Vor 25 Jahren – Resolutionen der FS für Angewandte Kunst Schneeberg vom 9. u. 10.10.1989

Ausschnitt aus der Resolution der Student*innen der FAK Schneeberg vom 09.10.1989

Vor 25 Jahren war ich FDJ-Sekretärin an der Fachschule für Angewandte Kunst, Schneeberg (Erzgebirge), wo ich Textilkunst studierte. Wir Student*innen haben diesen heißen Herbst 1989 mit vielen Debatten verbracht, viele von uns haben sich am Widerstand beteiligt, unter anderem haben wir Dokumente der Opposition weiterverbreitet. Nacht für Nacht saß ich selbst an der Schreibmaschine meines Großvaters und schrieb v.a. Dokumente des Neuen Forums ab, Aufrufe (z.B. „Aufbruch 1989“ vom 10.09.1989) und Mitgliederlisten ab, sowie Dokumente anderer oppositioneller Gruppen (siehe auf meiner Dokumentenseite für mehr). Aber ich schrieb auch für uns Student*innen Resolutionen, die wir nach Debatte als unsere Stellungnahme verteilten.

Die erste Resolution entstand am 09.10.1989, nachfolgend der Text im Wortlaut (Bildausschnitt siehe oben, Datei als pdf HIER):

Resolution der Studenten der FAK Schneeberg

Wir Studenten sind tief besorgt und beunruhigt über die gegenwärtige Krisensituation unserer Gesellschaft. Unser Land kann seine Jugend nicht halten, es gefährdet seine Zukunft. Wir können uns unsere Hoffnungen für unsere Zukunft nicht zerstören lassen. Die Verharmlosung und Leugnung der Ernsthaftigkeit der Sitaution, die Gewaltausübungen seitens der Staatsführung machen einen Dialog von vornherein unmöglich. Es muss eine Basis für ein Vertrauensverhältnis zwischen Staatsführung und Volk geschaffen werden.

Wir wollen nicht weiter passiv bleiben und damit mitschuldig an der Deformierung unserer sozialistischen Ideale sein.

Wir werden uns bei der Gestaltung unserer Zukunft mit all unseren Fähigkeiten einbringen. Mut macht uns die wachsende Bereitschaft breiter Bevölkerungskreise, sich an der Erneuerung der Gesellschaft zu beteiligen. Ein Zeichen dafür sind die vielfachen Resolutionen aus allen Teilen der DDR (VBK, Kulturbund Berlin, Komitee für Unterhaltungskunst, Schriftstellerverband, VEB Bergmann Borsig, Evangelische Kirche, Verband der Theaterschaffenden, Neues Forum, Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt, SDP).

Wir solidarisieren uns mit dem Aufruf der Schauspielstudenten Berlin.

Schneeberg, den 9.10.1989

Diese Resolution entstand unter dem Eindruck der neuesten Berichte zu Übergriffen und Aufständen insbesondere rund um den 40. Geburtstag der DDR. In meinem Tagebuch habe ich darüber geschrieben (meine alten Tagebuchnotizen dazu gibt es HIER – Tagebuch vom 4.10.89 –  und HIER – Tagebuch vom 6. und 9.10.1989). Innerhalb von 24 Stunden habe ich die Resolution noch einmal überarbeitet, am 10.10.1989 war das neue Exemplar fertig. Ich stellte ihr ein Zitat von meinem Lieblingsautor Tschingis Aitmatow voran.

Resolution der Student*innen der FAK Schneeberg vom 10.10.1989

Ausschnitt aus der Resolution der Student*innen der FAK Schneeberg vom 10.10.1989

Der vollständige Text dieser Resolution vom 10.10.1989 im Wortlaut:

Nicht mehr ganz fünftausend Tage trennen uns vom Jahrtausendende… Die Menschen sind von einem Gefühl der Verzweiflung erfüllt. Die traditionellen Institutionen haben sich überlebt. Wir alle müssen uns an der Suche nach neuen Lösungen beteiligen.
Tschingis Aitmatow
Resolution der Studenten der Fachschule für Angewandte Kunst Schneeberg vom 10.10.1989
Die dramatische Zuspitzung der Krisensituation in unserem Lande zwingt uns Studenten zur öffentlichen Äußerung.

