ob sie sich jetzt duzen oder siezen sollten. Ich empfehle das siezen, da ist das Kritisieren einfacher und da gabs einiges, denn Mehmet Daimagüler hat das Buch von Jens Spahn offenbar genauer gelesen, als es Letzterem lieb war, so ließ der eine dem anderen seine Ausflüchte nicht durchgehen und nagelte ihn immer wieder fest auf seine pauschalisierenden, Vorurteilsbeladenen Aussagen im eigenen Buch… Aber nicht davon wollte ich schreiben sondern von all den Dingen, die ich sagen wollte aber wozu es nicht kam.
Konsequenzen einer Abschottungspolitik ist einkalkulierter Tod von Flüchtlingen
Wichtig war mir z.B. darauf hinzuweisen, dass der ausgesetzte Familiennachzug (und diese ganze Obergrenzengeschichte) nichts anderes bedeutet, als ganz bewußt den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen – nur weil wir als reichstes Land Europas meinen, nicht mehr teilen zu wollen oder diffuse, pauschale Ängste vor „dem Fremden“ haben. Schon jetzt sind 55% der Flüchtlinge (Stand Mitte Januar 2016) Frauen und Kinder. Sie kommen jetzt vermehrt selbst über die lebensgefährliche Fluchtroute, weil der Familiennachzug immer unsicherer ist und sie lieber ihr Leben dabei riskieren, als es unter Faßbomben in der Heimat zu verlieren – fern von ihren Angehörigen. Auf der Flucht sind sie besonders gefährdet, vor allem Frauen und Mädchen sind unterwegs sexualisierter Gewalt und Mißbrauch ausgesetzt, sie werden von Menschenhändlern erpresst, ihre Lage ausgenutzt. Bei uns wird überall debattiert, wie sehr es uns doch vor allem auf den Schutz der körperlichen Unversehrtheit von Frauen ankommt.
Aber genaugenommen meinen die meisten dieser besorgten Debattierer, dass sie nur deutsche Frauen schützen wollen und auch die nicht gegen jede sexualisierte Gewalt sondern nur dann, wenn sie von Ausländern kommt… (den Eindruck muss man erhalten, wenn man in all den Jahren, wo Feminist*innen für eine Reform des steinzeitlichen Sexualstrafrechts kämpften, keinerlei Unterstützung aus diesen Reihen erhielt. Wo aus diesen, vor allem rechten Ecken, immer Angriffe gegen Femistinnen kamen, wo Frauen grundsätzlich nicht geglaubt wurde – weil ja z.B. Vergewaltigungen falsche Anschuldigungen seien…). Deshalb sind offenbar die Frauen und Kinder, die da unterwegs bei Eis und Schnee irgendwo zwischen Istanbul und Deutschland verrecken, „nicht unser Problem“. Dass die neu entstandenen „Frauenrechtler“ nicht wirklich für die Rechte von Frauen eintreten, bekommen die meisten Frauen immerhin mit, nur 2% Frauen wollen die AfD wählen aber 17% der Männer. Denkt mal darüber nach.
Mehr 10.000 Kinder sind auf dem Fluchtweg einfach verschwunden, mußten wir lesen in diversen Medien. Der Menschenhandel und Kindesmißbrauch blüht, weil wir nicht einmal Kindern einen sicheren Weg aus Kriegsregionen bieten können. Im 3. Reich wurden 50.000 Kinder aus Deutschland nach England durch die berühmten Kindertransporte vor den Nazis gerettet. Heute, 80 Jahre später, schaffen wir das nicht mehr, wir lassen selbst Kinder im Mittelmeer ertrinken. Ich möchte nicht den Eindruck hinterlassen, dass mir männliche Flüchtlinge gleichgültiger sind, ich hebe Frauen und Kinder hier nur deshalb hervor, weil sie in unserer Debatte immer so betont werden und damit deutlich wird, wie heuchlerisch hier argumentiert wird. Es geht (den meisten) NULL um Frauen und ihre Rechte oder ihre körperliche Unversehrtheit. Es geht um Besitzstände, Neiddebatten, Rassismus und das Ende von Menschlichkeit, Solidarität, der Würde des Menschen und dem Grundrecht auf Asyl bzw. dem Recht auf Schutz nach der UN Flüchtlingskonvention. Das hätte ich alles gern auch bei Anne Will gesagt.
Wo wir dabei sind: wo bleibt der Schutz weiblicher Flüchtlinge in Deutschland?
Deutschland hat die EU Aufnahmerichtlinie ratifiziert, die in Artikel 21 vorschreibt, dass Flüchtlinge mit besonderen Bedürfnissen zu identifizieren und ihren Bedürfnissen Rechnung zu tragen ist. Dazu gehören u.a. Minderjährige, Behinderte, Opfer von Gewalt und traumatisierte Flüchtlinge. Ich habe selbst Gemeinschaftsunterkünfte angeschaut, z.B. in Lehnitz bei Oranienburg, wo über 700 Menschen in 2 Häusern untergebracht sind, bald sollen es sogar 1000 Geflüchtete sein. Ich habe dort mit Frauen gesprochen und selbst die Sanitäranlagen besichtigt. Diese Frauen erzählten mir, dass sie nur nachts duschen, wenn alle anderen schlafen, in kleinen Gruppen, und nicht oft, denn sie hätten Angst in einem Duschraum, der nicht abschließbar ist und nicht einmal Kabinen hat. Man stelle sich vor, darunter sind auch Frauen, die bereits Opfer von Gewalt geworden sind. Niemand nimmt hier Rücksicht auf ihre besonderen Bedürfnisse. Was ist so schwierig daran, in großen Heimen einen Gang für Frauen und Familien einzurichten und andere Etagen für Männer? Warum ist es so unmöglich, abschließbare Duschräume als Standard für alle zu haben? Wer würde in einem Haus mit Gemeinschaftsduschen, in dem 350 vorwiegend wildfremde Menschen wohnen, duschen gehen, ohne abschließen zu können? Aber die weiblichen Geflüchteten und ihre körperliche Unversehrtheit interessieren kaum jemanden, schon gar nicht diejenigen, die sich gerade so lautstark für Frauenrechte engagieren.
Auch den Bedürfnissen von Kindern wird nur selten entsprochen. Kinder brauchen Gelegenheiten zum Spielen. In den von mir besuchten Gemeinschaftsunterkünften gab es nicht einen einzigen Raum zum Spielen. Es gab auch kaum Spielzeug. Die Kinder hielten sich in den endlos langen Fluren auf, auf dem nackten Linoleum und spielten dort mit einem einzigen alten Ball, oder sie rannten die trostlosen Treppen hoch und runter. Spenden sammeln für Spielzeug kann man ja, auch das schaffen wir als Freiwillige neben all den anderen Dingen, aber ein Raum muss der Betreiber stellen – und das passiert nicht.
Ja, es gibt viele Gründe, in Deutschland Angst zu haben – z.B. vor rechter Gewalt

Was leider auch nicht zur Sprache kam, waren die über 1000 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, darunter Brandanschläge, Sprengstoffanschläge, Schüsse. Über 900 davon laut BKA mit rechtem Hintergrund. Das von vielen aktuell beschworene Gewaltmonopol des Staates sehe ich auch in Gefahr, z.B. wenn ich in Freital/Heidenau mit anschauen muss, wie die Polizei sich auf der Nase herumtanzen läßt, von „besorgten Bürgern“ tagelang mit Molotowcoctails, Flaschen und Steinen beworfen wird und es passiert – nichts. Ich habe Angst um die Zukunft der Demokratie und all der kostbaren demokratischen Freiheitsrechte in Deutschland, wenn solche Kräfte weiter an Einfluss gewinnen. Ich habe Angst davor, eines Tages Schlagzeilen zu lesen, die von getöteten Flüchtlingen künden, weil wir sie nicht schützen konnten vor einem rechten, gewalttätigen Mob.
Und nun frage ich mich, wie viel Angst müssen Flüchtlinge haben, die ja auch die Nachrichten mitbekommen, wenn sie wissen, dass sie potenzielle Zielscheiben sind? Dass sie nun auch hier, wohin sie vor Krieg und Elend geflohen sind, bedroht werden und nicht ruhig schlafen können? Dass viele Menschen um sie herum sie pauschal für Vergewaltiger, Einbrecher, Diebe und sonstige Straftäter halten? Ich kenne Flüchtlinge, die selbst sagen, sie gehen jetzt nur noch zum Einkaufen raus, nicht mehr schwimmen, nicht mehr in die Disko. Sie haben Angst und sie wollen niemandem durch ihre bloße Präsenz Angst machen. Also isolieren sie sich selbst in ihrer Massenunterkunft. Das ist das Gegenteil von Integration und die Folge dieser Angstdebatte, gesteuert von Vorurteilen.
Der bisherige Gipfel ist die Diskussion um den Schießbefehl an deutschen Grenzen. Als ehemaliger DDR Bürgerin dreht sich da mein Magen um wie ein Propeller. WIE KANN MAN NUR?! Da ist es schon kaum noch eine Steigerung, wenn die Führungsspitzen der AfD da sogar noch einen drauf setzen und darüber streiten, ob man Frauen und Kinder auch erschießen soll oder doch nur die Frauen… So absurd das klingt, diese Partei hat aktuell 12% in Umfragen und Gewalt zum Verjagen von Flüchtlingen, die nach ein paar Tausend Kilometern Fluchtweg vor der deutschen Grenze stehen, finden auch bürgerliche Journalisten bürgerlicher Medien nachvollziehbar und konsequent. Ja, das macht mir Angst und zwar so richtig.
In einem Artikel (wenn ich ihn wiederfinde, verlinke ich ihn, ähnliches wird in diesem Interview mit einem Risikoforscher beschrieben) konnte man es neulich sehr schön lesen, warum viele von uns so viel Angst haben. Menschen gewöhnen sich an Risiken oder sie nehmen sie freiwillig in Kauf – dann haben sie weniger Angst davor, selbst wenn das Risiko ein tödliches sein kann. Autofahren ist riskant? Klar, aber wegen ein paar Tausend Toten im Jahr, werden wir ja wohl kaum die Mobilität einschränken wollen. Wir gewöhnen uns daran, das war ja schon immer so. Kann man machen nichts. Rauchen ist tödlich? Skifahren gefährlich? Ja, weiß man, aber scheiß drauf, man WILL rauchen oder skifahren oder was auch immer… ein freiwillig eingegangenes Risiko macht weniger Angst.
Was aber überproportional Angst macht, ist ein unbekanntes, neues, ein unfreiwilliges Risiko. Wenn ein solches Risiko wegen „YEAH! Neuigkeitswert!“ oder „Bürger wollen NOCH MEHR darüber wissen! Relevanz, Relevanz!“ unglaublich überproportional beschrieben und darüber berichtet wird, dann wirkt es noch größer, erzeugt noch mehr Angst und schon sind wir drin in einem Teufelskreislauf aus Panik, Angstmache und überproportionale Fokussierung. Wenn wir dann von dem Taschendiebstahl eines dunkelhäutigen Mannes in einer Tageszeitung lesen, die früher von den Hunderten Taschendiebstählen, die in der gleichen Stadt so jährlich passieren, nichts berichtet hat, entsteht der Eindruck: sieh mal an, ab jetzt wirds gefährlich in der Einkaufszone, laßt uns die Taschen fester packen und die Ausländer schnell wieder loswerden. Genau das gleiche im Freiburger Club, da zitieren Zeitungen eine junge Frau, die mit einem Ausländer nicht tanzen wollte, der aber trotzdem weiter mit ihr tanzte.
Die vielen Tausend Male, wo eine beliebige Frau mit einem beliebigen Typen in einer Disko nicht tanzen wollte und diese Klette trotzdem nicht los wurde, oder wo Frauen in Schwimmbädern verbal angemacht wurden, die standen in keiner Zeitung und haben auch nicht zu einer Debatte geführt, bestimmte Männergruppen (blonde? lockige? mit Sommersprossen?) vom Zugang zu Clubs oder Schwimmbädern auszuschließen. Das gleiche spielt sich ab bei jeder beliebigen Straftat, sei es nun versuchte oder vollzogene Vergewaltigung, verbale Belästigung oder anderes. Das sind alles verwerfliche Taten aber es sind IMMER verwerfliche Taten, egal, wer sie begeht. Sie sollten IMMER Aufmerksamkeit erhalten, egal wer der Täter ist, ausnahmslos. Und mal so ganz nebenbei: es gibt ein Antidiskriminierungsverbot und wir sind ein Rechtsstaat. Beides bedeutet, dass Sippenhaft und Ausgrenzung auf Basis z.B. von Herkunft oder Ethnie verboten sind. Wer Schandtaten begeht, gehört bestraft, aber individuell, nicht alle Angehörigen der gleichen Ethnie stellvertretend mit. Im übrigen hat sich auch das Opfer der versuchten Vergewaltigung von Freiburg in diese Richtung geäußert und selbst die Zutrittsverbote als „abscheulich“ gebranntmarkt.
Wenn wir uns der psychologischen Effekte der Bewertung von Risiken bewußter wären, könnten wir rationaler mit den Geschehnissen der Gegenwart umgehen. Weniger in Panik verfallen, weniger Angst haben, mehr nach Lösungen suchen und uns mehr auf die Risiken konzentrieren, die ein zu wenig an Integration verursacht. Die sind nämlich höchst real aber werden sich erst in der Zukunft zeigen, vielleicht erst in 10 oder 20 Jahren. Aber diese Risiken sind nicht in Stein gemeißelt, wir können sie beeinflussen und dramatisch verringern, wenn wir es wollen und wenn wir daran arbeiten.
#wirmachendas – den vielen Macher*innen eine Stimme und ein Gesicht geben
Das machen ja schon Hunderttausende in Deutschland, unermüdlich, jeden Tag. Es werden auch nicht weniger. Aber wie Mehmet Daimagüler anmerkte – es sind die stillen, die man daher weniger wahr nimmt. Sie labern halt nicht. Sie machen einfach. Sie verplempern ihre Zeit nicht wie die lauten Besorgten mit wütenden Protesten auf virtuellen und analogen Plätzen sondern engagieren sich für eine bessere Integration, mit Deutschkursen, Begleitung zu Behörden, mit Spendensammeln und Verteilen, mit Rechtsberatung, mit kreativen Lösungen für anstehende Probleme (schaut mal die eigenen 14 Wände an!)  und auf unendlich vielen Wegen mehr. Damit sie endlich sichtbarer werden und der verquere Eindruck, die Mehrheitsmeinung sei eine ablehnende etwas gerade gerückt werden kann, haben 100 Frauen aus Wissenschaft, Kunst, Kultur, Medien und öffentlichem Leben die Initiative #wirmachendas gegründet. Ich bin eine dieser 100 Frauen und kann nur empfehlen, unsere Seite einmal zu besuchen und sich inspirieren zu lassen, von der Motivation und Kreativität der Allianz der Willigen, die es massenhaft in Deutschland gibt. Diese Initiative wächst gerade zur Bewegung, an der sich immer mehr Einheimische und Neuankömmlinge, Institutionen und Netzwerke, Frauen und Männer engagieren. Weil eine gemeinsame gute Zukunft für uns alle möglich ist – wenn wir unsere Energien darauf lenken.
Das alles hätte ich also auch gerne noch gesagt, nun hab ich stattdessen aufgeschrieben.

