„Welch ein Wochenende! In Berlin die größte Demo die es je in dieser Stadt gab, freiwillig 1 Mill auf der Strasse! Direktübertragen auf DDR1, alle Redner ungekürzt, die Aufrufe zum Rücktritt der Regierung, Schmähreden über Krenz und Anhang, Neuwahlen, NF-Zulassung etc. So schöne Transparente, sie sollten für eine Sonderausstellung gesammelt werden. Ein Geschichtsbeleg. Ich wäre gern dort gewesen.“
Meine Tagebuchnotizen vom 05. November 1989. (English Version HERE)
Dies ist Teil 5 aus der Reihe “Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989″, frühere Teile sind am Ende dieses Posts verlinkt, ebenso wie Dokumente, Fotos aus der Zeit und mein Buch „Mauern einreißen“. Es gibt alle Teile auch in englischen Übersetzungen auf meinem Blog. Kürzungen (private Inhalte) sind erkennbar an “(…)”, Erklärungen gibt es in Klammern: (ADB: Erklärung) oder so: (=blabla). Ausführlichere Erklärungen gibt es in Fußnoten.
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den 05.11.89, 10:15, P-Zug Halle-Leipzig, Sonntag
Welch ein Wochenende! In Berlin die größte Demo die es je in dieser Stadt gab, freiwillig 1 Mill auf der Strasse! Direktübertragen auf DDR1 (=DDR Fernsehen) alle Redner ungekürzt, die Aufrufe zum Rücktritt der Regierung, Schmähreden über Krenz und Anhang, Neuwahlen, NF-Zulassung (=Neues Forum) etc. So schöne Transparente, sie sollten für eine Sonderausstellung gesammelt werden. Ein Geschichtsbeleg. Ich wäre gern dort gewesen.
Am Freitag bin ich zuerst nach Ha-Neu, (=Halle Neustadt) von dort zum Superintendenten nach Halle, in der Marktkirche war er nicht, (er war) zu Hause (…). Ein hagerer Mann, kurzfassend und konzentriert. Er hörte zu, ich kämpfte mit den Tränen. Er fragte auch nebensächlich, das beruhigte mich, wie ich zur Kirche stünde, wie wir uns kennengelernt hatten etc., zum Studium. Er rief bei der Mahnwache an und fuhr mit mir im Auto hin, zu Pfarrer Hanewinckel.(1) Das ist die Seele der Georgenkirche, der Mahnwache, ein Mann mit goldener Nickelbrille und wallendem grauen Bart, viel rauchend, wie fast alle dort. Bis in die Nacht ist er dort und hilft jedem. Er ging mit uns in einen Raum, wo wir allein waren, hörte sich alles an und beschloß, zu helfen.
Er holte einen jungen Mann herein “Mike”, entlassen nach 14 Monaten aus dem Jugendhaus Halle (=Gefängnis) am 10.10.89. Der ist jetzt ein Fall für Amnesty International. Er hörte mir zu und ließ sein Rendezvous platzen, um sich mit mir zu unterhalten. Er hat noch verschiedene Beziehungen zum Jugendhaus und versprach, Montag etwas in Erfahrung zu bringen und mir zu schreiben. Wir wanderten gg. 23:00 nach Ha-Neu, er erzählte seine Geschichte, haarsträubend. Er hatte 1987 einen Ausreiseantrag gestellt, die Stasi mehrfach provoziert (2 Std. sitzen vor dem Brandenburger Tor, langsames Auf- und abfahren davor etc.) Er wurde mehrmals verhört und einmal auf der Fahrt nach Eisenach wegen Verdacht der Republiksflucht im Zug festgenommen. Er wanderte ab für 14 Monate.