  • Die Ignoranz der Partei- und Staatsführung gegenüber den bestehenden Widersprüchen,
  • Die Kriminalisierung der Reformbemühungen,
  • Das starre Festhalten am überholten Kurs,
  • Identitätskrise und Massenflucht,
  • sowie die wachsende Zerstörung der Umwelt bedrängen uns.

Wir Studenten können uns unsere Hoffnung auf unsere Zukunft nicht zerstören lassen. Wir wollen nicht weiter passiv bleiben und damit mitschuldig an der Deformierung unserer sozialistischen Ideale sein. Wir wollen eine Gesellschaft, die einen Sozialismus möglich macht und die die Hoffnung auf eine sinnvolle Zukunft, für die es sich lohnt zu studieren, zu arbeiten, zu leben und sich mit aller Kraft und Kreativität zu engagieren, zuläßt. Dazu brauchen wir in erster Linie das Vertrauen der Partei- und Staatsführung. Wir fordern den öffentlichen Dialog mit allen gesellschaftlichen Kräften, auch mit den neue entstandenen alternativen Gruppen. Die Vorstellungen der Initiativen entsprechen unseren Gefühlen, unserem Denken und müssen öffentlich zur Diskussion stehen. Wir stellen den absoluten Wahrheitsanspruch der Partei- und Staatsführung in Frage. Ebenso können wir uns nicht mit der alleinigen Vertretung unserer Interessen durch die staatliche Massenorganisation FDJ identifizieren. Wir schlagen die Bildung unabhängiger Studentenvertretungen vor. Wir werden uns den Widersprüchen stellen und fordern Gleiches von der Partei- und Staatsführung. Nur so ist eine Lösung, ein Ausweg aus dieser Krise und der Bestand der sozialistischen Gesellschaft möglich. Mut macht uns die wachsende Bereitschaft breiter Bevölkerungskreise, sich an der Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft zu beteiligen. Ein Zeichen dafür sind die vielfachen Resolutionen.
Wir haben erfahren, dass an der Fachschule für Angewandte Kunst Heiligendamm 14 Studenten die Exmatrikulation angedroht wurde aufgrund ihres politischen Engagements. Wir protestieren entschieden dagegen und solidarisieren uns hiermit mit den Studenten der FAK Heiligendamm.
Im Auftrag der gesamten Studentenschaft durch die FDJ-GO der FAK Schneeberg
FDJ-GO Sekretär
Anke Domscheit-Berg  (zu diesem Edit siehe Kommentar vom 16.8.2016 und meine Antwort darauf!)

Ich schickte diese, unsere wichtigste Resolution, vom 10.10.1989, an eine ganze Reihe Adressaten. Ich erinnere mich nicht mehr an wen genau, aber von einigen habe ich Antworten erhalten, die ich im Original aufbewahrt habe. Dies sind Antworten vom Staatsrat der DDR, vom Zentralrat der FDJ und von der nationalen Presseagentur der DDR, dem ADN. Interessant der Hinweis in der Antwort des Staatsrates, dass unsere Resolution an das Ministerium des Inneren weitergeleitet wurde. Dem MdI war die Staatssicherheit unterstellt… überrascht hat uns der offene Hinweis darauf,  nicht der Umstand der Weiterleitung.

Antwort des Staatsrates der DDR auf unsere Studentenresolution vom 10.10.1989

Antwort des Staatsrates der DDR auf unsere Studentenresolution vom 10.10.1989

Noch mehr Informationen:
Weitere Informationen rund um die Wende ’89:

 

Teil 2: Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989 DDR (6.+9.10.1989)

Meine Tagebuchnotizen vom 6. und vom 9. Oktober 1989.
Dies ist Teil 2 aus der Reihe „Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989“, Teil 1 ist ein Tagebucheintrag vom 04.Oktober 1989, er findet sich HIER. Dort gibt es auch eine kleine Einleitung zu dieser Reihe. Auf meiner Homepage gibt es auch noch mehr Dokumente aus der Wendezeit (LINK) und persönliche Bilder von 1989 (LINK) sowie Informationen zu meinem Buch „Mauern einreißen!“ (LINK).
Kürzungen (private Inhalte) sind erkennbar an „(…)“, Erklärungen gibt es in Klammern: (ADB: Erklärung)
Den 6.10. 89 – Schneeberg – Kunstgeschichte, Freitag