Demokratie ohne freie Presse ist keine.

Auf der "Landesverrat" Demo am 01.08.2015 in Berlin. Bildrechte:  Sozialfotografie StR https://www.flickr.com/photos/sozialfotografie

Auf der „Landesverrat“ Demo am 01.08.2015 in Berlin. Bildrechte: Sozialfotografie StR https://www.flickr.com/photos/sozialfotografie


Immer weiter dreht sich die Spirale mit haarsträubenden Neuigkeiten rund um die Ermittlungen des (inzwischen ehemaligen) Generalbundesanwalts Range gegen zwei Journalisten des Politblogs Netzpolitik.org und ihre bisher unbekannte Quelle wegen Landesverrats. Landesverrat – die dickste und härteste Keule, die es gegen Journalisten gibt – Mindeststrafe: Ein Jahr Gefängnis.
Aktuell am irritierendsten ist der Umstand, dass vollständig intransparent ist, wann welche Behörden (und wer darin) was erfahren hat, wie und wann darauf reagiert wurde. Es gibt dazu ein verwirrendes Geflecht sich widersprechender Aussagen – mal aus der gleichen Behörde, mal von Behörden, die sich gegenseitig widersprechen. Als Bürger*in verliert man da sehr schnell den Überblick – so wie ihn längst alle Berichterstatter*innen auch verloren haben (eine Chronologie der Ereignisse findet sich auf Tagesschau.de). Die neueste Drehung der Spirale: nachdem das BMI erst öffentlich erklärte, nicht gewusst zu haben, dass sich die Landesverratsermittlungen gegen zwei Journalisten richteten, meldete die Tagesschau am 6.8.2015, das BMI hätte doch frühzeitig gewusst, gegen wen sich das Verfahren richtete. Wenige Stunden später das Dementi: Nein, so sei es doch nicht, nie hätte man verlautbart, keine Ahnung gehabt zu haben. Darin steckt die Aussage: ja, wir haben alles ganz genau gewusst, wochenlang, aber haben nichts dagegen getan, diesen Angriff auf die Pressefreiheit zu stoppen.
Nachdem der Generalbundesanwalt Range durch diese Affäre bereits seinen Job verlor, richtet sich nun folgerichtig das Augenmerk auf die anderen Beteiligten. Die Vermutung liegt nahe, dass er nur ein Bauernopfer war (67 Jahre alt, ein paar Monate vor dem Ruhestand ein verschmerzbares Opfer), von dem sich die Regierungskoalition erhofft, dass es reicht, die aufgebrachte Medienlandschaft zu beruhigen und die Grundrechtsaktivisten wieder von der Straße zu bringen.
Aber das sollte ihr hoffentlich nicht gelingen, denn viel zu offensichtlich trägt Harald Range nur einen Teil der Verantwortung, vermutlich nicht einmal den größten. Da steht an erster Stelle der Präsident des Amtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, der die Ermittlungen anstieß. Er steuerte auch gleich noch ein Gutachten bei, in dem wenig überraschenderweise stand, dass die Veröffentlichung des Haushaltes des Verfassungsschutzes auf der Plattform Netzpolitik.org sehr wohl der Verrat eines Staatsgeheimnisses sei, geeignet dem Staat schweren Schaden zuzufügen.
Ihm folgt der Innenminister Thomas de Maizière, der dessen Behörde – wie wir ja nun genauer wissen – von den Landesverratsermittlungen frühzeitig in Kenntnis gesetzt wurde und sie auch klar billigte. Der Dritte im Bunde ist Justizminister Heiko Maas, der zwar den GBA Harald Range nach öffentlichem Schlagabtausch entließ, der aber auch erst konsequent aktiv wurde, als die Sache durch Netzpolitik selbst ans Tageslicht geriet und einen Sturm der Entrüstung hervorrief. Was genau in den Wochen davor passierte, in denen auch Heiko Maas informiert war, weiß auch wieder keiner so genau, denn Maas spricht von deutlichem Abraten, Range kann sich nur an wage Hinweise erinnern, keinesfalls an eine ernsthafte Warnung und an deutliche Zweifel.
Wie viele andere wüsste ich gern, was da genau gelaufen ist und ob unser Justizminister die Pressefreiheit auch dann vehement verteidigt hat, als noch nicht jeder dabei zuschaute. Ich habe deshalb über www.fragdenstaat.de eine Anfrage an das Bundesjustizministerium gestellt, mit der Bitte um Herausgabe der Kommunikation zwischen dem GBA und Heiko Maas (siehe: https://fragdenstaat.de/anfrage/kommunikation-zwischen-heiko-maas-bjm-und-gba-runge-zu-landesverrat-ermittlungen-gg-netzpolitik/). Ich bin gespannt auf die Antwort, die offenbar auf anderen Wegen nicht erhältlich ist.
Aber neben einer Aufklärung des gesamten Sachverhaltes, sehe ich noch eine ganze Menge weiteren Handlungsbedarf:
1) Die Ermittlungen gegen Netzpolitik müssen endlich eingestellt werden!
Immer noch stehen zwei Journalisten in einem Ermittlungsverfahren wegen Landesverrat, sie gelten mithin als potenzielle Landesverräter. Dieser Zustand ist schnellstmöglich zu beenden und zwar begleitet von einer unmissverständlichen Entschuldigung der Bundesregierung wegen dieses falschen Verdachtes.
2) Jede Überwachung von Netzpolitik.org und seinen Mitarbeiter*innen ist einzustellen, vorhandenes Material ist zu löschen.
Journalist*innen können ihrer Arbeit nicht frei nachgehen, wenn sie überwacht werden. Die Überwachung von Journalist*innen führt zu einem nachgewiesenen “Chilling Effekt”. Sie stellt einen massiven Eingriff in die Pressefreiheit dar – einen Eingriff, der nicht in eine Demokratie gehört. Ergebnisse eventueller Überwachung von Netzpolitik Mitarbeiter*innen sind sofort zu löschen.
3) Endlich her damit: Whistleblowerschutzgesetz
Mehrfach gab es schon Anläufe für ein Whistleblowerschutzgesetz im Bundestag, jedes Mal erfolglos. Aber in Zeiten, in denen es mehr denn je offensichtlich ist, dass die Öffentlichkeit und selbst das Parlament wichtige Informationen über Fehlentwicklungen in einer Demokratie über Whistleblower erfahren haben, muss ihre Kriminalisierung ein Ende haben. Nicht Einschüchterung von Whistleblowern, wie es dieses unsägliche Verfahren darstellt, sondern ihre Ermutigung und rechtliche Absicherung ist durch ein demokratisches Rechtssystem umzusetzen. Leider geht der Trend bisher in die falsche Richtung. So enthält der Gesetzentwurf zur Vorratsdatenspeicherung einen Passus zur “Datenhehlerei”, der sich prima für die Kriminalisierung von Whistleblowern eignet. Sehr lesenswert zum Thema ist dabei der Text “Whistleblowing und ziviler Ungehorsam im demokratischen Verfassungsstaat” des ehemaligen Bundesrichters Dieter Deiseroth aus Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2014, S.4-9.
4) Diskurs über Überwachungsmaßnahmen des Verfassungsschutzes
Erinnern wir uns daran, worum es im Fall “Landesverrat” eigentlich ging: Netzpolitik.org hatte den Haushalt des Amtes für Verfassungsschutz veröffentlicht, aus dem hervorging, dass mehrere Millionen Euro in die massenhafte Überwachung sozialer Netze investiert werden sollen (siehe: https://netzpolitik.org/2015/geheimer-geldregen-verfassungsschutz-arbeitet-an-massendatenauswertung-von-internetinhalten/ und https://netzpolitik.org/2015/geheime-referatsgruppe-wir-praesentieren-die-neue-verfassungsschutz-einheit-zum-ausbau-der-internet-ueberwachung/). An der Verfassungsmäßigkeit dieser Art von Überwachung durch einen Inlandsgeheimdienst bestehen jedoch große Zweifel, da sie ebenfalls einen enormen Eingriff in demokratische Grundrechte bedeutet. Gerade solche Entscheidungen bedürfen daher eines intensiven Diskurses – einer parlamentarischen und einer breiten gesellschaftlichen Debatte. Erst jetzt, wo wir diese Informationen haben, können wir überhaupt eine solche Debatte führen – ohne Whistleblower, ohne die Quelle von Netzpolitik.org hätte es nie dazu kommen können, auch deshalb ist Forderung 3 so wichtig. Aber bei aller Diskussion um den Vorgang der Landesverratsermittlung sollten wir den Auslöser inhaltlich nicht aus den Augen verlieren. Wir sollten uns immer dessen bewusst sein, dass die Kombination von Massenüberwachung mit einer Einschränkung der Pressefreiheit eine geradezu archetypische Charakteristik eines undemokratischen Staatssystems ist. Wir müssen beide dieser gefährlichen Medaillenseiten gleichermaßen bekämpfen, wenn wir unsere Demokratie behalten wollen.
5) Verfolgung des Spionageverdachts gegen ausländische Geheimdienste durch Generalbundesanwalt
Der neu eingesetzte Generalbundesanwalt sollte seine Energie – anders als sein Vorgänger im Amt – nicht zur Verfolgung von Whistleblowern und Journalisten einsetzen sondern endlich in der Sache Spionageaufklärung aktiv werden. Range hat dazu immer wieder erklärt, ihm fehlten die Beweise für Ermittlungen nach Anfangsverdacht, selbst die Hinweise auf die Überwachung des Handys der Bundeskanzlerinnen fand er nicht ausreichend. Dieses eklatante Ungleichgewicht in der Behandlung von Verdachtsfällen, diese unerträgliche Unterpriorisierung der Massenüberwachung eines ganzen Landes durch einen fremden Geheimdienst sowie der offensichtliche Einsatz von Wirtschaftsspionage, muss endlich einer selbstbewussten Aufklärung weichen. Diese überfällige Ermittlung muss auch die Verwicklung deutscher Behörden und Geheimdienste in den NSA Skandal aufdecken.
6) Reform der Rechtsnormen rund um den “Landesverrat”
Der Strafbestand “Landesverrat” ist ein Relikt des Kalten Krieges, in der Form hat er sich heute überlebt. Diesbezügliche Rechtsnormen sind daher dahingehend zu überarbeiten, dass sie keine Handhabe mehr darstellen, die Pressefreiheit einzuschränken. Ein Fall wie die Ermittlung gegen Netzpolitik.org darf sich nicht wiederholen.
Kurz gefasst: es gibt noch viel zu tun. Verteidigen wir gemeinsam die hohen Ansprüche an die gelebte Demokratie in unserem Land und wiederholen unsere Forderungen, solange bis sie umgesetzt sind.
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Blog von Demokratie Plus.
Nachträgliche Konkretisierung: Bundesinnenminister de Maizière ließ erklären, dass er selbst tatsächlich erst aus der Presse von den Ermittlungen erfahren hätte. Insofern konnte er das Ermittlungsverfahren auch nicht persönlich billigen. Etliche Beamte seines Hauses hatten jedoch wochenlang Kenntnis und auch keinerlei Probleme mit den Ermittlungen gegen die beiden Journalisten. Der Bundesminister trägt natürlich trotzdem die Verantwortung für seine Behörde, für ihre Fehlentscheidungen als auch dafür, dass ihre Mitarbeiter*innen nicht in der Lage waren, Prioritäten zu erkennen und ihn über so wichtige Vorkommnisse zu informieren.

"Gesetzliches Unrecht" vs "ungesetzliches Recht" – Edward Snowden beantwortet Fragen auf Reddit

In der Nacht vom 22. auf den 23. Februar 2015 werden in den USA die Oscars vergeben. Gewinnerin in der Kategorie Dokumentarfilm wird Laura Poitras mit „Citizenfour“, einer faszinierenden Doku, die die Enthüllungen von Edward Snowden zum NSA Überwachungsskandal begleitete. Der Film ist kostenfrei im Netz erhältlich. Wer das Geld dafür hat, sollte jedoch dafür sorgen, dass es auch bei den Macher*innen ankommt oder zumindest an eine NGO spenden, die sich für deren Ziele einsetzt.

Am 23. Februar gab es einen AMA (ask me anything) auf reddit  von Laura Poitras, Glenn Greenwald und Edward Snowden. Dieses AMA ist sehr lesenswert, am spannendsten fand ich die folgende Frage von masondog13,:

What’s the best way to make NSA spying an issue in the 2016 Presidential Election? It seems like while it was a big deal in 2013, ISIS and other events have put it on the back burner for now in the media and general public. What are your ideas for how to bring it back to the forefront?

