Meine Tagebuchnotizen vom 6. und vom 9. Oktober 1989.
Dies ist Teil 2 aus der Reihe „Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989“, Teil 1 ist ein Tagebucheintrag vom 04.Oktober 1989, er findet sich HIER. Dort gibt es auch eine kleine Einleitung zu dieser Reihe. Auf meiner Homepage gibt es auch noch mehr Dokumente aus der Wendezeit (LINK) und persönliche Bilder von 1989 (LINK) sowie Informationen zu meinem Buch „Mauern einreißen!“ (LINK).
Kürzungen (private Inhalte) sind erkennbar an „(…)“, Erklärungen gibt es in Klammern: (ADB: Erklärung)
Den 6.10. 89 – Schneeberg – Kunstgeschichte, Freitag
K. (ADB: Lehrer für Kunsterziehung) erzählt vom Futurismus. Freitag Nachmittag ist dafür denkbar ungeeignet. Bin müde, habe heute verschlafen. (…) Habe gestern zuhause angerufen. (…) Die Meuder (ADB: meine Mutter) hat erzählt, daß Kuno mit Kollegen eine Betriebsfahrt in die CSSR machen wollte, Visum abgelehnt. Hier bekommt man nicht mal mehr einen Antrag. Nur Reisebüro-reisende dürfen noch… Schweinerei. (…) Habe ein Buch über “Deutsch als Männersprache” gelesen (Pusch), sehr interessant. Ich beobachte meine Worte und die Anderer. (…). Warum sagt man in Sport zu einer Gruppe “8 Mann”, wo doch 7 Frauen dabei waren! Warum “jedermann” sagen, wenn nur weibliche Menschen gemeint sind? So viele sprachliche Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen. (…)
Gundi war gestern in Plauen, dort war viel los, wegen der durchfahrenden Flüchtlingszüge aus Prag und Warschau. Man stand auf den Gleisen und die Gummiknüppel räumten die Bahnsteige. In der Markuskirche war eine (2) Großveranstaltung als Friedensgottesdienst getarnt. Da ging es auch friedlich aber sehr aktuell zu. Morgen ist Gorbi in Berlin…bin gespannt, ob ich doch mal reinfahre? Wer weiß, heißes Pflaster und die Fahnen und Stasimänner sind gewiß widerlich und unerträglich. Da werde ich wohl in Müncheberg bleiben und Teppich schrubben. Kunstgeschichte nimmt kein Ende. Diese geschraubten Sätze: “so Boccioni, der da sagte ‘…’” pfui, kein normales Deutsch kriegt der raus. Meuderchen sagt, alle sind so, die kunstgeschichteten Männer. (…)
09.10.1989 – Schlema, 19°°, WH d. FAK, Montag
Ist der Republikgeburtstag also vorbei. Erwartungen übererfüllt. Soviel passiert, heute wieder Versammlung der Studenten. Ziel= Erfahrungsaustausch. Jetzt kommt es. Überall Schlagstöcke, Hunde, Helme, Schilder, Wasserwerfer, Verletzte, allein in Berlin 700 Gefangene. U.’s Freund darunter. 24 Stunden gefangen, davon 2 Std. von Gefängnis zu Gefängnis gefahren – alle schon voll. 18 Stunden auf dem Stuhl sitzend, registriert wie Schwerverbrecher, kein Essen, Klo in 4-Mann-Begleitung. In Leipzig in einer Kirche = 150 Leute, Rufe “Wir bleiben hier” – einfach alle bis auf 12 in LKW geladen und rein in einen Westzug… U. war mit Freund nur vom Jugendclub gekommen. Straße mit Grünen abgeriegelt. Kampftruppen (gemeint waren die paramilitärischen Kampfgruppen) überall, jeden auf der Straße eingeladen, ohne Auskunft, jeden. Auf dem Alex einige Tausend mit Chören wie “Demokratie hier”, “Wir bleiben hier”, “Stasi raus” “Gorbi hilf uns”, “Keine Gewalt” etc.
Polizei holte wieder wahllos Leute. Im ND (ADB: Neues Deutschland) heute – eine dicke Zeitung voll Jubel, Hetze, über Vorgehen der Westbullen gegen Antifa-Demo, irgendwo eine 5 Zeilen Notiz über die vereitelte Provokation – Störung der der Feierlichkeiten auf dem Alex, Festnahme der Rädelsführer der Randalierer – alles, kein Leipzig, kein Potsdam – wo B. nur noch Bullen und Krankenwagen sah, in Leipzig eine Kanone mit Gummigeschossen, in Dresden etliche Tausende, auch mit Gewalt bekämpft. Öffentliche Bekanntmachung: Wer Ausreise will bei dem zuständigen Stadtbezirksvorstand melden – erledigt in 2 Tagen, gültig nur für Dresdner, in Plauen: 20.000 Demonstranten, eingeschlagene Scheiben, Ronny hat geknipst, beinahe den Apparat dafür lassen müssen, der Film mußte geopfert werden. Ein Freund hat heimlich mit kleiner Kamera geknipst. Mal sehen, ob das durchkommt. Gundi wollte auch hin, kommt sicher erst morgen. Es wird kriminell. D. schreibt, die Grenzen nach Polen und CSSR werden gesichert, weil noch so viele flüchten. Falk hat erzählt bei ihm in Grenznähe wimmele es nur so von “Grünen”. Wo die soviel Sicherheit aufeinmal herhaben! (…)
Die eingefügten Zeitungsartikel waren im hinteren Zeitungsteil zu finden. Wie die erste Seite der gleichen Zeitung aussah (ein Jubeln zum 40. Republiksgeburtstag) kann man sich HIER anschauen.
Dies war der 2. Teil einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989. Weitere folgen in den nächsten Tagen. Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch ans Herz gelegt 🙂
UPDATE 4.10.2014: Am 09. und am 10.10.1989 habe ich unter dem Eindruck der oben beschriebenen Erlebnisse gemeinsam mit Student*innen der Fachschule für Angewandte Kunst Schneeberg, an der ich seinerzeit studierte, zwei Resolutionen veröffentlicht. Dazu gibt es jetzt auch einen Blogpost (LINK).
UPDATE 21.10.2014: In den Tagen nach dem 7. Oktober 1989 haben wir Student*innen untereinander Berichte aus den Heimatregionen ausgetauscht, auf Zetteln habe ich die Fakten notiert. Ein solcher Zettel hat die Zeit überlebt, man kann ihn sich HIER ansehen.
UPDATE 7.10.2014:
Weitere Informationen rund um die Wende ’89 im Überblick:
- umfangreiche Sammlung von Originaldokumenten aus der Wendezeit
- Teil 1: Tagebucheintrag 4.10.1989
- Teil 3: Tagebucheintrag 15.10.1989
- Teil 4: Tagebucheintrag 2.11.1989
- Teil 5: Tagebucheintrag vom 05.11.1989
- Teil 6: Tagebucheintrag vom 09.11.1989
- Teil 7: Tagebucheintrag vom 13.11.1989
- Resolutionen der Fachschule für Angewandte Kunst vom 9. und 10.Oktober 1989
- Ein Brief in Spiegelschrift vom 9.10.1989
- mein Buch – Mauern einreißen
- Fotos aus der Wendezeit