K. (ADB: Lehrer für Kunsterziehung) erzählt vom Futurismus. Freitag Nachmittag ist dafür denkbar ungeeignet. Bin müde, habe heute verschlafen. (…) Habe gestern zuhause angerufen. (…) Die Meuder (ADB: meine Mutter) hat erzählt, daß Kuno mit Kollegen eine Betriebsfahrt in die CSSR machen wollte, Visum abgelehnt. Hier bekommt man nicht mal mehr einen Antrag. Nur Reisebüro-reisende dürfen noch… Schweinerei. (…) Habe ein Buch über “Deutsch als Männersprache” gelesen (Pusch), sehr interessant. Ich beobachte meine Worte und die Anderer. (…). Warum sagt man in Sport zu einer Gruppe “8 Mann”, wo doch 7 Frauen dabei waren! Warum “jedermann” sagen, wenn nur weibliche Menschen gemeint sind? So viele sprachliche Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen. (…)

Ausschnitt-1989-10-06

Gundi war gestern in Plauen, dort war viel los, wegen der durchfahrenden Flüchtlingszüge aus Prag und Warschau. Man stand auf den Gleisen und die Gummiknüppel räumten die Bahnsteige. In der Markuskirche war eine (2) Großveranstaltung als Friedensgottesdienst getarnt. Da ging es auch friedlich aber sehr aktuell zu. Morgen ist Gorbi in Berlin…bin gespannt, ob ich doch mal reinfahre? Wer weiß, heißes Pflaster und die Fahnen und Stasimänner sind gewiß widerlich und unerträglich. Da werde ich wohl in Müncheberg bleiben und Teppich schrubben. Kunstgeschichte nimmt kein Ende. Diese geschraubten Sätze: “so Boccioni, der da sagte ‘…’” pfui, kein normales Deutsch kriegt der raus. Meuderchen sagt, alle sind so, die kunstgeschichteten Männer. (…)

09.10.1989 – Schlema, 19°°, WH d. FAK, Montag

Tagebuch 09.10.1989

Tagebuch 09.10.1989

Ist der Republikgeburtstag also vorbei. Erwartungen übererfüllt. Soviel passiert, heute wieder Versammlung der Studenten. Ziel= Erfahrungsaustausch. Jetzt kommt es. Überall Schlagstöcke, Hunde, Helme, Schilder, Wasserwerfer, Verletzte, allein in Berlin 700 Gefangene. U.’s Freund darunter. 24 Stunden gefangen, davon 2 Std. von Gefängnis zu Gefängnis gefahren – alle schon voll. 18 Stunden auf dem Stuhl sitzend, registriert wie Schwerverbrecher, kein Essen, Klo in 4-Mann-Begleitung. In Leipzig in einer Kirche = 150 Leute, Rufe “Wir bleiben hier” – einfach alle bis auf 12 in LKW geladen und rein in einen Westzug… U. war mit Freund nur vom Jugendclub gekommen. Straße mit Grünen abgeriegelt. Kampftruppen (gemeint waren die paramilitärischen Kampfgruppen) überall, jeden auf der Straße eingeladen, ohne Auskunft, jeden. Auf dem Alex einige Tausend mit Chören wie “Demokratie hier”, “Wir bleiben hier”, “Stasi raus” “Gorbi hilf uns”, “Keine Gewalt” etc.

Ausschnitt Freie Presse 9.10.1989, Berichterstattung zum 7.10.89 (40. Republikgeburtstag) in Berlin

Ausschnitt Freie Presse 9.10.1989, Berichterstattung zum 7.10.89 (40. Republikgeburtstag) in Berlin