Ich finde diese Frage deshalb wichtig, weil sie auch auf uns übertragbar ist. Es ist eigentlich die generische Frage, wie man das Thema generell wieder auf die höchste politische Tagesordnung heben kann. Es gibt darauf mehrere Antworten und eine intensive Debatte. Hier ist die Antwort von Glenn Greenwald, sie bezieht sich noch sehr stark auf US Politik, aber auch auf Deutschland läßt sie sich anwenden, denn auch bei uns sind vor allem die Führungsspitzen beiden Großparteien untätig und wäre es an der Zeit, ihnen massiv das Vertrauen zu entziehen:

The key tactic DC uses to make uncomfortable issues disappear is bipartisan consensus. When the leadership of both parties join together – as they so often do, despite the myths to the contrary – those issues disappear from mainstream public debate.
The most interesting political fact about the NSA controversy, to me, was how the divisions didn’t break down at all on partisan lines. Huge amount of the support for our reporting came from the left, but a huge amount came from the right. When the first bill to ban the NSA domestic metadata program was introduced, it was tellingly sponsored by one of the most conservative Tea Party members (Justin Amash) and one of the most liberal (John Conyers).
The problem is that the leadership of both parties, as usual, are in full agreement: they love NSA mass surveillance. So that has blocked it from receiving more debate. That NSA program was ultimately saved by the unholy trinity of Obama, Nancy Pelosi and John Bohener, who worked together to defeat the Amash/Conyers bill.
The division over this issue (like so many other big ones, such as crony capitalism that owns the country) is much more „insider v. outsider“ than „Dem v. GOP“. But until there are leaders of one of the two parties willing to dissent on this issue, it will be hard to make it a big political issue.
That’s why the Dem efforts to hand Hillary Clinton the nomination without contest are so depressing. She’s the ultimate guardian of bipartisan status quo corruption, and no debate will happen if she’s the nominee against some standard Romney/Bush-type GOP candidate. Some genuine dissenting force is crucial.
Edward_Snowden-2-CCBY3-wikicommons

„Edward Snowden-2“ von Laura Poitras / Praxis Films. Lizenziert unter CC BY 3.0 über Wikimedia Commons – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Edward_Snowden-2.jpg#mediaviewer/File:Edward_Snowden-2.jpg


Viel interessanter finde ich die Antwort von Edward Snowden, denn sie greift den immer wieder entstehenden Grundwiderspruch zwischen gesetzlichem Unrecht und ungesetzlichem Recht auf. Diese Beschreibung einer inneren Pflicht, dem eigenen moralischen Kompass zu folgen, auch wenn dies Verstöße gegen aktuell geltendes Recht bedeutet, ist auf jedes Land und jede Zeit übertragbar. Seine Beispiele aus der Geschichte reichen von Extremen wie dem Naziregime und der Sklaverei bis zu weniger plakativen Rechtsbrüchen, etwa gegen das Mariahuana-Verbot – in all diesen Fällen zeigen Geschichte oder Gegenwart, wie sich Recht verändern kann, auch und gerade durch zivilen Widerstand.
Sein Appell, dass eine staatliche Allmacht solchen zivilen Widerstand künftig im Keim ersticken und damit die eigene Veränderungsfähigkeit des Staates im Kern gefährden kann (und wird), richtet sich an uns alle. Er beschreibt eindringlich, warum unter bestimmten Rahmenbedingungen ziviler Ungehorsam zur Pflicht wird. Nachfolgend die Antwort von Edward Snowden im Wortlaut:

This is a good question, and there are some good traditional answers here. Organizing is important. Activism is important.
At the same time, we should remember that governments don’t often reform themselves. One of the arguments in a book I read recently (Bruce Schneier, „Data and Goliath“), is that perfect enforcement of the law sounds like a good thing, but that may not always be the case. The end of crime sounds pretty compelling, right, so how can that be?
Well, when we look back on history, the progress of Western civilization and human rights is actually founded on the violation of law. America was of course born out of a violent revolution that was an outrageous treason against the crown and established order of the day. History shows that the righting of historical wrongs is often born from acts of unrepentant criminality. Slavery. The protection of persecuted Jews.
But even on less extremist topics, we can find similar examples. How about the prohibition of alcohol? Gay marriage? Marijuana?
Where would we be today if the government, enjoying powers of perfect surveillance and enforcement, had — entirely within the law — rounded up, imprisoned, and shamed all of these lawbreakers?
Ultimately, if people lose their willingness to recognize that there are times in our history when legality becomes distinct from morality, we aren’t just ceding control of our rights to government, but our agency in determing thour futures.
How does this relate to politics? Well, I suspect that governments today are more concerned with the loss of their ability to control and regulate the behavior of their citizens than they are with their citizens‘ discontent.
How do we make that work for us? We can devise means, through the application and sophistication of science, to remind governments that if they will not be responsible stewards of our rights, we the people will implement systems that provide for a means of not just enforcing our rights, but removing from governments the ability to interfere with those rights.
You can see the beginnings of this dynamic today in the statements of government officials complaining about the adoption of encryption by major technology providers. The idea here isn’t to fling ourselves into anarchy and do away with government, but to remind the government that there must always be a balance of power between the governing and the governed, and that as the progress of science increasingly empowers communities and individuals, there will be more and more areas of our lives where — if government insists on behaving poorly and with a callous disregard for the citizen — we can find ways to reduce or remove their powers on a new — and permanent — basis.
Our rights are not granted by governments. They are inherent to our nature. But it’s entirely the opposite for governments: their privileges are precisely equal to only those which we suffer them to enjoy.
We haven’t had to think about that much in the last few decades because quality of life has been increasing across almost all measures in a significant way, and that has led to a comfortable complacency. But here and there throughout history, we’ll occasionally come across these periods where governments think more about what they „can“ do rather than what they „should“ do, and what is lawful will become increasingly distinct from what is moral.
In such times, we’d do well to remember that at the end of the day, the law doesn’t defend us; we defend the law. And when it becomes contrary to our morals, we have both the right and the responsibility to rebalance it toward just ends.
Auch viele der Kommentare lohnen die Lektüre. Unter anderem zitiert Pimpson17 Martin Luther King aus einem seiner Briefe (Gefängnis Birmingham):

„How can you advocate breaking some laws and obeying others?“ The answer lies in the fact that there are two types of laws: just and unjust. I would be the first to advocate obeying just laws. One has not only a legal but a moral responsibility to obey just laws. Conversely, one has a moral responsibility to disobey unjust laws. I would agree with St. Augustine that „an unjust law is no law at all.“

Edward Snowden antwortet auch auf eine Frage nach der Glaubwürdigkeit Rußlands hinsichtlich geheimdienstlicher Kommunikationsüberwachung mit einer allgemeingültigen Antwort. Lest selbst:

To tag on to the Putin question: There’s not, and that’s part of the problem world-wide. We can’t just reform the laws in one country, wipe our hands, and call it a day. We have to ensure that our rights aren’t just being protected by letters on a sheet of paper somewhere, or those protections will evaporate the minute our communications get routed across a border. The only way to ensure the human rights of citizens around the world are being respected in the digital realm is to enforce them through systems and standards rather than policies and procedures.

Da hat er einen Punkt. Das heißt nicht, dass wir nicht für Policies und Procedures und natürlich ihre Einhaltung kämpfen sollten, aber ein Schutz, der technisch garantiert wird, ist vermutlich verläßlicher und auf jeden Fall nicht nur innerhalb bestimmter Landesgrenzen gewährt. Nationales Recht bietet keinen ausreichenden Schutz mehr in einer grenzüberschreitenden, digitalen Gesellschaft.
Allerdings hat Ed Snowden manchmal auch mehr Fragen als Antworten. Etwa wenn es darum geht, warum von staatlicher Seite so wenig gegen die ausufernde Überwachung passiert. Snowdens Kernaussage: Wenn wir mächtige politische Entscheider nicht für ihren Machtmißbrauch verantwortlich machen (können), enden wir in einer Gesellschaft, wo solches Verhalten NACH den Wahlen belohnt wird:

One of the biggest problems in governance today is the difficulty faced by citizens looking to hold officials to account when they cross the line. We can develop new tools and traditions to protect our rights, and we can do our best to elect new and better representatives, but if we cannot enforce consequences on powerful officials for abusive behavior, we end up in a system where the incentives reward bad behavior post-election.
That’s how we end up with candidates who say one thing but, once in power, do something radically different. How do you fix that? Good question.
Ich kann hier natürlich nicht das ganze, sehr umfangreiche AMA wiedergeben, aber eine gute Frage plus Antwort müssen hier noch rein. Nutzer kingshav wollte wissen:

Mr Snowden, do you feel that your worst fear is being realized, that most people don’t care about their privacy?

Diese Frage stellen wir uns ja alle, auch in Deutschland und oft können wir in Medien lesen: ja, die Überwachung interessiert kein Schwein mehr. Edward Snowden sieht das anders, es ist den Menschen nicht egal, aber sie tun momentan nichts, weil sie sich ohnmächtig fühlen. Aber er sieht Licht am Horizont und eine fundamentale Veränderung kommen. Folgerichtig ist auch seine Bewertung der Gesamtlage eine andere. Sie ist erstaunlich optimistisch und unterscheidet sich daher nennenswert von den vielen pessimistischen Untergangszenarien, die für unsere Freiheit bereits allenhalben beschrieben werden. Sie ist ein gutes Ende für diesen Blogpost, denn auch ich glaube an die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, Freiheit und Privatsphäre auch in einer digitalen Gesellschaft erfolgreich zu verteidigen bzw. zurückzuerobern. Hier seine Antwort im Wortlaut:

To answer the question, I don’t. Poll after poll is confirming that, contrary to what we tend to think, people not only care, they care a lot. The problem is we feel disempowered. We feel like we can’t do anything about it, so we may as well not try.
It’s going to be a long process, but that’s starting to change. The technical community (and a special shoutout to every underpaid and overworked student out there working on this — you are the noble Atlas lifting up the globe in our wildly inequitable current system) is in a lot of way left holding the bag on this one by virtue of the nature of the problems, but that’s not all bad. 2013, for a lot of engineers and researchers, was a kind of atomic moment for computer science. Much like physics post-Manhattan project, an entire field of research that was broadly apolitical realized that work intended to improve the human condition could also be subverted to degrade it.
Politicians and the powerful have indeed got a hell of a head start on us, but equality of awareness is a powerful equalizer. In almost every jurisdiction you see officials scrambling to grab for new surveillance powers now not because they think they’re necessary — even government reports say mass surveillance doesn’t work — but because they think it’s their last chance.
Maybe I’m an idealist, but I think they’re right. In twenty years‘ time, the paradigm of digital communications will have changed entirely, and so too with the norms of mass surveillance.
Laßt uns alle Idealisten sein und daran glauben, denn nur wenn man eine mögliche Vision vor dem inneren Auge sehen kann, findet man die Kraft für sie zu kämpfen. Wer jedoch keine Hoffnung mehr hat, wird auch nicht kämpfen, und wer nicht kämpft, hat bekanntlich schon verloren. Es ist noch nicht zu spät, etwas dafür zu tun, dass unser aller Zukunft keine schwarze wird.

Erster Europäischer Mauerfall – das würdigste Gedenken zum 25. Mauerfall-Jahrestag

Das Zentrum für Politische Schönheit wird am 9. November 2014 den Ersten Europäischen Mauerfall inszenieren, als Kunstaktion an der „größten Bühne der Welt“ – an den europäischen Außengrenzen.

„Während in Berlin Ballons in die Luft steigen und nostalgisch-sedierende Reden gehalten werden, wird die deutsche Zivilgesellschaft in einem Akt politischer Schönheit die europäischen Außenmauern zu Fall bringen.“ (Zentrum für Politische Schönheit)

Was haben denn deutsche Mauertote, die beim Verlassen eines Landes (der DDR) getötet wurden, zu tun mit Menschen, die beim Betreten einer Landesgrenze in die andere Richtung zu Tode kommen? Sterben beim Ausreisen ist doch überhaupt nicht vergleichbar mit Sterben beim Einreisen! Ü.B.E.R.H.A.U.P.T. N.I.C.H.T. Sagen jedenfalls ganz viele und, dass ein Vergleich der mehr als 23.000 Toten an Europas Grenzen in den letzten 14 Jahren mit den vermutlich mindestens 138  Maueropfern, (andere Quellen nennen über 1000 Tote), die in den 28 Jahren der deutsch-deutschen Mauer ums Leben kamen, sich verbietet – weil es das Gedenken an die letzteren verunglimpft, oder DDR Unrecht verharmlost.

Mein Mann Daniel Domscheit-Berg kurz vor dem Aufbruch zum Ersten Europäischen Mauerfall am Gorki-Theater Berlin, 7.11.2014

Mein Mann Daniel Domscheit-Berg kurz vor dem Aufbruch zum Ersten Europäischen Mauerfall am Gorki-Theater Berlin, 7.11.2014


Ich kann mit dieser Kritik nichts anfangen. Die Argumentation ist mir schleierhaft. Welchen Unterschied macht es für einen Menschen, wenn er oder sie beim Ein- oder Ausreisen an einer Grenze stirbt? Welchen Unterschied macht es für die Hinterbliebenen? Ist nicht in beiden Fällen eine Einschränkung der Reisefreiheit ursächlich für das Lebensrisiko beim Grenzüberschreiten? Ist nicht in beiden Fällen der Wunsch nach einem besseren Leben (nach in allen Fällen sehr individueller Interpretation dessen, was das jeweils bedeutet) die Motivation für den Mut, es trotz Lebensgefahr einfach zu versuchen?
Natürlich weiß ich, dass die Berliner Mauer ein perfides Konstrukt war, um die Bevölkerung einzusperren. Ich war eine der Eingesperrten und ich finde nichts daran verharmlosungswürdig. Aber für mich gibt es keine mehr oder weniger wichtigen Grenztoten. Ich finde JEDEN Tod an einer Grenze nicht nur unnötig sondern zutiefst unmenschlich und absolut unvereinbar mit dem Artikel 1 unseres Grundgesetzes, das sich bekanntlich nicht nur auf deutsche Staatsangehörige bezieht. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jedes Menschen. Die Art und Weise, wie die europäischen Außengrenzen „gesichert“ werden, ist eine extreme Verletzung der Würde von Menschen, die aus unhaltbaren Zuständen fliehen, um woanders ein würdevolleres Leben führen zu können. Hunger, Krieg und bittere Armut verjagen sie aus ihrer Heimat. Zustände, an denen der Reichtum der westlichen Teil einen sehr großen Teil zu verantworten hat. Unsere Antwort darauf ist eine Grenzkonstruktion, die durch ihr Design und das verwendete Material nicht nur Unüberwindbarkeit als Ziel hat, sondern offenbar auch schwere Verletzungen bis hin zum Tod – um abzuschrecken.
Ein Stück Natostacheldraht am Gorki-Theater, vor dem Start der Busse zum Europäischen Mauerfall

Ein Stück Natostacheldraht am Gorki-Theater, vor dem Start der Busse zum Europäischen Mauerfall


Mit Verlaub, ich finde das widerlich. Ich schäme mich dafür, wieder in einem Land – als Teil der Europäischen Union – zu leben, in dem man ganz bewußt in Kauf nimmt, das Menschen, die aus Not von woanders her fliehen, an unseren Grenzen sterben. Ich könnte kotzen bei der Vorstellung. Leider ist das aber tägliche Realität. Ja, jeden Tag sterben Menschen an unseren Grenzen – WEGEN dieser Grenzen. Während der Lektüre dieses Textes ist vielleicht jemand im Mittelmeer ertrunken, weil das Fluchtboot nur eine Nußschale war oder ein Grenzbewacher mit Gummigeschossen auf Flüchtlinge schoss. Oder es stürzte jemand an der spanischen Außengrenze beim Versuch den 7 meter hohen Zaun zu überklettern in den Nato-Stacheldraht, der mit geschliffenen Metallschneiden besetzt ist,  oder auf die andere Seite in ein Drahtgeflecht, wo zusätzlich reizende Flüssigkeiten aus automatischen Spritzanlagen am danach stehenden, fast 6 meter hohen Zaun in die offenen Wunden dringt. Das ist keine Fantasie. Solche haarsträubenden Zustände herrschen wirklich an den Außengrenzen unserer demokratischen Europäischen Union. Wir investieren sogar Millionen in den Ausbau dieser tödlichen Konstrukte.
schematische Darstellung der "Grenzsicherungsanlagen" bei Melilla, Spanien. Quelle: Zentrum für Politische Schönheit

schematische Darstellung der „Grenzsicherungsanlagen“ bei Melilla, Spanien. Quelle: Zentrum für Politische Schönheit


Ich finde es daher völlig angemessen und eine besonders gute Art des Mauerfall-Gedenkens vom Zentrum für Politische Schönheit, sich nicht nur der Nostalgie hinzugeben und davon zu schwärmen, wie großartig es war, durch Widerstand der Massen und diverse glückliche Umstände für 16 Mio DDR Bürger*innen die Freiheit zu erringen und die Mauer einzureißen sondern aus der Geschichte für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen und das Gelernte auf das Leben zu übertragen.