Seine Eltern sagten sich los von ihm. Die Bedingungen waren denkbar miserabel, immer eingesperrt, auch bei der Arbeit, er streikte mehrmals, um die Bedingungen zu verbessern. Einmal wurden die vor Dreck stehenden Arbeitssachen 60 Tage nicht gewechselt, es gab Suppe von 1969 und beim Auswickeln des Camembert krochen Würmer heraus… Einmal ging er in Hungerstreik, saß im Arrest. Das Bett wurde nur nachts aufgeschlossen, das Klo war nachts zu. Nach 3 Tagen ohne Essen und Trinken öffnete man ihm das Klo nicht mehr, “wer nicht ißt, braucht sich nicht waschen und braucht auch nicht Zähne putzen”, nach 5 Tagen, als es ihm schon ständig schwarz wurde, kamen sie, legten ihm Schellen mit Ketten an Händen und Füßen, legten ihn auf ein Stahlbett und ernährten ihn per Zwang mit einem Trichter – da gab er auf.
Dass es sowas bei uns gibt! Sebastians (2) Name kam ihm bekannt vor, aber sein Gesicht kannte er nicht. Er wird sich kümmern. Am nächsten Morgen rief ich den Rechtsanwalt Frenzel an, der aber würde sich frühestens am 16.11. des Falles annehmen. Ich rief Hanewinckel an, wir versuchten noch 2 andere RA’s zu erreichen. Es wurde Mittag. Ich rief Sebastians Mutter an, wegen neuer Info. Am Vortag waren vom Strafvollzug und von Sebastian je 1 Brief gekommen. Sebastian schreibt, es ginge ihm gut… er hätte einen Brief schmuggeln wollen und wäre dafür disziplinarisch belangt worden. Auf dem Kopf hätte er eine Entzündung, wegen der seine Haare ab mußten. Sebastian als Skinhead… Ein neuer Besuch stand nicht drin.
Von Hanewinckel gegen 16:00 neue Nachricht. In der Puschkinstrasse, im Haus der jg. Gemeinde wäre gerade SDP-Tagung, hinten säße Dr. Willms mit schwarzem Hemd und beigem Pullover drüber… der wüßte Bescheid und würde mich einem Rechtsanwalt vermitteln. Als ich endlich hinfand, war die Tagung eben zu Ende und Dr. Willms über alle Berge. Bei Pfarrer Körner im Haus rief ich Hanewinckel an. Der gab mir dann die Adresse des RA Schwahn im (…)weg (…), Halle-Döhlau. Es war inzwischen dunkel geworden. Mit der Str(aßen)bahn fuhr ich raus, fand die Bushaltestelle, wartete 1/2 Stunde und fuhr mit der A bis Döhlau-Post, ödeste Wildnis, die nächsten 3 Leute kannten den Weg nicht. Ich irrte durch das öde menschenleere Nest, kreuz und quer, entdeckte einen Mann in einer Einfahrt, der mir den Weg erklärte. Ich fand den Weg – der verlassenste in ganz Döhlau. Nebel, kaum ein Licht, die Häuser weit auseinander, kein Laut, Pfützen, Wald herum. Oh Grusel, ich mittendrin. Ich irrte bis zur 1B, dann war die Welt schwarz und zu Ende.
Beim letzten Licht bimmelte ich einen Mann heraus. Der Weg würde rechts abbiegen und dann wieder links und dann käme schon die Einfahrt des RA. Also wieder in die Nacht, Riesenpfützen, Schwärze, blindes Gehen, Knistern. Eine Andeutung von Weg linker Hand. Ich riß die Augen auf und kämpfte gegen Verzweiflungstränen, lief auf ein Licht zu. Kurz vor dem Haus ein wütendes Bellen. Herrgott. Ich hob die Hände und rührte mich gar nicht. Der Hund schwieg, ich ahnte, dass er fest lag, weil er nicht kam. Ich scharrte mit dem Fuß, dass er wieder bellte und jemanden zum Nachschauen zwang. Es funktionierte. Der da kam war RA Schwahn selbst.