Polizei holte wieder wahllos Leute. Im ND (ADB: Neues Deutschland) heute – eine dicke Zeitung voll Jubel, Hetze, über Vorgehen der Westbullen gegen Antifa-Demo, irgendwo eine 5 Zeilen Notiz über die vereitelte Provokation – Störung der der Feierlichkeiten auf dem Alex, Festnahme der Rädelsführer der Randalierer – alles, kein Leipzig, kein Potsdam – wo B. nur noch Bullen und Krankenwagen sah, in Leipzig eine Kanone mit Gummigeschossen, in Dresden etliche Tausende, auch mit Gewalt bekämpft. Öffentliche Bekanntmachung: Wer Ausreise will bei dem zuständigen Stadtbezirksvorstand melden – erledigt in 2 Tagen, gültig nur für Dresdner, in Plauen: 20.000 Demonstranten, eingeschlagene Scheiben, Ronny hat geknipst, beinahe den Apparat dafür lassen müssen, der Film mußte geopfert werden. Ein Freund hat heimlich mit kleiner Kamera geknipst. Mal sehen, ob das durchkommt. Gundi wollte auch hin, kommt sicher erst morgen. Es wird kriminell. D. schreibt, die Grenzen nach Polen und CSSR werden gesichert, weil noch so viele flüchten. Falk hat erzählt bei ihm in Grenznähe wimmele es nur so von “Grünen”. Wo die soviel Sicherheit aufeinmal herhaben! (…)

Freie Presse, 09.10.1989 zu Protestaktionen am Republiksgeburtstag

Freie Presse, 09.10.1989 zu Protestaktionen am Republiksgeburtstag

Die eingefügten Zeitungsartikel waren im hinteren Zeitungsteil zu finden. Wie die erste Seite der gleichen Zeitung aussah (ein Jubeln zum 40. Republiksgeburtstag) kann man sich HIER anschauen.
Dies war der 2. Teil einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989. Weitere folgen in den nächsten Tagen. Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch ans Herz gelegt 🙂
UPDATE 4.10.2014: Am 09. und am 10.10.1989 habe ich unter dem Eindruck der oben beschriebenen Erlebnisse gemeinsam mit Student*innen der Fachschule für Angewandte Kunst Schneeberg, an der ich seinerzeit studierte, zwei Resolutionen veröffentlicht. Dazu gibt es jetzt auch einen Blogpost (LINK).
UPDATE 21.10.2014: In den Tagen nach dem 7. Oktober 1989 haben wir Student*innen untereinander Berichte aus den Heimatregionen ausgetauscht, auf Zetteln habe ich die Fakten notiert. Ein solcher Zettel hat die Zeit überlebt, man kann ihn sich HIER ansehen.

Notiz-Zettel mit Informationen Dritter zu Vorfällen am 7.10.1989

Notiz-Zettel mit Informationen Dritter zu Vorfällen am 7.10.1989

UPDATE 7.10.2014:
Weitere Informationen rund um die Wende ’89 im Überblick:

Terminhinweis: Debatte mit meinem Mann und mir in Wien am 12.6.14 zu "Widerstand im digitalen Zeitalter"

Das Bruno Kreisky Forum lädt am 12.6.2014 in Wien zu einer Debatte ein, die aktueller nicht in die heutige Zeit passen könnte. Es geht um die Frage des Widerstands im digitalen Zeitalter, um Transparenz und mehr Mitbestimmung für Bürgerinnen und Bürger, darum, wie wir uns etwa gegen unkontrollierte und ausufernde Massenüberwachung durch Geheimdienste im In- und Ausland wehren können.
Wann: 12.06.2014, 19:00 Uhr
Wo: Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog, Armbrustergasse 15, 1190 Wien, Österreich
Wer: Anke und Daniel Domscheit-Berg als Debattengäste, Moderation: Isolde Charim, Autorin und Philosophin
Anmeldung: Ist erwünscht. Details dazu finden sich in der Einladung (pdf)
Logo Kreisky ForumIch freue mich auf die Debatte, gerade weil ich sie gemeinsam mit meinem Mann führen kann. Das ist zwar nicht unser erster Auftritt als Experten-Paar, aber es ist mir jedes mal ein besonderes Vergnügen. Wir führen ja tatsächlich ähnliche Debatten auch zuhause bei Tisch und auch das ist spannend, aber mit Publikum, das mit diskutiert, ist es noch einmal etwas Anderes. Wir freuen uns auf eine lebendige Diskussion in Wien und hoffentlich ein paar bekannte Gesichter! Kommt zahlreich 🙂