Eine solche Lektion heißt: tödliche Grenzen sind unmenschlich und mit demokratischen Grundwerten nicht vereinbar, sie gehören eingerissen.

Erster Europäischer Mauerfall - YouTube Film des Zentrums für Politische Schönheit (with engl. subtitles)

Erster Europäischer Mauerfall – YouTube Film des Zentrums für Politische Schönheit (with engl. subtitles)


Das Argument: „aber dann kommen doch Abermillionen Afrikaner*innen!!!EinsElf!! und was machen wir dann?!“ kann ich nicht gelten lassen, denn wie schon zitiert, die Würde des Menschen ist unantastbar. Immer. Man tötet einfach nicht. Niemanden. Nicht direkt aber auch nicht indirekt. Wenn wir dazu beitragen, dass woanders das Leben nicht mehr lebenswert ist, und Menschen deshalb Strapazen auf sich nehmen, um ihre Heimat zu verlassen, dann sollten wir uns endlich einmal aufrichtig fragen, wie wir das ändern können. Wir wir unser Leben so leben können, dass nicht unseretwegen woanders Not und Armut herrschen anstatt immer noch tötlichere Grenzanlagen zu bauen, damit auch ja die Ärmeren alle draußen bleiben.
Die westliche Welt verursacht den größten Anteil des Klimawandels, aber die dadurch ausgelösten Katastrophen haben vorwiegend Menschen in anderen, ärmeren Ländern zu ertragen. Wir exportieren die Waffen, mit denen in allen Kriegs- und Konfliktgebieten dieser Welt Menschen getötet werden. Wir kaufen die Billigjeans, die in Bangladesh in brüchigen Fabriken unter finstersten Bedingungen genäht werden. Wir verschenken die Blumen, die in Lateinamerika mit soviel Gift gezüchtet werden, dass dort die Schwangeren ihre Babies verlieren. Wir tanken den Biosprit, für den Ackerflächen gebraucht werden, auf denen früher Nahrungsmittel wuchsen, die jetzt andernorts fehlen. Wir tragen goldene Ringe und telefonieren mit Handies, an denen das Blut von Kindern klebt, die die dafür notwendigen Rohstoffe aus der Erde kratzen. Diese Liste ist leider beliebig lang fortsetzbar.
Eindringliche, wunderschöne Musik gabs am Gorki-Theater zum Start der Aktion Europäischer Mauerfall, der auch Start des Festivals Voicing Resistance war

Eindringliche, wunderschöne Musik gabs am Gorki-Theater zum Start der Aktion Europäischer Mauerfall, der auch Start des Festivals Voicing Resistance war


Wir sind ohne eigenes Zutun an der günstigeren Stelle der Welt geboren worden und meinen daraus ableiten zu können, dass wir mehr Wert sind und einen höheren, gewissermaßen naturgegebenen Anspruch auf die Reichtümer dieser Welt haben. Aber so ein Denkansatz ist purer Egoismus, er führt in gerader Linie zu den Grenzanlagen der EU-Außengrenzen. Wer von Euch würde einem Hungernden die Schale Essen wegnehmen oder einer Verdurstenden die Flasche Wasser aus der Hand schlagen? Wer würde ein Kind zurück in die Schußlinie zwischen verfeindeten Rebellen schubsen? Niemand mit Herz würde das fertig bringen. Aber diese Grenzanlagen haben das gleiche Ergebnis. Mit dem komfortablen Nebeneffekt, dass wir die Not nicht mehr sehen müssen und unsere Hände in Unschuld baden können. Dass wir nachts schön in unseren weichen und sauberen Betten schlafen können, weil uns nicht die Bilder der Hungernden, Durstenden und Traumatisierten verfolgen, die wir ausgestoßen und sich selbst überlassen haben. Wir schließen wie kleine Kinder die Augen und denken, dann ist das Problem nicht mehr da. Aber wir sind groß und wissen, dass das Unsinn ist. Das Problem ist da. Es einfach aussperren führt leider nie zu einer Lösung.
Kein Mensch ist illegal... Aufnahme vom Start zum Ersten Europäischen Mauerfall am Gorki-Theater Berlin, 7.11.2014

Kein Mensch ist illegal… Aufnahme vom Start zum Ersten Europäischen Mauerfall am Gorki-Theater Berlin, 7.11.2014


Wir müssen endlich kreativer werden, unsere enormen Ressourcen diesen Problemlösungen widmen und uns endlich daran erinnern, dass wir ALLE Menschen sind, die etwas verbindet, eine globale Empathie, ein Band aus Menschlichkeit. Würden wir gemeinsam an den Problemen dieser Welt arbeiten, wir hätten sie längst gelöst oder wären ihrer Lösung schon sehr nahe gekommen. Hunger ist kein Naturgesetz. Krieg auch nicht. Auch nicht Ebola.
Daran möchte ich an diesem 9. November, 25 Jahre nach dem Mauerfall gern erinnern. An die Notwendigkeit von Menschlichkeit, von Reisefreiheit und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Ich bin stolz auf alle, die die Idee mit dem Europäischen Mauerfall hatten und ihre Umsetzung durch Spenden ermöglichten (Spenden geht immer noch!)  und vor allem auf die, die die Risiken und Strapazen auf sich nahmen, mit zwei Bussen Tausende von Kilometern zurückzulegen, um mit Bolzenschneidern in einer Zweiten Friedlichen Revolution dem unmenschlichen Bollwerk zuleibe zu rücken. Mein Mann ist einer dieser Reisenden. Ich hoffe, er und alle anderen kommt unbehelligt zurück.
Ausschnitt ZDF Aspekte vom 7.11.2014

Ausschnitt ZDF Aspekte vom 7.11.2014 – im Bild einer der beiden Reisebusse, noch bewacht von Polizei, sowie Teilnehmende der Aktion Europäischer Mauerfall


Neben den neuen Mauern an Europas Außengrenzen gibt es noch viele andere Grenzen, an denen Menschen sterben. Egal ob in Mexiko, Israel oder Nordkorea: sie alle müssen weg.
Mehr zur Aktion:

Hintergrund zum Thema:

Medienberichte (Inland):

Medienberichte (Ausland):

 

English Version Part 7: My Diary from Autumn 1989 – My First Time in the WEST – 13th Nov.1989

„It was so unbelievable, you pass through it as if yesterday, there had not been a death field with mines, electric barbed wires and and and, everybody passed by, just like that, it was totally normal. The reception war equally indescribable. Total strangers hugged each other. Westberliners clapped, everybody laughed and cried. Never in my life I will forget this.“
This is the English Version, the German version is HERE.
My Diary notes of 13th November 1989
This is part 7 of my series „My diary – 25 years ago – Autumn 1989“. Earlier parts are linked at the end of this post, as well as documents, old fotographs, and my book „Mauern einreißen!“ („Tearing down walls“ LINK). However, except for the diary parts, all the other pages are in German… I took out some parts which are private, you will recognise this at „(…)“, explanations come in brackets with my initials: „(ADB: explanation)“ or (= explanation). More detailed explanations will be found in footnotes (numbers in brackets) at the end of this post.

***

Today is the 13th Nov 89, 11:15, Main Station on Monday
I still don’t get it, one hour ago I sat down in the S-Bahn Charlottenburg…coming from Riki (1) where I lived a weekend. Such a full one, crazy, indescribable, God, give me words to express the extent of emotions – impossible. Trying?

So eine Zählkarte hatte ich noch für den Grenzübertritt am 11.11.1989 ausfüllen müssen, sehen wollte sie aber dann doch keiner mehr an der Grenze...

Such a „Counting Card“ I had to fill in to cross the border at 11th Nov. 89, however, nobody ever wanted to see it at the actual border

After the sadness on Thursday, washing on Friday morning (2), U. comes into the bath and is beaming – well, what are you saying to our victory? – I did’t know anything, then he talks about the Wall-atrophy… I run to the radio and hear it myself, everybody is allowed to go to the West, just like they want. Unfathomable. With G. I ran immediately to the Police and in 1 hour, we had our Visa. (3) This day was over. Not a bit Design done. Breakfast celebrated with G., one little Liquor was drunken. Called home and sent the parents to the police. Skipped History of Art (-lesson) and drove home. Riki had already gone home. Saturday morning by car off to the new border crossing Bernauerstrasse – Brunnenstrasse, the father pushed his way through, we stood 1 hour, the queue was endless, but it moved forward all the time. Just holding your ID card up. Around us, broken walls, construction workers, border personnel. I was beaming at one of them – they too are happy now, in spite of the stress.
zaehlkarte-RS

On top of the Wall sat West-Berliner youngsters, clapping their hands and waving, I was tearing up too. Everywhere those Westberliners, laughing, waving, uncountable TV teams (maybe M. saw me?). A woman was giving away Nimm-2 sweets, another one roses, white and red, Kaiser (=super market chain) distributed Kaiser-Coffee and chocolate – we looked for a bus and then drove by S-Bahn to Riki. We arrived at lunch time. What a turmoil, so many people. Even the buses are much nicer, the Wall is so colourful, „sauer macht lustig, Mauer macht frustig“ (=literally translated: „sour makes you happy, wall frustrates you“), funny slogans everywhere. Riki lives in front of the Aztec (=jewellery shop), in the Hektorstreet, close to the Ku’damm, very close. A nice old buildings corner, 4th floor, giant windows (in the entire quarter), view over the roof tops, beautiful. A bright, uncomplicated appartment, adorable. Amazing pictures, 2 cats…nice. Son Emil with long hair, 20 years old, a to-be-percussionist. I had a room just for me. My parents went back home at night. Before, we (me on my own) strolled the Ku’damm up and down. I met Simone G. (=class mate) in the Ku-eck in an Indian shop – the world is small (…) Müncheberg (=my home and school town) is everywhere.

Genau an dieser Stelle - direkt hinter dem Brandenburger Tor - war ich mit meiner Mutter auf die Mauer geklettert. Ein unvergesslicher Moment in einer euphorischen Menge. Magie eines Augenblicks. Foto: Wikipedia Commons, Link: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Thefalloftheberlinwall1989.JPG, Autor unbekannt, Reproduktion: Lear 21 von einer Fotodokumentationswand des Berliner Senats

Right at this place – directly behind the Brandenburg Gate – I stood with my mother on top of the Wall. An unforgettable moment in an europhoric mass of people. A magical moment. Pic: Wikipedia Commons, Link: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Thefalloftheberlinwall1989.JPG, Author unknown, Reproduction: Lear 21 from a public foto documentary wall of the Berlin Senate

At 6pm we met at Riki’s place and had dinner at an Italian, at the street which is the prolongation of the Strasse des 17. Juni. The waiters were running, with red aprons, the food was heaven, the Chianti rosso was great and quite strong. The father had calamari (in rings), Riki and my mother had a giant pasta plate with fillings, mushrooms and sauces. I had a pizza calzone with mushrooms, cheese and ham. Starters were fennel, filled pepper, olives, pickled trout (fantastic), artichokes, somehow treated tomatoe (unidentifiable) (4), filled mushrooms, heavenly. I thought I would burst, it felt pity for every bit leftover. We ate everybody from everything, the pasta was the best of all. The waiters whizzed and were beaming. Once we had been replaced at another table, it was so busy there. Riki invited us. Unforgettable everything. Viva la vita, viva l’amore – the waiter when I said something about moving to another table: „that brings life into the house“, so amazing, everything.
When we were leaving, the restaurant owner stopped us at the exit, whether we would not want an amaretto or the likes as a good-bye drink – we were easily convinced, lead to the back of the restaurant and the owner treated everyone of us to a drink, a sambucco for me (anis, lighted, fine and sweet), amaretto for the father, champaign for the mother. The boss was thrilled to have us, he had only slept 2 hours, went at 3am after work to the Wall to watch (5). Everything was so funny. I look forward to the Italian G. (=pen friend, he had invited me).
Time was flying. The parents went home, I was studying maps with Riki. M. lives north of New York, not too far. Boston is not far neither. Riki’s son will soon be half a year in Hollywood, at school, thats in California. I look so much forward to travelling! Padua (= where my pen friend lived) is very close to Venice – a dream! In Amsterdam, I even found the Helmerstraat of Wiel (=dutch pen friend), a long street. Amsterdam makes a decent impression. I slept like an angel and only dreamt of Italians, waiters who were running in the courtyard, serving. (…) I wanted to get to Leipzig already yesterday. I will just come today, hopefully they (=my friends) are still there. I will still make it to the demo (=THE mondays demo). Tonight we want to celebrate. (…). I will now go to Schoeneweide, surely have some more time there.