Er hörte mich an und versprach zu helfen. Nur die Vollmacht müßte Frau (… =Sebastians Mutter) unterschreiben. Ich irrte durchs Dunkel zurück, rannte viel, fuhr ins Zentrum, zur Mahnwache, suchte den Pfarrer vergeblich und fuhr nach Haneu. Die Kleine Kathrin (3) war inzwischen da. Ich sah sie zum letzten Mal. Ich kanns noch nicht fassen. Wenn ich rüber komme, dann muss ich sie in Kassel besuchen, das ist nicht so sehr weit von Frankfurt am Main. Wir haben noch einen Abschiedswermut getrunken. Die Mutter (von Sebastian) rief ich wieder an, über G., C. holte sie (ADB: sie hatte kein eigenes Telefon). Inzwischen war ein 2. Brief eingetroffen, mit Sprecherkarte (=Besuchserlaubnis im Gefängnis) für den 19.11.89 – für G. Später weiter, Leipzig naht.
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(1) Pfarrer Hans-Joachim Hanewinckel wird mir als eine der eindrucksvollsten Personen der Wendezeit für immer im Gedächtnis bleiben (wer ihn kennt, bitte richtet ihm das aus, sowie meinen Respekt, meine Hochachtung und meine Dankbarkeit – ich hoffe, ich schaffe das auch mal persönlich!). Er war das Herz der Mahnwache, die am 10.10.1989 an der Georgenkirche eingerichtet wurde, nachdem es rund um den 40. DDR Geburtstag (7.10.89) gewalttätige Übergriffe der Polizei und Verhaftungen in Halle gegeben hatte. Leipzig mag als Stadt der DDR Opposition bekannter sein, aber auch in der Nachbarstadt Halle ist damals sehr viel passiert. Ich empfehle das Dokument „Keine Gewalt! Dokument und Interviews. Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale“ von Udo Grashoff. Es ist chronologisch gegliedert, unterscheidet zwischen nationalen und lokalen Ereignissen, und enthält in den über 100 Seiten auch Stasidokumente und Fotos aus der Zeit. Es ist ein wunderbares zeitgeschichtliches Dokument. Ein Interview mit Hans-Joachim Hanewinckel zu Wende und Mauerfall kann man HIER nachlesen (dort gibt es auch eine schöne Fotostrecke von der Mahnwache).
(2) Sebastian heißt eigentlich anders. Ein Freund aus Kindertagen, der in Halle im Gefängnis saß. Ich hatte mich als seine Verlobte ausgegeben, um Schreib- und Besuchsrechte zu erhalten. Es hatte Anfang Oktober auch in der Justizvollzugsanstalt Proteste gegeben, von denen er mir in einem Schmuggelbrief berichten wollte. Er war erwischt worden (siehe dazu auch Teil 4 der Tagebücherserie) und litt unter verschärften Haftbedingungen. Ich wollte mit der Hilfe von Pfarrer Hanewinckel Rechtsbeistand organisieren.
(3) Die Kleine Kathrin war eine Kommilitonin von mir. Ihr Ehemann war in die westdeutsche Botschaft in Ost-Berlin geflohen und verließ sie erst nach dem Versprechen, in absehbarer Zukunft ausreisen zu dürfen. Einige Monate später bekam er die Erlaubnis und mußte seine Frau zurück lassen. Sie hatte ebenfalls einen Ausreiseantrag gestellt und bekam endlich die Bewilligung. Deshalb dachte ich, ich würde sie nie wieder sehen… Mehr über die Kleine Kathrin gibts in Teil 4 dieser Tagebuchserie. Ihr Spitzname „Kleine Kathrin“ ist dem Umstand zu verdanken, dass wir 4 Kathrins in unserer Studiengruppe hatten, das waren die „Kleine Kathrin“, die „Blonde Kathrin“, die „Große Kathrin“ und die „Holz-Kathrin“ (die Holzgestaltung studierte). (Fußnote 3 ergänzt am 30.10.2014)
Dies war der 5. Teil einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989. Weitere folgen in den nächsten Tagen. Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch ans Herz gelegt.