***

(1) This is the westberliner documentary film maker Riki Kalbe, a friend of my mother, with whom we enjoyed a close friendship. She documented the changes around the Potsdamer Platz after the Fall of the Wall with fotographs. Riki was affectionate and had a great sense of humour, but she died in 2002 far too early, after already her son Emil, a talented musician, had died at age 30. My memories of the Fall of the Wall in 1989 will forever be connected with Riki and her contagious laughter, her hospitality and with inner pictures e.g. of fotographs she had taken and turned into post cards, or maps which hang at her walls in her appartment, or of the small kitchen, in which beautiful ceramics piled up and where we enjoyed turkish coffee and red wine.

Unser alter Waschraum im Wohnheim der Fachschule für Angewandte Kunst in Ober-Schlema/Erzgebirge

Our old wash room at the dormitory of the Art School in Ober-Schlema/Erzgebirge

(2) There was a common wash room in our student dormitory, a wooden barack. I meant this – unisex – wash room in my diary. It was, however, no more the old wash room, which you see at the picture above, but a new one, with real tiles at the walls and tiled shower cabins, not a steel-sheet cabin like the one we had in my earlier study years (where you see a fellow student stepping out).
(3) In the news they said that you need a stamp from the police, hence we went to the registration office, which belonged to the Police to get this type of visa. We also got a „Counting Card“, which I filled in but which nobody ever wanted to see when I passed the border to the West.
(4)  My very first italian meal….even until today the most delicious italian food I ever tasted. Maybe also because of the circumstances, but it really was heavenly. I described the food with so much detail, because none of them were available in East Germany. No Calamary, no filled mushrooms. And I had no idea how dried tomatoes look, thats why I described them as „unidentifiable“.
(5)  Only at our leaving the restaurant owner noticed that we had been coming from the East and had had our first western meal. Thats why he invited us in again, to celebrate together. It was a magic moment of joint happiness.

***

This is my last post of the series „my diary 25 years ago“, as a bonus, below a postcard,which I wrote a few days after the Fall of the Wall to a friend in West Germany. She gave it back to me years later with some other letters from this time, as a memory, and I am very thankful she did!

Dear Elisabeth,               – 19th Nov.1989, Schlema
before I sneak into my bed, some few lines. Firstly, many thanks for the Havel-article, maybe nowadays nothing is disappearing anymore? You surely heard what happens here at our side, its coming thick and fast. The euphoria was big. Already at the 10th of November (=it was actually the 11th) we sat in the car to be witnesses in Berlin of the unimaginable to be the truth. Funnily, I wandered through the former Wall, freshly broken through, at exactly 11:11 o’clock. I cannot describe emotions, absolutely impossible. Like many others I fought back my tears.

It was so unbelievable, you pass through it as if yesterday, there had not been a death field with mines, electric barbed wires and and and, everybody passed by, just like that, it was totally normal. The reception war equally indescribable. Total strangers hugged each other. Westberliners clapped, everybody laughed and cried. Never in my life I will forget this. Hopefully, it was not too early, I fear an economic catastrophe. In W-Berlin they have already exchange rates of 1:20, what will happen to our GDR-Mark? Hopefully we get over the winter. Apropos, you invited me so often, I would really like to come. I only have time off in December, than again in summer. Would it be possible between 27th and 30th Dec.? If you already have visitors or prefer to be on your own at this time of the year, I of course understand. I would drive in the night and arrive in the morning in FFM. It would be so nice. All the best and greetings to all,
Anke

This was the 7th and last part of my little series of diary entries of the revolutionary autumn 1989. Should you want to read more from me about my time in East Germany, you can read my book „Tearing down Walls“ (original title „Mauern einreißen!“) which only exists in German so far.
Further Information around the Fall of the Berlin Wall ’89:

For German versions, see HERE.

English Version Part 6: My Diary from Autumn 1989 – The Berlin Wall is falling – 09th Nov.1989


„Today, today several hours ago the news – border of the GDR opened! Emigration within 24 hours, private trips from today onwards with just 1-2 weeks notice possible. Unbelievable. Big joy? Big sadness, incomprehensible? – Every hour 3.500 emigrants, every hour!! Alas, they all leave us.“

This is the English Version, the German version is HERE.
My Diary notes of 9th November 1989
This is part 6 of my series „My diary – 25 years ago – Autumn 1989“. Earlier parts are linked at the end of this post, as well as documents, old fotographs, and my book „Mauern einreißen!“ („Tearing down walls“ LINK). However, except for the diary parts, all the other pages are in German… I took out some parts which are private, you will recognise this at „(…)“, explanations come in brackets with my initials: „(ADB: explanation)“ or (= explanation). More detailed explanations will be found in footnotes (numbers in brackets) at the end of this post.

***

9th Nov. 89 – 0:15, student dormitory, Friday
Brother lost? (1) Today, today several hours ago the news – border of the GDR opened! Emigration within 24 hours, (and) private trips from today onwards with just 1-2 weeks notice possible.

My diary entry from the 9th Nov. 1989

Unbelievable. Big joy? Big sadness (2), incomprehensible? – Every hour 3.500 emigrants, every hour!! Alas, all leave us. Is Kuno (=my brother) still here after all? The (people from the) Demokratischer Aufbruch (= oppositional group (3)) went to the border crossings and tried to convince people to stay here. Everybody leaves, in masses, everything breaks down. Continuously new resignations (4), everything is coming thick and fast.

At this radio recorder I heard and taped the news on the East German border at the evening of 9th Nov. 1989

At this radio recorder I heard and taped the news on the East German border at the evening of 9th Nov. 1989

New Year in Italy? (5) How is Sebastian? (6) Such news and he there, inside (=the prison), important times. Historic times. Berlin demonstration of millions unforgettable. Banner slogans contemporary documents. Next to me, Cesar is purring, our 3rd dormitory cat, next to Susi and Detlef. K. is like exchanged, so kind. Ach. We will request a 6 months study interruption to work in the production. We already volunteered to help out in health care as temps. In KMST (=Karl-Marx-Stadt, today City of Chemnitz) they want to “try” to keep up the Dispensaire-care, the DMH (DMH = Dringliche Medizinische Hilfe = emergency care) and the intensive care, all the rest is gravely underserved, the staff barely ever has time off. Will it help to ease the situation for the doctors? Working in a company or an old-age home – good for the people, true, earning some money at the same time for travels. In the summer to the US? Can I afford the passage? M. invites me, such a kind soul! Visiting France? Mediterranean Sea, the Netherlands, all people (=means my friends (7)), Tunisia, Luanda, where to get the vacation days from, where the money?? I have a longing to (go) everywhere, but to come back.
Anke

***

(1) My brother had filed for emigration and as I already wrote earlier in my diary, I feared to never see him again should he get his emigration approved. Hence the news meant for me something important: my brother is NOT lost, regardless of him emigrating or not, I will be able to see him again!

Selbstportrait, entstanden am 11.09.1989 unter dem Eindruck von Grenzöffnung und Massenflucht

Self portrait, painted with ink at the evening of 9th Nov. 1989 under the impression of the East German border opening and the immediate mass emigration

(2) That with the „big sadness“ today, only few people will understand, but it was indeed like that. I had very ambivalent feelings. The alternative of which I had dreamt, „The Third Way“ of a democratic socialism, which I and many other oppositionals imagined, had all of a sudden become obsolete with the Fall of the Wall. It was apparent that no more masses will go marching in the streets for this goal. Besides this, the news also told of an emigration-tsunami, with an immediately starting mass flight which concerned me a lot. Thats why I was not only happy but also sad at this evening. We had not only fought for freedom of travels but for a bigger whole. When I heard the news of the border opening, I had been drawing self portraits for the subject Life Drawing. My ambivalent emotions are easy to recognize in these pictures, painted with reed pen and ink. They are not very beautiful … but impressive.  
(3) The Demokratische Aufbruch (DA) was one of the many oppositional groups in the GDR. It only existed from Oct. 1989 until August 1990 and is mainly known for its personnel issues. Within the GDR opposition, the DA was a rather conservative stream. Its press speaker was e.g. Angela Merkel (yes, its her). Its last president Rainer Eppelmann had not only a seat at the Round Table in Berlin but also became a Minister in the first freely elected government in East Germany in 1990. Rather famous AND notorious was the first president of the DA, Wolfgang Schnur, a lawyer, whos telephone number I also got when I was seeking legal assistance for my friend Sebastian. I called this number many times but since I was lucky, nobody ever picked up. It turned out later, that Schnur was a long time Stasi spy and diligently reported on the inner circles of the opposition. This cost him his job as president of the Demokratischer Aufbruch and made the post available for Rainer Eppelmann. In August 1990, the Demokratischer Aufbruch ceased to exist as an independent party and fusioned with the East-CDU (christian democrates party), which in October 1990 fusioned with the West German CDU. Thats how Angela Merkel came from the Demokratischer Aufbruch to the CDU, her first step towards the Chancellerie…

So signierte ich die 6-7 Selbstportraits auf der Rückseite, die am 09. Nov. 1989 entstanden

This is the signature at the back of the 6-7 self portraits I created at 9th Nov. 1989, the two words mean: „Mass Flight“ and „Border Opening“

(4) The most important resignation was of course that of Erich Honecker, the president of the Staatsrat, at 18th Oct. 1989, further members of the Politbuerau followed. The culmination point of the bacchanal of resignations was the step down of Erich Mielke, Chief of the Stasi, at 7th Nov. 1989, together with the government around Willi Stoph (president of the Ministers Council). At the next day, the 8th Nov. 1989, the remaining members of the Politbureau of the Central Committee of the SED party resigned. Unforgettable is the (last?) appearance of Erich Mielke in the GDR Volkskammer-Parliament, where he declared in front of laughing MPs (and the rest of the world) that he loved them all… „Yes, I love, I DO love all… all people… I do love…“ The tears are tripping me… (Video – german – on  YouTube).

Screen Shot 2014-11-02 at 18.11.08

(5) I had a pen friend in Italy who had invited me many times to visit him in Padua. Now, a visit seemed possible. 
(6) Sebastian has another name in real life. A friend of childhood days who was imprisoned in Halle. I had pretended to be his fiancée in order to get writing and visiting rights. There had been protests in early October in that prison too, of which he wanted to inform me in his smuggeled letter. He was caught red handed (see Part 4 and 5 of this series) and suffered tightened confinement conditions.

(7) In all these countries I had pen-friends. I had many such letter-based-contacts, since for me, this was a kind of travelling and an option for a cultural and language exchange. When all of a sudden we were granted free movement, my head was buzzling with all opportunities. I had so many potential invitations, so many access points, so many potential travel destinations, that I started to pragmatically consider where to go and where to take the time and money from in order to actually do it. With this, I realised for the first time, that freedom to move is in itself only a theoretical possibility (to start with). My next summer holiday brought me indeed with a Trabbi (=Trabant, small and typical East German car) to the french Normandie and with PanAm (a big airline at that time) to the USA, to my friend M. With her, I drove by car from Massachussets through 11 Federal States, down to Tennessee to her bread-baking uncle. On our way back we marvelled at the Niagara Falls, I visited Boston and New York City. There, I saw the first homeless people in my life, right at the bus station, amongst them younger women, sleeping on card boards. This image haunted me for a long time.

***

This was the 6th part of a small series of diary entries from autumn 1989 in East Germany. Further posts will follow in the next days. Should you want to read more from me about my time in East Germany, you can read my book „Tearing down Walls“ (original title „Mauern einreißen!“) which only exists in German so far.
Further Information around the Fall of the Berlin Wall ’89:

For German versions, see HERE.

Teil 7 – Aus meinem Tagebuch vor 25 Jahren – mein erstes Mal im Westen – 13.11.1989

„Gefühle kann ich nicht beschreiben, ist absolut unmöglich. Ich hab wie viele mit den Tränen gekämpft. Es war so unglaublich, man geht da durch, als wäre es nicht gestern noch ein Todesfeld mit Minen, ein Stromstacheldraht und und und, alle gingen durch, nur so, es war völlig normal. Der Empfang war ebenso unbeschreiblich. Wildfremde Menschen umarmten sich. Westberliner klatschten, alles lachte und heulte. Nie im Leben vergeß ich das.“

Meine Tagebuchnotizen vom 13. November 1989. (English Version coming soon!)

Dies ist Teil 7 aus der Reihe “Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989″, frühere Teile sind am Ende dieses Posts verlinkt, ebenso wie Dokumente, Fotos aus der Zeit und mein Buch „Mauern einreißen“. Es gibt alle Teile auch in englischen Übersetzungen auf meinem Blog. Kürzungen (private Inhalte) sind erkennbar an “(…)”, Erklärungen gibt es in Klammern: (ADB: Erklärung) oder so: (=blabla). Ausführlichere Erklärungen gibt es in Fußnoten.

***

Heute ist der 13.11.89, 11:15, Hauptbahnhof am Montag
Ich faß es noch gar nicht, vor 1 Stunde genau setzte ich mich in die S-Bahn-Charlottenburg… kam von der Riki (1), wo ich ein Wochenende gelebt hatte. Ein so volles. Wahnsinn, unbeschreiblich, Herr Gott, gib mir Worte, das Maß an Emotion auszudrücken – unmöglich. Versuchen?

So eine Zählkarte hatte ich noch für den Grenzübertritt am 11.11.1989 ausfüllen müssen, sehen wollte sie aber dann doch keiner mehr an der Grenze…

Nach der Trauer am Donnerstag – waschen Freitag früh (2). U. kommt ins Bad und strahlt – na, was sagst Du zu unserem Sieg? – Ich wußte nichts, da redet er von Mauerschwund… Ich renne zum Radio und höre es selbst, jeder darf rüber wie er will. Unfaßbar. Ich bin mit Gundi gleich zur Polizei und in 1 Std. hatten wir das Visum. (3) Der Tag war gelaufen. Kein Fatz Entwurf gemacht. Frühstück (mit) Gundel gefeiert, ein Likörchen getrunken. Angerufen zu Hause und die Eltern zur Polizei geschickt. Kunstgeschichte geschwänzt und heim gefahren. Riki war schon weg. Am Samstag früh mit Auto los zum neuen Übergang Bernauerstrasse-Brunnenstrasse, der Vater drängelte sich rein, wir standen 1 Stunde, die Schlange war endlos, es ging ständig vorwärts. Nur Ausweis hochhalten. Ringsherum aufgebrochene Mauern, Bauarbeiter, Grenzer. Ich strahlte einen an – auch die freuen sich jetzt, trotz Streß.
zaehlkarte-RSAuf der Mauer saßen Westberliner Jugendliche, klatschten und winkten, mir standen auch Tränen in den Augen. Überall die Westberliner, lachen, winkend, x-Fernsehteams (vielleicht sah mich M…?) Eine Frau verteilte Nimm-2, andere Rosen, weiß und rot, Kaiser verteilte Kaiserkaffee und Schokolade – wir suchten einen Bus und fuhren dann per SBahn zur Riki. Mittags waren wir da. Ein Taumel, so viele Leute. Schon die Busse sind viel schöner, die Mauer so bunt, “sauer macht lustig, Mauer macht frustig” – schöne Sprüche überall. Riki wohnt gegenüber vom Azteken (=Schmuckladen), in der Hektorstr. (…), neben dem Kudamm, ganz dicht. Eine schöne Altbauecke, 4. Stock, Riesenfenster (im ganzen Viertel), Blick auf die Dächer, wunderschön. Helle, unkomplizierte Wohnung, liebenswert. Tolle Fotos, 2 Katzen… schön. Sohn Emil mit langen Lohden, 20. Jahre, zukünftiger Schlagzeuger. Ich hatte ein Zimmer für mich ganz allein. Die Eltern fuhren nachts zurück. Vorher sind wir (ich allein) den Kudamm auf und ab gebummelt. Hab im Ku-eck im Indienladen die Simone G. (=Schulkameradin) getroffen – die Welt ist klein, (…) Müncheberg (=Heimat- und Schulort) ist überall.

Genau an dieser Stelle - direkt hinter dem Brandenburger Tor - war ich mit meiner Mutter auf die Mauer geklettert. Ein unvergesslicher Moment in einer euphorischen Menge. Magie eines Augenblicks. Foto: Wikipedia Commons, Link: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Thefalloftheberlinwall1989.JPG, Autor unbekannt, Reproduktion: Lear 21 von einer Fotodokumentationswand des Berliner Senats

Genau an dieser Stelle – direkt hinter dem Brandenburger Tor – war ich mit meiner Mutter auf die Mauer geklettert. Ein unvergesslicher Moment in einer euphorischen Menge. Magie eines Augenblicks. Foto: Wikipedia Commons, Link: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Thefalloftheberlinwall1989.JPG, Autor unbekannt, Reproduktion: Lear 21 von einer Fotodokumentationswand des Berliner Senats

Um 18:00 haben wir uns bei Riki getroffen und beim Italiener gegessen, auf der Strasse, die in die des 17. Juni übergeht. Die Kellner rannten, mit roten Schürzen, das Essen war göttlich, der Chianti rosso wunderbar und ziemlich stark. Der Vater aß Calamari (in Ringen), Riki und die Meuder (=Spitzname meiner Mutter) eine Riesennudelplatte mit Füllungen, Pilzen und Saucen. Ich hatte eine Calzonepizza mit Pilzen, Käse und Schinken. Vorspeise war Fenchel, gefüllte Paprika, Oliven, eingelegte Forelle (super), Artischocke, irgendwie bearbeitete Tomate (unkenntlich)(4), gefüllte Pilze etc., göttlich. Ich dachte, ich muß platzen, es tat leid um jeden Rest. Wir aßen jeder von jedem, die Nudeln waren das beste dabei. Die Kellner flitzten und strahlten. Wir wurden einmal an einen anderen Tisch platziert, es war so viel Betrieb dort. Riki hatte uns eingeladen. Unvergeßlich alles. Viva la vita viva l’amore – der Kellner auf meine Umzugsbemerkung: “das bringt doch Leben in die Bude”, so toll alles.
Als wir gingen hielt uns der Restaurantchef vor der Tür an, ob wir nicht zum Abschied noch einen Amaretto oder dergleichen – wir waren schnell überredet, nach hinten geführt und bekamen jeder vom Chef was spendiert, einen Sambucco für mich (Anis, angezündet, fein und süß), Amaretto für den Vater, Sekt für die Meuder. Der Chef freute sich über uns, hatte nur 2 St. geschlafen, war nachts um 3:00 nach der Arbeit noch zur Mauer gewandert um zuzuschauen. (5) Alles war so lustig, ich freue mich schon sehr auf den Italiener, G. (=Brieffreund, er hatte mich eingeladen).
Die Zeit verrennt. Die Eltern fuhren dann heim, ich schaute mit Riki noch Landkarten an, M. wohnt nördlich von New York, gar nicht so weit. Boston ist auch in der Nähe. Riki’s Sohn ist bald ein halbes Jahr in Hollywood, zur Schule, das ist auch in Californien. Ich freue mich so auf die Reise! Padua (=wo mein Brieffreund wohnte) ist ganz dicht bei Venedig – ein Traum! In Amsterdam habe ich sogar die Helmerstraat von Wiel (=holländischer Brieffreund) entdeckt, eine lange Straße. Amsterdam macht einen feinen Eindruck. Geschlafen habe ich wie ein Engel und nur von Italienern geträumt, Kellnern die auf dem Hof herumrannten und servierten. (…) Ich wollte ja schon gestern abend nach Leipzig kommen, komme ich eben heute, hoffentlich sind sie (=meine Freunde) noch da. Zur Demo (=Montagsdemo) schaffe ich es noch. Heute abend wollen wir feten. (…) Ich werde jetzt nach Schöneweide fahren, da ist bestimmt auch noch Zeit.

***

(1) Die Rede ist von der westberliner Dokumentarfilmerin Riki Kalbe, eine Freundin meiner Mutter, mit der uns eine enge Freundschaft verband. Sie hat fotographisch u.a. die Veränderungen rund um den Potsdamer Platz nach dem Mauerfall begleitet. Sie war herzlich und humorvoll aber ist leider 2002 viel zu früh gestorben, nach dem schon ihr Sohn Emil, ein begabter Musiker, mit nur 30 Jahren gestorben war. Meine Erinnerungen an den Mauerfall 1989 sind für immer mit Riki und ihrem herzlichen Lachen verbunden, mit ihrer Gastfreundschaft und den inneren Bildern z.B. von Postkartenfotos aus ihrer Kamera, Landkarten, die in ihrer Wohnung an den Wänden hingen, von der kleinen Küche, in der sich schöne Keramik stapelte und in der wir türkischen Kaffee und Rotwein tranken.

Unser alter Waschraum im Wohnheim der Fachschule für Angewandte Kunst in Ober-Schlema/Erzgebirge

Unser alter Waschraum im Wohnheim der Fachschule für Angewandte Kunst in Ober-Schlema/Erzgebirge (Foto: Kathrin Roth-Wagner)

(2) Es gab einen gemeinsamen Waschraum im Studentenwohnheim, einer Holzbaracke. Von diesem (unisex) Waschraum ist die Rede…Es war allerdings nicht mehr der alte Waschraum, wie hier abgebildet, sondern ein neuer, mit richtigen Fliesen an der Wand und gekachelten Duschkabinen, nicht mit so einer aus Blech wie in meinen ersten Studienjahren.
(3) In den Nachrichten hieß es noch, dass man einen Stempel von der Polizei braucht, deshalb sind wir zur Meldestelle, die zur Polizei gehörte und haben uns dieses Visum besorgt. Auch eine Zählkarte bekamen wir, die ich noch ausfüllt hatte, aber die niemand an der Grenze mehr sehen wollte.
(4) Mein allererstes italienisches Essen… bis auf den heutigen Tag das leckerste italienische Essen, dass ich je gegessen habe. Bestimmt auch wegen der Umstände, aber es war einfach auch himmlisch. Ich beschrieb das alles so genau, weil es alle diese Speisen so in der DDR nicht gegeben hatte. Weder Calamari noch gefüllte Pilze. Und wie getrocknete Tomaten aussehen, wußte ich auch nicht, daher beschrieb ich ihre Bearbeitung als “unkenntlich”.
(5) Erst beim Herausgehen hatte der Restaurantbesitzer mitbekommen, dass wir Ossis und bei unserem ersten West-Essen waren. Deshalb lotste er uns wieder hinein, um gemeinsam zu feiern. Es war ein magischer Moment des gemeinschaftlichen Glücks.

***

Dies ist mein letzter Beitrag aus der Serie „Mein Tagebuch vor 25 Jahren“, als Bonus gibt es noch eine Postkarte, die ich wenige Tage nach dem Mauerfall an eine Freundin in Westdeutschland schrieb. Sie gab sie mir Jahre später mit anderen Briefen aus der Wendezeit zurück, als Erinnerung, und ich bin dafür sehr dankbar!

Liebe Elisabeth,               – 19.11.1989, Schlema

bevor ich ins Bett verschwinde, noch schnell ein paar Zeilen. Zuerst lieben Dank für den Havel-Artikel, vielleicht verschwindet heute wirklich nichts mehr? Ihr hört sicher, was so alles los ist bei uns, es überschlägt sich. Die Euphorie war groß. Gleich am 10.11. haben wir uns ins Auto gesetzt, um uns in Berlin von der Wahrheit des Unvorstellbaren zu überzeugen. Ich bin ulkigerweise just 11:11 Uhr durch die ehemalige Mauer – frisch durchgebrochen gewandert. Gefühle kann ich nicht beschreiben, ist absolut unmöglich. Ich hab wie viele mit den Tränen gekämpft.

Es war so unglaublich, man geht da durch, als wäre es nicht gestern noch ein Todesfeld mit Minen, ein Stromstacheldraht und und und, alle gingen durch, nur so, es war völlig normal. Der Empfang war ebenso unbeschreiblich. Wildfremde Menschen umarmten sich. Westberliner klatschten, alles lachte und heulte. Nie im Leben vergeß ich das. Hoffentlich war es trotz allem nicht zu früh, ich fürchte eine ökonomische Katastrophe. In W-Berlin tauscht man schon 1:20, was soll da aus der DDR-Mark werden? Hoffentlich kommen wir über den Winter. Apropos, so oft habt Ihr mich schon eingeladen, da würde ich so gern wirklich kommen. Ich habe nur im Dezember frei, sonst erst im Sommer. Wäre es vom 27.-30.12. möglich? Wenn Ihr schon Besuch habt, oder um diese Zeit lieber unter Euch seid, versteh ich das natürlich. Ich würde nachts fahren und vormittags ankommen in FFM. Es wäre so schön. Alles Liebe und Grüße an alle,

Anke

Dies war der 7. und letzte Teil einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989.  Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch ans Herz gelegt.

For english versions, see HERE.
Weitere Informationen rund um die Wende ’89:

Teil 6 – Aus meinem Tagebuch vor 25 Jahren – Die Mauer fällt – 9.Nov.1989


„Heute – heute vor Stunden die Nachrichten – Grenze der DDR geöffnet! Ausreisen innerhalb von 24 Stunden, Privatreisen ab sofort bei 1 Wo – 2 Wo. Anmeldung möglich. Unglaublich. Große Freude? Große Trauer, unbegreiflich? – Je Stunde 3.500 Ausreiser, je Stunde!! Oh je, alle verlassen uns.“


Meine Tagebuchnotizen vom 09. November 1989. (English version HERE!)

Dies ist Teil 6 aus der Reihe “Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989″, frühere Teile sind am Ende dieses Posts verlinkt, ebenso wie Dokumente, Fotos aus der Zeit und mein Buch „Mauern einreißen“. Es gibt alle Teile auch in englischen Übersetzungen auf meinem Blog. Kürzungen (private Inhalte) sind erkennbar an “(…)”, Erklärungen gibt es in Klammern: (ADB: Erklärung) oder so: (=blabla). Ausführlichere Erklärungen gibt es in Fußnoten.

***

09.11.89 – 0:15, WH, FREITAG
Bruder verloren? (1) Heute – heute vor Stunden die Nachrichten – Grenze der DDR geöffnet! Ausreisen innerhalb von 24 Stunden, Privatreisen ab sofort bei 1 Wo – 2 Wo. Anmeldung möglich.

Unglaublich. Große Freude? Große Trauer (2), unbegreiflich?  – Je Stunde 3.500 Ausreiser, je Stunde!! Oh je, alle verlassen uns. Ist Kuno (= mein Bruder) überhaupt noch da? Der Demokratische Aufbruch (3) hat sich vor dem Übergang hingestellt und Leute versucht, zum hierbleiben zu bewegen. Alles geht, zu so vielen, alles bricht zusammen. Ständig neue Rücktritte, (4) alles überschlägt sich.

Auf diesem Radiorecorder habe ich am 9.11.1989 die Nachrichten von der Grenzöffnung verfolgt

Auf diesem Radiorecorder habe ich am 9.11.1989 die Nachrichten von der Grenzöffnung verfolgt

Neujahr in Italien? (5) Wie geht es Sebastian? (6) Solche Nachrichten und er da drin (= Gefängnis), wichtige Zeit. Zeitgeschichte. Berliner Millionendemo unvergesslich, Plakatsprüche Zeitdokumente. Neben mir schnurrt Cäsar, unsere 3. WH Katze, neben Susi und Detlef. K. wie ausgewechselt, so lieb. Ach ja. Wir werden eine 6 Mon. Studienunterbrechung beantragen, um in der Prod. zu arbeiten. Fürs Gesundheitswesen haben wir uns jetzt schon zur Aushilfe gemeldet. In KMST (=Karl Marx Stadt, heute Chemnitz) will man “versuchen”, die Dispensairebetreuung, die DMH (=Dringliche Medizinische Hilfe) und die Intensivtherapie aufrecht  zu erhalten… der Rest liegt brach, frei haben sie dort kaum. Wird das die allg. Lage der Ärzte verbessern helfen? Arbeit im Betrieb oder Altersheim – gut für den Menschen, wahr, nebenbei Geld für Reisen verdienen. Im Sommer nach Amerika? Kann ich die Überfahrt bezahlen? M. lädt mich ein, eine so liebe Seele. Frankreich besuchen? Mittelmeer, Holland, alle Leute, (7) Tunesien, Luanda, woher Urlaub, woher Geld?? Ich habe Sehnucht, überallhin, um wiederzukommen.
Anke.

***

(1) Mein Bruder hatte die Ausreise beantragt und wie ich früher in mein Tagebuch schon schrieb, fürchtete ich bei einer Ausreise, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Bei den Nachrichten war mir also eine der wichtigsten Erkenntnisse: Mein Bruder ist nicht verloren, egal, ob er nun ausreist oder nicht, ich werde ihn wieder sehen können :-).