For english versions, see HERE.
Weitere Informationen rund um die Wende ’89:
- umfangreiche Sammlung von Originaldokumenten aus der Wendezeit
- Teil 1: Tagebucheintrag 4.10.1989
- Teil 2: Tagebucheinträge 6. und 9.10.1989
- Teil 3: Tagebucheintrag vom 15.10.1989
- Teil 4: Tagebucheintrag vom 02.11.1989
- Teil 6: Tagebucheintrag vom 09.11.1989
- Teil 7: Tagebucheintrag vom 13.11.1989
- Resolutionen der Fachschule für Angewandte Kunst vom 9. und 10.Oktober 1989
- Ein Brief in Spiegelschrift vom 9.10.1989
- mein Buch – Mauern einreißen
- Fotos aus der Wendezeit
Ich nahm 1989 an wenigen Veranstaltungen, wie es meine Schichten zuließen, in der Kirche St.Georgen teil und aus meiner heutigen Sicht hatte uns vereint der Wille eine Opposition zur Staatsmacht ein zu fordern. Ich erinnere mich wie schwierig es war viele unterschiedliche Meinungen zu bündeln und etwas gemeinsames zu erreichen. Heute, vor genau 28 Jahren am 9.10.1989 fuhr ich nach Leipzig um in der Nikolaikirche einen Platz zu bekommen. Als wir aus der Kirche traten war ich ergriffen mit soviel Demonstranten hatte wohl niemand gerechnet es war für mich ein überwältigendes Erlebnis, ich bekomme heute noch Gänsehaut wenn ich daran zurück denke. Auf dem weg zum Hbf. kreuzten Mitglieder der KG (unbewaffnet) unseren Demonstrationszug trotzdem hatte ich Gänsehaut, Herr Masur sprach über den Stadt Funk und rief alle beteiligten zur Gewaltlosigkeit auf, gestoppt wurden wir an der Blechbüchse hier hatten die KG eine 3erAbsperrkette gebildet dahinter standen Panzerwagen mit Schiebeschild sowie Hundeführer welche alle nicht zum Einsatz kamen. Nach Auflösung der Demonstration sah ich die einzig bewaffneten Kräfte, Bahnpolizei mit MPi standen links und rechts am Aufgang. Überrascht war ich als hörte in Halle/Saale wurden Demonstranten festgenommen, da waren wir in Leipzig wohl doch zu viele. Wenn ich heute zurück denke finde ich es schade das wir schon wieder bevormundet werden und die Menschen mehrheitlich lieber am Biertisch debattieren als das Gefühl der Kraft kennen zu lernen gemeinsam denen da oben zu sagen, wir sind der Souverän und ihr entscheidet nichts gegen uns.
Vielen Dank für Ihren spannenden Bericht zum 9.10.1989 in Leipzig. Ich glaube auch, dass wir uns viel öfter an unseren Einfluss damals erinnern sollten. Mir gibt das Kraft, mich für Dinge einzusetzen, für die zu kämpfen es sich lohnt und eben nicht abzuwinken und nur rumzumeckern, „weil sich das ja eh alles nicht lohnt“. Kämpfen und sich wehren lohnt sich immer. Aber mit Herz und Verstand… Unsere Revolution 1989 war friedlich und nicht von Hass erfüllt, wie heute z.B. Pegida Demos, die unsere Leistungen 1989 für ihre Zwecke mißbrauchen und behaupten, sie seien jetzt „Das Volk“. Auch dagegen müssen wir aufstehen, denn sonst sind wir die damals erkämpften Freiheitsrechte in einer Diktatur anderer Art wieder los…
mit freundlichen Grüßen,
Anke Domscheit-Berg