Selbstportrait, entstanden am 09.11.1989 unter dem Eindruck von Grenzöffnung und Massenflucht

Selbstportrait, entstanden am 09.11.1989 unter dem Eindruck von Grenzöffnung und Massenflucht

(2) Das mit der „großen Trauer“ versteht heute wohl kaum jemand mehr, aber so war es tatsächlich, ich hatte sehr ambivalente Gefühle. Die Alternative von der ich träumte, der Dritte Weg eines demokratischen Sozialismus, der mir und anderen Oppositionellen damals vorschwebte, war mit der Maueröffnung schlagartig obsolet geworden. Es war sonnenscheinklar, dass nun keine Massen mehr dafür auf die Straße gehen werden. Außerdem gab es gleichzeitig die Nachricht eines Ausreise-Tsunamis und die sofort einsetzende Massenflucht machte mir große Sorgen. Deshalb war ich eben nicht nur froh sondern auch traurig an jenem Abend. Wir hatten nicht nur für Reisefreiheit gekämpft sondern für ein großes Ganzes. Als ich die Nachrichten von der Grenzöffnung hörte, zeichnete ich gerade für das Fach Naturstudium Selbstportraits. Meine ambivalente Gefühlswelt ist in diesen grob mit Rohrfeder und Tusche gezeichneten Bildern gut erkennbar. Schön sind sie nicht geworden…aber eindringlich.

(3) Der Demokratische Aufbruch (DA) war eine der zahlreichen oppositionellen Gruppen der DDR. Sie existierte nur von Oktober 1989 bis August 1990 und ist vor allem durch Personalien bekannt. Innerhalb der DDR Opposition war der DA eine konservativere Strömung, seine Pressesprecherin war z.B. Angela Merkel, sein letzter Vorsitzender Rainer Eppelmann saß nicht nur am Runden Tisch in Berlin sondern wurde auch Minister in der ersten frei gewählten Regierung der DDR 1990. Eher berühmt berüchtigt war der zuerst als Vorsitzende amtierende Wolfgang Schnur, ein Rechtsanwalt, dessen Telefonnummer ich auch erhalten hatte, als ich Hilfe für meinen Freund Sebastian suchte. Ich habe diese Nummer vielfach angerufen aber zum Glück hob nie jemand ab. Es stellte sich nämlich heraus, dass Schnur langjähriger Stasispitzel war und insbesondere aus dem Inneren der Opposition fleißig berichtet hatte. Das kostete ihn dann auch den Job als Vorsitzender beim Demokratischen Aufbruch und machte damit den Posten frei für Rainer Eppelmann. Im August 1990 beendete der Demokratische Aufbruch seine Existenz als eigenständige Partei und schloss sich der DDR- CDU an, die wiederum im Oktober mit der West-CDU fusionierte. Und so kam Angela Merkel vom Demokratischen Aufbruch zur CDU, der erste Schritt in Richtung Kanzlerinnenamt.

So signierte ich die 6-7 Selbstportraits auf der Rückseite, die am 09. Nov. 1989 entstanden

So signierte ich die 6-7 Selbstportraits auf der Rückseite, die am 09. Nov. 1989 entstanden

(4) Der wichtigste Rücktritt war natürlich der von Erich Honecker, dem Staatsratsvorsitzenden, am 18.10.89, weitere Mitglieder des Politbüros folgten. Ein Kulminationspunkt in der Rücktrittsorgie war jedoch der Abgang von Erich Mielke, Chef der Staatssicherheit, am 7.11.89 – zusammen mit der Regierung Willi Stoph (Vorsitzender des Ministerrates). Am nächsten Tag, dem 8.11.89, trat das verbliebene Politbüro des ZK der SED zurück. Unvergessen sein (letzter?) Auftritt in der DDR Volkskammer, wo er den lachenden Abgeordneten und dem Rest der Welt erklärte, dass er sie doch alle liebe… „Ja, ich liebe, ich liebe doch alle… alle Menschen… ich liebe doch…“. Mir kommen die Tränen. (Video auf YouTube)

Screen Shot 2014-11-02 at 18.11.08

(5) Ich hatte einen Brieffreund in Italien, der mich schon oft eingeladen hatte zu sich nach Padua. Nun schien ein Besuch auf einmal möglich…

(6) Sebastian heißt eigentlich anders. Ein Freund aus Kindertagen, der in Halle im Gefängnis saß. Ich hatte mich als seine Verlobte ausgegeben, um Schreib- und Besuchsrechte zu erhalten. Es hatte Anfang Oktober auch in der Justizvollzugsanstalt Proteste gegeben, von denen er mir in einem Schmuggelbrief berichten wollte. Er war erwischt worden (siehe dazu auch Teil 4 und 5 der Tagebücherserie) und litt unter verschärften Haftbedingungen.

Ausschnitt aus einem der 6-7 Selbstportraits, die am 9.11.89 entstanden

(7) In all diesen Ländern hatte ich Brieffreundschaften. Ich pflegte viele solche Briefkontakte, da es auch eine Art des Reisens war und  ein sprachlich-kultureller Austausch. Als auf einmal Reisefreiheit herrschte, schwirrte mir der Kopf voller Möglichkeiten. Ich hatte so viele potenzielle Einladungen, so viele Anlaufpunkte, so viele mögliche Reiseziele, dass ich ganz pragmatisch anfing zu überlegen, wo ich denn nun hinfahre, und wo ich die Zeit und das Geld dafür bekomme. Ich begriff erst dadurch, dass Reisefreiheit erst einmal nur eine theoretische Möglichkeit ist. Mein folgender Sommerurlaub führte mich aber dann tatsächlich mit dem Trabbi nach Frankreich in die Normandie und mit PanAm (das war früher mal eine recht große Airline) in die USA zu meiner Freundin M. Mit ihr fuhr ich per Auto von Massachusetts durch 11 Bundesstaaten, bis nach Tennessee zu ihrem brotbackenden Onkel. Auf dem Rückweg bestaunten wir die Niagarafälle, ich besuchte Boston und New York City. Dort sah ich die ersten Obdachlosen gleich am Busbahnhof, darunter jüngere Frauen, die auf Pappen schliefen. Ich wurde diesen Anblick sehr lange nicht mehr los…

***

Dies war der 6. Teil einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989. Weitere folgen in den nächsten Tagen. Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch ans Herz gelegt.
For english versions, see HERE.
Weitere Informationen rund um die Wende ’89:

 

English Version Part 5: My Diary from Autumn 1989 – around the Fall of the Berlin Wall – 05th Nov.1989

„What a weekend! In Berlin the biggest demonstration which ever took place in this city, voluntarily 1 mio in the streets! Directly reported at DDR1, all speakers uncensored, the calls for the government to step down, diatribes on Krenz and the likes, new elections, legal permission of NF etc. So beautiful banners, they should be collected for a special exhibition. A historic record. I would have loved to be there.“

This is the English Version, the German version is HERE.
My Diary notes of 5th November 1989
This is part 5 of my series „My diary – 25 years ago – Autumn 1989“. Earlier parts are linked at the end of this post, as well as documents, old fotographs, and my book „Mauern einreißen!“ („Tearing down walls“ LINK). However, except for the diary parts, all the other pages are in German… I took out some parts which are private, you will recognise this at „(…)“, explanations come in brackets with my initials: „(ADB: explanation)“ or (= explanation). More detailed explanations will be found in footnotes.

***

5th Nov.89, 10:15 am, P-Zug (=train) Halle-Leipzig, Sunday
What a weekend! In Berlin the biggest demonstration which ever took place in this city, voluntarily 1 mio in the streets! Directly reported at DDR1 (= nr 1 GDR TV channel), all speakers uncensored, the calls for the government to step down, diatribes on Krenz and the likes, new elections, legal permit for NF (=New Forum, oppositional group) etc. So beautiful banners, they should be collected for a special exhibition. A historic record. I would have loved to be there.
On Friday, I went first to Ha-Neu (= District Halle Neustadt), from there to the Superintendent in the City of Halle. He wasn’t in the Market Church, but at home (…). A skinny man, speaking condensely, concentrated. He listened, I fought back my tears. He was casually asking, what comforted me, how I stood towards the church, how we got to know each other (=me and my friend in prison), on my studies. He called the vigil and drove me there with his car, to pastor Hanewinckel (1). He is the soul of the St. George Church, (and) of the vigil, a man with golden metal rimmed glasses and an undulating grey beard, heavily smoking, like nearly all others there. Until deep in the night he is there and helps everybody. He went with us into a room where we were alone, listened to everything and decided to help.

Mahnwache Nov. 1989, Bild: Hans-Joachim Hanewinckel, aus Udo Grashoff "Keine Gewalt! Dokumente und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale"

Vigil St. George Church, Halle/Saale, Oct./Nov. 1989, Pic: Hans-Joachim Hanewinckel, aus Udo Grashoff „Keine Gewalt! Dokumente und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale“

He brought a young man into the room, „Mike“, discharged after 14 months in the juvenil prison Halle at 10th Oct. 89. He is now a case for Amnesty International. He listened to me and than skipped his date to talk with me instead. He still has some contacts to the juvenile prison and promised to get to know something on Monday and to let me know in writing. We walked at app. 11pm to Ha-Neu, he told me his story, hairraising. In 1987, he had filed a request for emigration, provoked the Stasi various times (2 hours sitting in front of the Brandenburg Gate, slow driving up and down in front of it, etc.). He had been interrogated several times and once, on a trip to Eisenach, he was arrested in the train on suspected illegal emigration (=“Republikflucht“). He was put behind bars for 14 months.
His parents dissociated themselves from him. The conditions had been most miserable, always locked in, even during work hours. Various times, he went on strike to improve conditions. Once, their working clothes – standing for dirt – (= German expression) had not been changed for 60 days, they got soup from 1969 and when they unwrapped a camembert, worms crawled out… Once he went into hunger strike, sitting in confinement. The bed was only locked open during the night, the lavatory was locked in the night. After 3 days without eating and drinking they didn’t open the lavatory anymore, „who is not eating, has no need to wash or brush teeth“. After 5 days, when already everything went black most of the time, they came, attached chains with shackels at his hands and feet, put him onto a steel bed and forcefed him with a funnel – then he gave in.

Mahnwache Nov. 1989, Bild: Hans-Joachim Hanewinckel, aus Udo Grashoff "Keine Gewalt! Dokumente und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale" (S.20)

Vigil St. George Church, Halle/Saale, Oct./Nov. 1989, Pic: Hans-Joachim Hanewinckel, aus Udo Grashoff „Keine Gewalt! Dokumente und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale“

That something like this exists here! The name Sebastian (2) seemed to ring a bell, but he could not remember his face. He will take care of it. The next morning I called laywer Frenzel, who could not engage in the case before 16th Nov. I called Hanewinckel, we tried to reach 2 other lawyers. It became noon. I called Sebastians mother, for new info. The day before, a letter had come each from the prison and from Sebastian. Sebastian wrote that he is well… he had tried to smuggle a letter and was being punished by disciplinary measures. He had an infection on his head, therefore, his hair had to go. Sebastian as a skinhead… Nothing about a new visit.

Auszug aus den Gründungsstatuten der Sozialdemokratischen Partei der DDR - ich habe die Papiere von der Hallenser Veranstaltung mitgenommen

Snippit from the founding statutes of the Social Democract Party of the GDR – I brought the document from their event in Halle

Around 4pm a new message from Hanewinckel. In Puschkinstreet, in the House of the Junge Gemeinde (=youth branch of the parish), a SDP (=Social Democrat Party of the GDR, founded early Oct. 1989) event was taking place right now, in the back (of the room), a Dr. Willms would sit, in a black shirt and a beige jumper on top of it… he was informed and would bring me into contact with a lawyer. When I eventually found the place, the event had just ended and Dr. Willms was miles away. From the house of pastor Körner I called Hanewinckel. He gave me the address of lawyer Schwahn in (…) way (…), Halle-Döhlau. In between it had turned dark. With the tram I left the city, found the bus station, waited 1/2 hour and took the (line) A to Döhlau-Post, most deserted wilderness. The next 3 people did not know the way. I strayed through this barren deserted hick town, criss-crossing, discovered a man in a drive, who gave me directions. I found the pathway – the most abandoned in all Döhlau. Fog, barely a light, houses far apart from eachother, no sound, puddles, forest around. Oh scary, me in the middle of it. I strayed until (number) 1B, then the world turned black and ended.
At the last light I rang the bell getting a man outside. The path would turn right and then left and then already came the drive of the lawyer. Hence, back into the dark, giant puddles, blackness, blind walking, cracking noises. A hint of a path at the left hand side. I opened my eyes to the fullest extent and fought back tears of despair, ran towards a light. Just in front of the house a violent barking. My god. I raised my hands and didn’t move at all. The dog remained silent. I guessed that he was tied, since he did not come. I shuffled my feed on the ground to make it bark again and force somebody to have a look. It worked. The one who came was laywer Schwahn himself.

He listened and promised to help. Ms (…=mother of Sebastian) just had to sign the certificate of authority. I strayed back through the dark, ran a lot, drove to the city center, to the vigil, searched in vein for the pastor and drove to Haneu. In the meantime, the Little Kathrin (3) had arrived. I saw her for the last time. I still cannot believe it. Should I ever get to the other side (= West Germany), I have to visit her in Kassel, it is not very far from Frankfurt Main. We drank a good-bye vermouth. I called the mother (of Sebastian) again, via G., and C. got her (ADB: she did not have a phone herself). Meanwhile, a 2nd letter had arrived, with a „Speakers Card“ (Visiting Allowance for the prison), for the 19th Nov. 1989 – for G. Later more, Leipzig is approaching.

***

(1) I will always remember Pastor Hans-Joachim Hanewinckel as one of the most impressive people of the East German Revolution (who ever knows him, please let him know, as well as my respect, my esteem and my thankfulness – I hope I manage to tell him in person one day). He was the heart and soul of the vigil, which was established at 10th Oct. 1989 at St. George Church, after there had been violent attacks of the police and arrests in Halle around the 40th anniversary of the GDR (7th Oct. 1989). Leipzig may be better known as city of the GDR opposition, but also many things happened in its neighbouring city Halle. I recommend the document „Keine Gewalt! Dokument und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale“ by Udo Grashoff. It has a chronological structure, differentiates between national and local events, and in over 100 pages it also contains original Stasi documents and pictures of this time. It is a wonderful historic document. An interview with Hans-Joachim Hanewinckel on the Revolution and the End of the Wall can be read HERE (in German), it also contains a nice series of pictures of the vigil.
(2) Sebastian has another name in real life. A friend of childhood days who was imprisoned in Halle. I had pretended to be his fiancée in order to get writing and visiting rights. There had been protests in early October in that prison too, of which he wanted to inform me in his smuggeled letter. He was caught red handed (see Part 4 of this series) and suffered tightened confinement conditions. With the help of pastor Hanewinckel I wanted to organise legal counsel for him. 
(3) The Little Kathrin was a fellow student of mine. Her husband had fled to the West German embassy in Berlin and left it after he was promised a permission to legally emigrate in the not too distant future. Some months later, he got his permission and left his wife behind. She too, had filed for emigration and eventually got her permission too. Thats why I thought I will never see her again… More about the Little Kathrin in Part 4 of the diary series. Her nick name „Little Kathrin“ comes from the fact that we had 4 Kathrins in our student group, these were the „Little Kathrin“, the „Blonde Kathrin“, the „Tall Kathrin“, and the „Wood Kathrin“ (who studied wooden design/art).

***

This was the 5th part of a small series of diary entries from autumn 1989 in East Germany. Further posts will follow in the next days. Should you want to read more from me about my time in East Germany, you can read my book „Tearing down Walls“ (original title „Mauern einreißen!“) which only exists in German so far.
Further Information around the Fall of the Berlin Wall ’89:

For German versions, see HERE.

Teil 5 – Aus meinem Tagebuch vor 25 Jahren – Herbst 1989 DDR (05.11.1989)

„Welch ein Wochenende! In Berlin die größte Demo die es je in dieser Stadt gab, freiwillig 1 Mill auf der Strasse! Direktübertragen auf DDR1, alle Redner ungekürzt, die Aufrufe zum Rücktritt der Regierung, Schmähreden über Krenz und Anhang, Neuwahlen, NF-Zulassung etc. So schöne Transparente, sie sollten für eine Sonderausstellung gesammelt werden. Ein Geschichtsbeleg. Ich wäre gern dort gewesen.“

Meine Tagebuchnotizen vom 05. November 1989. (English Version HERE)
Dies ist Teil 5 aus der Reihe “Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989″, frühere Teile sind am Ende dieses Posts verlinkt, ebenso wie Dokumente, Fotos aus der Zeit und mein Buch „Mauern einreißen“. Es gibt alle Teile auch in englischen Übersetzungen auf meinem Blog. Kürzungen (private Inhalte) sind erkennbar an “(…)”, Erklärungen gibt es in Klammern: (ADB: Erklärung) oder so: (=blabla). Ausführlichere Erklärungen gibt es in Fußnoten.

***

den 05.11.89, 10:15, P-Zug Halle-Leipzig, Sonntag
Welch ein Wochenende! In Berlin die größte Demo die es je in dieser Stadt gab, freiwillig 1 Mill auf der Strasse! Direktübertragen auf DDR1 (=DDR Fernsehen) alle Redner ungekürzt, die Aufrufe zum Rücktritt der Regierung, Schmähreden über Krenz und Anhang, Neuwahlen, NF-Zulassung (=Neues Forum) etc. So schöne Transparente, sie sollten für eine Sonderausstellung gesammelt werden. Ein Geschichtsbeleg. Ich wäre gern dort gewesen.
Am Freitag bin ich zuerst nach Ha-Neu, (=Halle Neustadt) von dort zum Superintendenten nach Halle, in der Marktkirche war er nicht, (er war) zu Hause (…). Ein hagerer Mann, kurzfassend und konzentriert. Er hörte zu, ich kämpfte mit den Tränen. Er fragte auch nebensächlich, das beruhigte mich, wie ich zur Kirche stünde, wie wir uns kennengelernt hatten etc., zum Studium. Er rief bei der Mahnwache an und fuhr mit mir im Auto hin, zu Pfarrer Hanewinckel.(1) Das ist die Seele der Georgenkirche, der Mahnwache, ein Mann mit goldener Nickelbrille und wallendem grauen Bart, viel rauchend, wie fast alle dort. Bis in die Nacht ist er dort und hilft jedem. Er ging mit uns in einen Raum, wo wir allein waren, hörte sich alles an und beschloß, zu helfen.

Mahnwache Nov. 1989, Bild: Hans-Joachim Hanewinckel, aus Udo Grashoff "Keine Gewalt! Dokumente und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale"

Mahnwache an der Georgenkirche in Halle/Saale, Nov. 1989, Bild: Hans-Joachim Hanewinckel, aus Udo Grashoff „Keine Gewalt! Dokumente und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale“

Er holte einen jungen Mann herein “Mike”, entlassen nach 14 Monaten aus dem Jugendhaus Halle (=Gefängnis) am 10.10.89. Der ist jetzt ein Fall für Amnesty International. Er hörte mir zu und ließ sein Rendezvous platzen, um sich mit mir zu unterhalten. Er hat noch verschiedene Beziehungen zum Jugendhaus und versprach, Montag etwas in Erfahrung zu bringen und mir zu schreiben. Wir wanderten gg. 23:00 nach Ha-Neu, er erzählte seine Geschichte, haarsträubend. Er hatte 1987 einen Ausreiseantrag gestellt, die Stasi mehrfach provoziert (2 Std. sitzen vor dem Brandenburger Tor, langsames Auf- und abfahren davor etc.) Er wurde mehrmals verhört und einmal auf der Fahrt nach Eisenach wegen Verdacht der Republiksflucht im Zug festgenommen. Er wanderte ab für 14 Monate.
Seine Eltern sagten sich los von ihm. Die Bedingungen waren denkbar miserabel, immer eingesperrt, auch bei der Arbeit, er streikte mehrmals, um die Bedingungen zu verbessern. Einmal wurden die vor Dreck stehenden Arbeitssachen 60 Tage nicht gewechselt, es gab Suppe von 1969 und beim Auswickeln des Camembert krochen Würmer heraus… Einmal ging er in Hungerstreik, saß im Arrest. Das Bett wurde nur nachts aufgeschlossen, das Klo war nachts zu. Nach 3 Tagen ohne Essen und Trinken öffnete man ihm das Klo nicht mehr, “wer nicht ißt, braucht sich nicht waschen und braucht auch nicht Zähne putzen”, nach 5 Tagen, als es ihm schon ständig schwarz wurde, kamen sie, legten ihm Schellen mit Ketten an Händen und Füßen, legten ihn auf ein Stahlbett und ernährten ihn per Zwang mit einem Trichter – da gab er auf.

Mahnwache Nov. 1989, Bild: Hans-Joachim Hanewinckel, aus Udo Grashoff "Keine Gewalt! Dokumente und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale" (S.20)

Mahnwache an der Georgenkirche in Halle/Saale, Nov. 1989, Bild: Hans-Joachim Hanewinckel, aus Udo Grashoff „Keine Gewalt! Dokumente und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale“ (S.20)

Dass es sowas bei uns gibt! Sebastians (2) Name kam ihm bekannt vor, aber sein Gesicht kannte er nicht. Er wird sich kümmern. Am nächsten Morgen rief ich den Rechtsanwalt Frenzel an, der aber würde sich frühestens am 16.11. des Falles annehmen. Ich rief Hanewinckel an, wir versuchten noch 2 andere RA’s zu erreichen. Es wurde Mittag. Ich rief Sebastians Mutter an, wegen neuer Info. Am Vortag waren vom Strafvollzug und von Sebastian je 1 Brief gekommen. Sebastian schreibt, es ginge ihm gut… er hätte einen Brief schmuggeln wollen und wäre dafür disziplinarisch belangt worden. Auf dem Kopf hätte er eine Entzündung, wegen der seine Haare ab mußten. Sebastian als Skinhead… Ein neuer Besuch stand nicht drin.

Auszug aus den Gründungsstatuten der Sozialdemokratischen Partei der DDR - ich habe die Papiere von der Hallenser Veranstaltung mitgenommen

Auszug aus den Gründungsstatuten der Sozialdemokratischen Partei der DDR – ich habe die Papiere von der Hallenser Veranstaltung mitgenommen

Von Hanewinckel gegen 16:00 neue Nachricht. In der Puschkinstrasse, im Haus der jg. Gemeinde wäre gerade SDP-Tagung, hinten säße Dr. Willms mit schwarzem Hemd und beigem Pullover drüber… der wüßte Bescheid und würde mich einem Rechtsanwalt vermitteln. Als ich endlich hinfand, war die Tagung eben zu Ende und Dr. Willms über alle Berge. Bei Pfarrer Körner im Haus rief ich Hanewinckel an. Der gab mir dann die Adresse des RA Schwahn im (…)weg (…), Halle-Döhlau. Es war inzwischen dunkel geworden. Mit der Str(aßen)bahn fuhr ich raus, fand die Bushaltestelle, wartete 1/2 Stunde  und fuhr mit der A bis Döhlau-Post, ödeste Wildnis, die nächsten 3 Leute kannten den Weg nicht. Ich irrte durch das öde menschenleere Nest, kreuz und quer, entdeckte einen Mann in einer Einfahrt, der mir den Weg erklärte. Ich fand den Weg – der verlassenste in ganz Döhlau. Nebel, kaum ein Licht, die Häuser weit auseinander, kein Laut, Pfützen, Wald herum. Oh Grusel, ich mittendrin. Ich irrte bis zur 1B, dann war die Welt schwarz und zu Ende.

Beim letzten Licht bimmelte ich einen Mann heraus. Der Weg würde rechts abbiegen und dann wieder links und dann käme schon die Einfahrt des RA. Also wieder in die Nacht, Riesenpfützen, Schwärze, blindes Gehen, Knistern. Eine Andeutung von Weg linker Hand. Ich riß die Augen auf und kämpfte gegen Verzweiflungstränen, lief auf ein Licht zu. Kurz vor dem Haus ein wütendes Bellen. Herrgott. Ich hob die Hände und rührte mich gar nicht. Der Hund schwieg, ich ahnte, dass er fest lag, weil er nicht kam. Ich scharrte mit dem Fuß, dass er wieder bellte und jemanden zum Nachschauen zwang. Es funktionierte. Der da kam war RA Schwahn selbst.

Er hörte mich an und versprach zu helfen. Nur die Vollmacht müßte Frau (… =Sebastians Mutter) unterschreiben. Ich irrte durchs Dunkel zurück, rannte viel, fuhr ins Zentrum, zur Mahnwache, suchte den Pfarrer vergeblich und fuhr nach Haneu. Die Kleine Kathrin (3) war inzwischen da. Ich sah sie zum letzten Mal. Ich kanns noch nicht fassen. Wenn ich rüber komme, dann muss ich sie in Kassel besuchen, das ist nicht so sehr weit von Frankfurt am Main. Wir haben noch einen Abschiedswermut getrunken. Die Mutter (von Sebastian) rief ich wieder an, über G., C. holte sie (ADB: sie hatte kein eigenes Telefon). Inzwischen war ein 2. Brief eingetroffen, mit Sprecherkarte (=Besuchserlaubnis im Gefängnis) für den 19.11.89 – für G. Später weiter, Leipzig naht.

***

(1) Pfarrer Hans-Joachim Hanewinckel wird mir als eine der eindrucksvollsten Personen der Wendezeit für immer im Gedächtnis bleiben (wer ihn kennt, bitte richtet ihm das aus, sowie meinen Respekt, meine Hochachtung und meine Dankbarkeit – ich hoffe, ich schaffe das auch mal persönlich!). Er war das Herz der Mahnwache, die am 10.10.1989 an der Georgenkirche eingerichtet wurde, nachdem es rund um den 40. DDR Geburtstag (7.10.89) gewalttätige Übergriffe der Polizei und Verhaftungen in Halle gegeben hatte. Leipzig mag als Stadt der DDR Opposition bekannter sein, aber auch in der Nachbarstadt Halle ist damals sehr viel passiert. Ich empfehle das Dokument „Keine Gewalt! Dokument und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale“ von Udo Grashoff. Es ist chronologisch gegliedert, unterscheidet zwischen nationalen und lokalen Ereignissen, und enthält in den über 100 Seiten auch Stasidokumente und Fotos aus der Zeit. Es ist ein wunderbares zeitgeschichtliches Dokument. Ein Interview mit Hans-Joachim Hanewinckel zu Wende und Mauerfall kann man HIER nachlesen (dort gibt es auch eine schöne Fotostrecke von der Mahnwache).
(2) Sebastian heißt eigentlich anders. Ein Freund aus Kindertagen, der in Halle im Gefängnis saß. Ich hatte mich als seine Verlobte ausgegeben, um Schreib- und Besuchsrechte zu erhalten. Es hatte Anfang Oktober auch in der Justizvollzugsanstalt Proteste gegeben, von denen er mir in einem Schmuggelbrief berichten wollte. Er war erwischt worden (siehe dazu auch Teil 4 der Tagebücherserie) und litt unter verschärften Haftbedingungen. Ich wollte mit der Hilfe von Pfarrer Hanewinckel Rechtsbeistand organisieren.
(3) Die Kleine Kathrin war eine Kommilitonin von mir. Ihr Ehemann war in die westdeutsche Botschaft in Ost-Berlin geflohen und verließ sie erst nach dem Versprechen, in absehbarer Zukunft ausreisen zu dürfen. Einige Monate später bekam er die Erlaubnis und mußte seine Frau zurück lassen. Sie hatte ebenfalls einen Ausreiseantrag gestellt und bekam endlich die Bewilligung. Deshalb dachte ich, ich würde sie nie wieder sehen… Mehr über die Kleine Kathrin gibts in Teil 4 dieser Tagebuchserie. Ihr Spitzname „Kleine Kathrin“ ist dem Umstand zu verdanken, dass wir 4 Kathrins in unserer Studiengruppe hatten, das waren die „Kleine Kathrin“, die „Blonde Kathrin“, die „Große Kathrin“ und die „Holz-Kathrin“ (die Holzgestaltung studierte). (Fußnote 3 ergänzt am 30.10.2014)
Dies war der 5. Teil einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989. Weitere folgen in den nächsten Tagen. Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch ans Herz gelegt.
For english versions, see HERE.
Weitere Informationen rund um die Wende ’89: