Jahresrückblick – für mich selbst

Immer wenn es wieder einmal Dezember wird, frage ich mich, wie ein Jahr denn schon wieder so schnell vergehen konnte und was ich denn so damit angestellt habe. Dieser Jahresrückblick ist daher keine Auswertung dessen, was in der übrigen Welt so passiert ist, sondern mein ganz persönlicher Rückblick auf dieses 2014 und meine Arbeit in dieser Zeit.
Ich habe viel geschrieben, zum Beispiel ein Buch.
Im Januar 2014 kam mein erstes Buch in die Welt: „Mauern einreißen! Weil ich glaube, dass wir die Welt verändern können.“ Es erschien bei Heyne, hatte Vorabdrucke in Die ZEIT und der FAZ, wurde in vielen Medien freundlich besprochen (siehe HIER für einen Überblick) und bescherte mir Lesungen in der ganzen Republik, die stets von lebendigen Debatten gefolgt wurden. Meine gelernte Erfahrung: ich kann gut vorlesen und sowohl ich als auch das Publikum haben etwas davon. In dem Buch geht es um diverse einzureißende Mauern, es kommt auch die deutsch-deutsche Mauer darin vor, die ich noch als Studentin in der DDR erlebt habe. Weil durch die Kombination aus Überwachungsskandal (NSA, BND und so weiter) und Mauerfall-Jubiläum das Interesse an den „Alten Zeiten“ hoch war, habe ich auch viele originale Unterlagen aus der Wende in der DDR hochgeladen.
Ich habe auch vor einem Vierteljahrhundert schon viel geschrieben – Tagebücher, Resolutionen, Manifeste…
Im Oktober / November 2014 habe ich meine alten Tagebuchnotizen des heißen Herbst 1989 veröffentlicht.  Aufgrund des hohen internationalen Interesses habe ich sie auch ins englische übersetzt. Diese Reihe an Veröffentlichungen hatte 7 Teile, sie sind alle im ersten Beitrag dazu verlinkt – deutsche Fassung HIER und englische Fassung HIER.
Obwohl ich das Buchschreiben als insgesamt anstrengenden Prozess empfunden habe (das Schreiben geht schnell, aber das Kürzen und Überarbeiten ist die Hölle!), habe ich es nicht lassen können und gleich ein zweites Buch  hinterher geschrieben. Das hat mich den ganzen Sommer und Herbst 2014 beschäftigt. Mein zweites Buch heißt „Ein bisschen gleich ist nicht genug. Warum wir von Geschlechtergerechtigkeit noch weit entfernt sind.“ und wird Anfang März 2015 ebenfalls bei Heyne erscheinen. Ich glaube, jetzt brauche ich aber doch eine Pause vom Bücher-schreiben.
Man nennt mich jetzt häufiger Publizistin, wohl weil ich öfter mal was schreibe, was man dann veröffentlicht lesen kann, hier einige Artikel, die in 2014 erschienen:

Als unverbesserliche Missionarin ihrer Ideen und Überzeugungen schreibe ich nicht nur, ich rede und debattiere auch viel, im Radio, auf Konferenzen, in Talkshows, hier ein kleiner Überblick über ein paar Termine aus 2014 (Aufzeichnungen finden sich in der Regel auf YouTube):

  • Markus Lanz (09.07.2014) – Thema Überwachung, Freiheit versus Sicherheit, gemeinsam mit meinem Mann Daniel
  • Maybrit Illner (17.07.2014) – Thema Überwachung, NSA, BND, u.a. mit Altmaier und Konstantin v. Notz
  • Maybrit Illner (11.09.2014) – Thema Shareconomy, Internet – u.a. mit Jeremy Rifkin
  • Münchner Runde (04.11.2014) – Thema 25 Jahre Mauerfall
  • Anne Will (05.11.2014) – Thema Bodo Ramelow und Thüringen – ein Linker MP – ist Deutschland schon so weit? (offenbar JA)

Gefühlt habe ich eine zillion Interviews gegeben, zu allen möglichen Themen, hier und da erschienen auch Portraits von mir, hier mal eine Auswahl:

Auch international gab es viel Nachfrage, vor allem rund um das Mauerfalljubiläum, hier ein paar davon:

Das Mauerfall-Jubiläum hat mich emotional sehr aufgewühlt, so viele Erinnerungen kamen hoch (siehe die Tagebücher und Originaldokumente). Gleichzeitig wurde durch das allgemeine und positive Gedenken an den Mauerfall die Widersprüchlichkeit noch krasser zwischen der Glorifizierung von „Fluchthelfern“ in der DDR Zeit und der Kriminalisierung von „Schleusern“, die in der Gegenwart Menschen auf der Flucht dabei helfen, die kranken Grenzanlagen rund um Europa (sie kosten Milliarden Euro!) zu überwinden. Ich habe mir dazu etwas von der Seele geschrieben, als mein Mann an einer Aktion des Zentrums für politische Schönheit teilnahm, um die Europäischen Außengrenzen einzureißen.
Ja und dann gab es noch die Piraten… kurz vor dem 04. Januar 2014 ließ ich mich dazu überreden, mich als Kandidatin der Piratenpartei für die Europawahlen anzubieten – auf dem Aufstellungsparteitag am 4.1. in Bochum wurde ich dann auf Platz 3 der Piraten-Europaliste gewählt. Es folgten wilde Wahlkampfmonate. Eigentlich war ich vom Bundestagswahlkampf noch ganz platt, da war ich erst ein paar Monate vorher auf Listenplatz 2 in Brandenburg als Kandidatin angetreten. Ich war außerdem Landesvorsitzende der Piratenpartei in Brandenburg, was auch eine Menge Arbeit bedeutete. Am 23.5.2014 war dann auch nicht nur die Europawahl sondern auch Kommunalwahl in Brandenburg. Der Wahlkampf war aufregend, ausbrennend, gleichzeitig er- und entmutigend. Ich kam überall in Deutschland herum, hatte auch beim Flauschwahlplakat-Guerillastricken an all meinen Wahlkampforten viel Spaß, lernte jede Menge großartiger Pirat*innen kennen aber auch Widerstand, Angriffe, #keinhandschlag Vertreter*innen und anderes, das mich sehr frustrierte. Die Wahlen waren leider nicht sehr erfolgreich, aber immerhin zog mit Julia Reda eine Piratin in das Europaparlament, die dort schon jetzt einen beeindruckenden Job macht. Für sie hat sich jede Minute Wahlkampfstress schon gelohnt.  Dennoch entwickelte sich die Piratenpartei als Ganzes in Deutschland in eine für mich nicht mehr erträgliche Richtung, deshalb bin ich im September 2014 ausgetreten und habe 2,5 Jahre Piratendasein für mich beendet. Meine Gründe habe ich HIER erklärt.
Das war mein Jahr im Schnelldurchlauf. Ich habe ganz sicher viel vergessen, für Bilder reicht die Zeit jetzt auch nicht mehr (vielleicht füge ich sie später ein), denn ich bin auf dem Sprung zum letzten Highlight in diesem Jahr – dem 31. Kongress des Chaos Computer Clubs: #31C3. Auf dem weltgrößten Hackerkongress werden sich dieses Jahr über 8.000 Menschen treffen, über Überwachung, Selbstschutz, 3D Drucker, Copyright, Informationsfreiheit, TTIP und vieles andere diskutieren. Ich freue mich darauf, dort wieder Freunde von überall her zu treffen und dort auch wieder eine Guerillastrickaktion zu machen, zum 4. mal in Folge (HIER kann man ein paar Bilder vom 29C3 sehen).
Ach ja, die Kunst – auch dieses Jahr habe ich wieder Umwelt verschönert, nach dem Spitzenbaum in Himmelpfort gab es dieses Jahr einen Spitzenbaum in Fürstenberg/Havel. Dazu folgt ganz bestimmt bald ein Bild!
 

Erster Europäischer Mauerfall – das würdigste Gedenken zum 25. Mauerfall-Jahrestag

Das Zentrum für Politische Schönheit wird am 9. November 2014 den Ersten Europäischen Mauerfall inszenieren, als Kunstaktion an der „größten Bühne der Welt“ – an den europäischen Außengrenzen.

„Während in Berlin Ballons in die Luft steigen und nostalgisch-sedierende Reden gehalten werden, wird die deutsche Zivilgesellschaft in einem Akt politischer Schönheit die europäischen Außenmauern zu Fall bringen.“ (Zentrum für Politische Schönheit)

Was haben denn deutsche Mauertote, die beim Verlassen eines Landes (der DDR) getötet wurden, zu tun mit Menschen, die beim Betreten einer Landesgrenze in die andere Richtung zu Tode kommen? Sterben beim Ausreisen ist doch überhaupt nicht vergleichbar mit Sterben beim Einreisen! Ü.B.E.R.H.A.U.P.T. N.I.C.H.T. Sagen jedenfalls ganz viele und, dass ein Vergleich der mehr als 23.000 Toten an Europas Grenzen in den letzten 14 Jahren mit den vermutlich mindestens 138  Maueropfern, (andere Quellen nennen über 1000 Tote), die in den 28 Jahren der deutsch-deutschen Mauer ums Leben kamen, sich verbietet – weil es das Gedenken an die letzteren verunglimpft, oder DDR Unrecht verharmlost.

Mein Mann Daniel Domscheit-Berg kurz vor dem Aufbruch zum Ersten Europäischen Mauerfall am Gorki-Theater Berlin, 7.11.2014

Mein Mann Daniel Domscheit-Berg kurz vor dem Aufbruch zum Ersten Europäischen Mauerfall am Gorki-Theater Berlin, 7.11.2014


Ich kann mit dieser Kritik nichts anfangen. Die Argumentation ist mir schleierhaft. Welchen Unterschied macht es für einen Menschen, wenn er oder sie beim Ein- oder Ausreisen an einer Grenze stirbt? Welchen Unterschied macht es für die Hinterbliebenen? Ist nicht in beiden Fällen eine Einschränkung der Reisefreiheit ursächlich für das Lebensrisiko beim Grenzüberschreiten? Ist nicht in beiden Fällen der Wunsch nach einem besseren Leben (nach in allen Fällen sehr individueller Interpretation dessen, was das jeweils bedeutet) die Motivation für den Mut, es trotz Lebensgefahr einfach zu versuchen?
Natürlich weiß ich, dass die Berliner Mauer ein perfides Konstrukt war, um die Bevölkerung einzusperren. Ich war eine der Eingesperrten und ich finde nichts daran verharmlosungswürdig. Aber für mich gibt es keine mehr oder weniger wichtigen Grenztoten. Ich finde JEDEN Tod an einer Grenze nicht nur unnötig sondern zutiefst unmenschlich und absolut unvereinbar mit dem Artikel 1 unseres Grundgesetzes, das sich bekanntlich nicht nur auf deutsche Staatsangehörige bezieht. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jedes Menschen. Die Art und Weise, wie die europäischen Außengrenzen „gesichert“ werden, ist eine extreme Verletzung der Würde von Menschen, die aus unhaltbaren Zuständen fliehen, um woanders ein würdevolleres Leben führen zu können. Hunger, Krieg und bittere Armut verjagen sie aus ihrer Heimat. Zustände, an denen der Reichtum der westlichen Teil einen sehr großen Teil zu verantworten hat. Unsere Antwort darauf ist eine Grenzkonstruktion, die durch ihr Design und das verwendete Material nicht nur Unüberwindbarkeit als Ziel hat, sondern offenbar auch schwere Verletzungen bis hin zum Tod – um abzuschrecken.
Ein Stück Natostacheldraht am Gorki-Theater, vor dem Start der Busse zum Europäischen Mauerfall

Ein Stück Natostacheldraht am Gorki-Theater, vor dem Start der Busse zum Europäischen Mauerfall


Mit Verlaub, ich finde das widerlich. Ich schäme mich dafür, wieder in einem Land – als Teil der Europäischen Union – zu leben, in dem man ganz bewußt in Kauf nimmt, das Menschen, die aus Not von woanders her fliehen, an unseren Grenzen sterben. Ich könnte kotzen bei der Vorstellung. Leider ist das aber tägliche Realität. Ja, jeden Tag sterben Menschen an unseren Grenzen – WEGEN dieser Grenzen. Während der Lektüre dieses Textes ist vielleicht jemand im Mittelmeer ertrunken, weil das Fluchtboot nur eine Nußschale war oder ein Grenzbewacher mit Gummigeschossen auf Flüchtlinge schoss. Oder es stürzte jemand an der spanischen Außengrenze beim Versuch den 7 meter hohen Zaun zu überklettern in den Nato-Stacheldraht, der mit geschliffenen Metallschneiden besetzt ist,  oder auf die andere Seite in ein Drahtgeflecht, wo zusätzlich reizende Flüssigkeiten aus automatischen Spritzanlagen am danach stehenden, fast 6 meter hohen Zaun in die offenen Wunden dringt. Das ist keine Fantasie. Solche haarsträubenden Zustände herrschen wirklich an den Außengrenzen unserer demokratischen Europäischen Union. Wir investieren sogar Millionen in den Ausbau dieser tödlichen Konstrukte.
schematische Darstellung der "Grenzsicherungsanlagen" bei Melilla, Spanien. Quelle: Zentrum für Politische Schönheit

schematische Darstellung der „Grenzsicherungsanlagen“ bei Melilla, Spanien. Quelle: Zentrum für Politische Schönheit


Ich finde es daher völlig angemessen und eine besonders gute Art des Mauerfall-Gedenkens vom Zentrum für Politische Schönheit, sich nicht nur der Nostalgie hinzugeben und davon zu schwärmen, wie großartig es war, durch Widerstand der Massen und diverse glückliche Umstände für 16 Mio DDR Bürger*innen die Freiheit zu erringen und die Mauer einzureißen sondern aus der Geschichte für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen und das Gelernte auf das Leben zu übertragen.

Eine solche Lektion heißt: tödliche Grenzen sind unmenschlich und mit demokratischen Grundwerten nicht vereinbar, sie gehören eingerissen.

Erster Europäischer Mauerfall - YouTube Film des Zentrums für Politische Schönheit (with engl. subtitles)

Erster Europäischer Mauerfall – YouTube Film des Zentrums für Politische Schönheit (with engl. subtitles)


Das Argument: „aber dann kommen doch Abermillionen Afrikaner*innen!!!EinsElf!! und was machen wir dann?!“ kann ich nicht gelten lassen, denn wie schon zitiert, die Würde des Menschen ist unantastbar. Immer. Man tötet einfach nicht. Niemanden. Nicht direkt aber auch nicht indirekt. Wenn wir dazu beitragen, dass woanders das Leben nicht mehr lebenswert ist, und Menschen deshalb Strapazen auf sich nehmen, um ihre Heimat zu verlassen, dann sollten wir uns endlich einmal aufrichtig fragen, wie wir das ändern können. Wir wir unser Leben so leben können, dass nicht unseretwegen woanders Not und Armut herrschen anstatt immer noch tötlichere Grenzanlagen zu bauen, damit auch ja die Ärmeren alle draußen bleiben.
Die westliche Welt verursacht den größten Anteil des Klimawandels, aber die dadurch ausgelösten Katastrophen haben vorwiegend Menschen in anderen, ärmeren Ländern zu ertragen. Wir exportieren die Waffen, mit denen in allen Kriegs- und Konfliktgebieten dieser Welt Menschen getötet werden. Wir kaufen die Billigjeans, die in Bangladesh in brüchigen Fabriken unter finstersten Bedingungen genäht werden. Wir verschenken die Blumen, die in Lateinamerika mit soviel Gift gezüchtet werden, dass dort die Schwangeren ihre Babies verlieren. Wir tanken den Biosprit, für den Ackerflächen gebraucht werden, auf denen früher Nahrungsmittel wuchsen, die jetzt andernorts fehlen. Wir tragen goldene Ringe und telefonieren mit Handies, an denen das Blut von Kindern klebt, die die dafür notwendigen Rohstoffe aus der Erde kratzen. Diese Liste ist leider beliebig lang fortsetzbar.
Eindringliche, wunderschöne Musik gabs am Gorki-Theater zum Start der Aktion Europäischer Mauerfall, der auch Start des Festivals Voicing Resistance war

Eindringliche, wunderschöne Musik gabs am Gorki-Theater zum Start der Aktion Europäischer Mauerfall, der auch Start des Festivals Voicing Resistance war


Wir sind ohne eigenes Zutun an der günstigeren Stelle der Welt geboren worden und meinen daraus ableiten zu können, dass wir mehr Wert sind und einen höheren, gewissermaßen naturgegebenen Anspruch auf die Reichtümer dieser Welt haben. Aber so ein Denkansatz ist purer Egoismus, er führt in gerader Linie zu den Grenzanlagen der EU-Außengrenzen. Wer von Euch würde einem Hungernden die Schale Essen wegnehmen oder einer Verdurstenden die Flasche Wasser aus der Hand schlagen? Wer würde ein Kind zurück in die Schußlinie zwischen verfeindeten Rebellen schubsen? Niemand mit Herz würde das fertig bringen. Aber diese Grenzanlagen haben das gleiche Ergebnis. Mit dem komfortablen Nebeneffekt, dass wir die Not nicht mehr sehen müssen und unsere Hände in Unschuld baden können. Dass wir nachts schön in unseren weichen und sauberen Betten schlafen können, weil uns nicht die Bilder der Hungernden, Durstenden und Traumatisierten verfolgen, die wir ausgestoßen und sich selbst überlassen haben. Wir schließen wie kleine Kinder die Augen und denken, dann ist das Problem nicht mehr da. Aber wir sind groß und wissen, dass das Unsinn ist. Das Problem ist da. Es einfach aussperren führt leider nie zu einer Lösung.
Kein Mensch ist illegal... Aufnahme vom Start zum Ersten Europäischen Mauerfall am Gorki-Theater Berlin, 7.11.2014

Kein Mensch ist illegal… Aufnahme vom Start zum Ersten Europäischen Mauerfall am Gorki-Theater Berlin, 7.11.2014


Wir müssen endlich kreativer werden, unsere enormen Ressourcen diesen Problemlösungen widmen und uns endlich daran erinnern, dass wir ALLE Menschen sind, die etwas verbindet, eine globale Empathie, ein Band aus Menschlichkeit. Würden wir gemeinsam an den Problemen dieser Welt arbeiten, wir hätten sie längst gelöst oder wären ihrer Lösung schon sehr nahe gekommen. Hunger ist kein Naturgesetz. Krieg auch nicht. Auch nicht Ebola.
Daran möchte ich an diesem 9. November, 25 Jahre nach dem Mauerfall gern erinnern. An die Notwendigkeit von Menschlichkeit, von Reisefreiheit und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Ich bin stolz auf alle, die die Idee mit dem Europäischen Mauerfall hatten und ihre Umsetzung durch Spenden ermöglichten (Spenden geht immer noch!)  und vor allem auf die, die die Risiken und Strapazen auf sich nahmen, mit zwei Bussen Tausende von Kilometern zurückzulegen, um mit Bolzenschneidern in einer Zweiten Friedlichen Revolution dem unmenschlichen Bollwerk zuleibe zu rücken. Mein Mann ist einer dieser Reisenden. Ich hoffe, er und alle anderen kommt unbehelligt zurück.
Ausschnitt ZDF Aspekte vom 7.11.2014

Ausschnitt ZDF Aspekte vom 7.11.2014 – im Bild einer der beiden Reisebusse, noch bewacht von Polizei, sowie Teilnehmende der Aktion Europäischer Mauerfall


Neben den neuen Mauern an Europas Außengrenzen gibt es noch viele andere Grenzen, an denen Menschen sterben. Egal ob in Mexiko, Israel oder Nordkorea: sie alle müssen weg.
Mehr zur Aktion:

Hintergrund zum Thema:

Medienberichte (Inland):

Medienberichte (Ausland):

 

Teil 6 – Aus meinem Tagebuch vor 25 Jahren – Die Mauer fällt – 9.Nov.1989


„Heute – heute vor Stunden die Nachrichten – Grenze der DDR geöffnet! Ausreisen innerhalb von 24 Stunden, Privatreisen ab sofort bei 1 Wo – 2 Wo. Anmeldung möglich. Unglaublich. Große Freude? Große Trauer, unbegreiflich? – Je Stunde 3.500 Ausreiser, je Stunde!! Oh je, alle verlassen uns.“


Meine Tagebuchnotizen vom 09. November 1989. (English version HERE!)

Dies ist Teil 6 aus der Reihe “Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989″, frühere Teile sind am Ende dieses Posts verlinkt, ebenso wie Dokumente, Fotos aus der Zeit und mein Buch „Mauern einreißen“. Es gibt alle Teile auch in englischen Übersetzungen auf meinem Blog. Kürzungen (private Inhalte) sind erkennbar an “(…)”, Erklärungen gibt es in Klammern: (ADB: Erklärung) oder so: (=blabla). Ausführlichere Erklärungen gibt es in Fußnoten.

***

09.11.89 – 0:15, WH, FREITAG
Bruder verloren? (1) Heute – heute vor Stunden die Nachrichten – Grenze der DDR geöffnet! Ausreisen innerhalb von 24 Stunden, Privatreisen ab sofort bei 1 Wo – 2 Wo. Anmeldung möglich.

Unglaublich. Große Freude? Große Trauer (2), unbegreiflich?  – Je Stunde 3.500 Ausreiser, je Stunde!! Oh je, alle verlassen uns. Ist Kuno (= mein Bruder) überhaupt noch da? Der Demokratische Aufbruch (3) hat sich vor dem Übergang hingestellt und Leute versucht, zum hierbleiben zu bewegen. Alles geht, zu so vielen, alles bricht zusammen. Ständig neue Rücktritte, (4) alles überschlägt sich.

Auf diesem Radiorecorder habe ich am 9.11.1989 die Nachrichten von der Grenzöffnung verfolgt

Auf diesem Radiorecorder habe ich am 9.11.1989 die Nachrichten von der Grenzöffnung verfolgt

Neujahr in Italien? (5) Wie geht es Sebastian? (6) Solche Nachrichten und er da drin (= Gefängnis), wichtige Zeit. Zeitgeschichte. Berliner Millionendemo unvergesslich, Plakatsprüche Zeitdokumente. Neben mir schnurrt Cäsar, unsere 3. WH Katze, neben Susi und Detlef. K. wie ausgewechselt, so lieb. Ach ja. Wir werden eine 6 Mon. Studienunterbrechung beantragen, um in der Prod. zu arbeiten. Fürs Gesundheitswesen haben wir uns jetzt schon zur Aushilfe gemeldet. In KMST (=Karl Marx Stadt, heute Chemnitz) will man “versuchen”, die Dispensairebetreuung, die DMH (=Dringliche Medizinische Hilfe) und die Intensivtherapie aufrecht  zu erhalten… der Rest liegt brach, frei haben sie dort kaum. Wird das die allg. Lage der Ärzte verbessern helfen? Arbeit im Betrieb oder Altersheim – gut für den Menschen, wahr, nebenbei Geld für Reisen verdienen. Im Sommer nach Amerika? Kann ich die Überfahrt bezahlen? M. lädt mich ein, eine so liebe Seele. Frankreich besuchen? Mittelmeer, Holland, alle Leute, (7) Tunesien, Luanda, woher Urlaub, woher Geld?? Ich habe Sehnucht, überallhin, um wiederzukommen.
Anke.

***

(1) Mein Bruder hatte die Ausreise beantragt und wie ich früher in mein Tagebuch schon schrieb, fürchtete ich bei einer Ausreise, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Bei den Nachrichten war mir also eine der wichtigsten Erkenntnisse: Mein Bruder ist nicht verloren, egal, ob er nun ausreist oder nicht, ich werde ihn wieder sehen können :-).

Selbstportrait, entstanden am 09.11.1989 unter dem Eindruck von Grenzöffnung und Massenflucht

Selbstportrait, entstanden am 09.11.1989 unter dem Eindruck von Grenzöffnung und Massenflucht

(2) Das mit der „großen Trauer“ versteht heute wohl kaum jemand mehr, aber so war es tatsächlich, ich hatte sehr ambivalente Gefühle. Die Alternative von der ich träumte, der Dritte Weg eines demokratischen Sozialismus, der mir und anderen Oppositionellen damals vorschwebte, war mit der Maueröffnung schlagartig obsolet geworden. Es war sonnenscheinklar, dass nun keine Massen mehr dafür auf die Straße gehen werden. Außerdem gab es gleichzeitig die Nachricht eines Ausreise-Tsunamis und die sofort einsetzende Massenflucht machte mir große Sorgen. Deshalb war ich eben nicht nur froh sondern auch traurig an jenem Abend. Wir hatten nicht nur für Reisefreiheit gekämpft sondern für ein großes Ganzes. Als ich die Nachrichten von der Grenzöffnung hörte, zeichnete ich gerade für das Fach Naturstudium Selbstportraits. Meine ambivalente Gefühlswelt ist in diesen grob mit Rohrfeder und Tusche gezeichneten Bildern gut erkennbar. Schön sind sie nicht geworden…aber eindringlich.

(3) Der Demokratische Aufbruch (DA) war eine der zahlreichen oppositionellen Gruppen der DDR. Sie existierte nur von Oktober 1989 bis August 1990 und ist vor allem durch Personalien bekannt. Innerhalb der DDR Opposition war der DA eine konservativere Strömung, seine Pressesprecherin war z.B. Angela Merkel, sein letzter Vorsitzender Rainer Eppelmann saß nicht nur am Runden Tisch in Berlin sondern wurde auch Minister in der ersten frei gewählten Regierung der DDR 1990. Eher berühmt berüchtigt war der zuerst als Vorsitzende amtierende Wolfgang Schnur, ein Rechtsanwalt, dessen Telefonnummer ich auch erhalten hatte, als ich Hilfe für meinen Freund Sebastian suchte. Ich habe diese Nummer vielfach angerufen aber zum Glück hob nie jemand ab. Es stellte sich nämlich heraus, dass Schnur langjähriger Stasispitzel war und insbesondere aus dem Inneren der Opposition fleißig berichtet hatte. Das kostete ihn dann auch den Job als Vorsitzender beim Demokratischen Aufbruch und machte damit den Posten frei für Rainer Eppelmann. Im August 1990 beendete der Demokratische Aufbruch seine Existenz als eigenständige Partei und schloss sich der DDR- CDU an, die wiederum im Oktober mit der West-CDU fusionierte. Und so kam Angela Merkel vom Demokratischen Aufbruch zur CDU, der erste Schritt in Richtung Kanzlerinnenamt.

So signierte ich die 6-7 Selbstportraits auf der Rückseite, die am 09. Nov. 1989 entstanden

So signierte ich die 6-7 Selbstportraits auf der Rückseite, die am 09. Nov. 1989 entstanden

(4) Der wichtigste Rücktritt war natürlich der von Erich Honecker, dem Staatsratsvorsitzenden, am 18.10.89, weitere Mitglieder des Politbüros folgten. Ein Kulminationspunkt in der Rücktrittsorgie war jedoch der Abgang von Erich Mielke, Chef der Staatssicherheit, am 7.11.89 – zusammen mit der Regierung Willi Stoph (Vorsitzender des Ministerrates). Am nächsten Tag, dem 8.11.89, trat das verbliebene Politbüro des ZK der SED zurück. Unvergessen sein (letzter?) Auftritt in der DDR Volkskammer, wo er den lachenden Abgeordneten und dem Rest der Welt erklärte, dass er sie doch alle liebe… „Ja, ich liebe, ich liebe doch alle… alle Menschen… ich liebe doch…“. Mir kommen die Tränen. (Video auf YouTube)

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(5) Ich hatte einen Brieffreund in Italien, der mich schon oft eingeladen hatte zu sich nach Padua. Nun schien ein Besuch auf einmal möglich…

(6) Sebastian heißt eigentlich anders. Ein Freund aus Kindertagen, der in Halle im Gefängnis saß. Ich hatte mich als seine Verlobte ausgegeben, um Schreib- und Besuchsrechte zu erhalten. Es hatte Anfang Oktober auch in der Justizvollzugsanstalt Proteste gegeben, von denen er mir in einem Schmuggelbrief berichten wollte. Er war erwischt worden (siehe dazu auch Teil 4 und 5 der Tagebücherserie) und litt unter verschärften Haftbedingungen.

Ausschnitt aus einem der 6-7 Selbstportraits, die am 9.11.89 entstanden

(7) In all diesen Ländern hatte ich Brieffreundschaften. Ich pflegte viele solche Briefkontakte, da es auch eine Art des Reisens war und  ein sprachlich-kultureller Austausch. Als auf einmal Reisefreiheit herrschte, schwirrte mir der Kopf voller Möglichkeiten. Ich hatte so viele potenzielle Einladungen, so viele Anlaufpunkte, so viele mögliche Reiseziele, dass ich ganz pragmatisch anfing zu überlegen, wo ich denn nun hinfahre, und wo ich die Zeit und das Geld dafür bekomme. Ich begriff erst dadurch, dass Reisefreiheit erst einmal nur eine theoretische Möglichkeit ist. Mein folgender Sommerurlaub führte mich aber dann tatsächlich mit dem Trabbi nach Frankreich in die Normandie und mit PanAm (das war früher mal eine recht große Airline) in die USA zu meiner Freundin M. Mit ihr fuhr ich per Auto von Massachusetts durch 11 Bundesstaaten, bis nach Tennessee zu ihrem brotbackenden Onkel. Auf dem Rückweg bestaunten wir die Niagarafälle, ich besuchte Boston und New York City. Dort sah ich die ersten Obdachlosen gleich am Busbahnhof, darunter jüngere Frauen, die auf Pappen schliefen. Ich wurde diesen Anblick sehr lange nicht mehr los…

***

Dies war der 6. Teil einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989. Weitere folgen in den nächsten Tagen. Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch ans Herz gelegt.
For english versions, see HERE.
Weitere Informationen rund um die Wende ’89:

 

Quer durch die Republik: Open Government, Guerillastricken, Debatten, Lesung – so bunt ist Wahlkampf

Man kommt ganz schön herum, so beim Wahlkämpfen, die Bahncard macht es leicht(er). Die letzten Tage führten mich nach Bielefeld und Kassel, nach Berlin und Brandenburg, nach Regensburg und Nürnberg.

42 - die Antwort auf alle Fragen... (vor der Open Government Veranstaltung im historischen Saal der Alten Spinnerei in Bielefeld)

42 – die Antwort auf alle Fragen… (vor der Open Government Veranstaltung im historischen Saal der Alten Spinnerei in Bielefeld)


In Bielefeld war ich am 09.04.2014. Im historischen Saal der Alten Spinnerei habe ich einen Vortrag zu Open Government gehalten. Die Veranstaltung war gut besucht, die anschließende Debatte war lebendig. Ringsherum hatten die Lokalpiraten Wahlplakate aufgehängt, die ich z.T. noch nie gesehen hatte. Auf dem lustigsten stand einfach nur „42“. Die Bielefelder Piraten haben dazu was gebloggt, im Text verlinkt ist eine Videoaufzeichnung von Vortrag und Debatte, Bilder gibts dort auch.
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Guerillastricken am „Siggi“ in Bielefeld


 
In Bielefeld wurde die Idee geboren, an „meinen“ Wahlkampforten überall orangenes Guerillastricken zu hinterlassen – als kleine Markierung, Geschenk mit Verschönerungswirkung an den Ort und seine Einwohner*innen, als originelles und unaufdringliches Wahlplakat. Am nächsten Tag wollte ich nach Kassel, zur Whistleblowerpreisverleihung, bei der das „Kasseler Nebelhorn“ zum ersten Mal verliehen wurde. Aber das war erst am Nachmittag, ich hatte den Vormittag in Bielefeld noch Zeit. Perfekte Gelegenheit, zum Stadt bestricken. In der Bahn und am Abend hatte ich vorgestrickt und dann gings los. Erst waren wir am „Siggi“,  ich glaube richtig heißt er Siegfriedsplatz, wo wir vor einem Gemeindezentrum ein Geländer geflauscht haben.
Ja - sieht gut aus, der Piratenbutton sitzt perfekt!

Ja – sieht gut aus, der Piratenbutton sitzt perfekt!


Danach wurde ein Hundetütenspender in der Innenstadt in einer Einkaufsstrasse verschönt. Zum Schluss kam immer ein kleiner Piratenparteibutton dran, schließlich ist das eine Art Wahlplakat :-).
Übergabe "Kasseler Nebelhorn" an Whistleblowerin Cornelia Harig

Übergabe „Kasseler Nebelhorn“ an Whistleblowerin Cornelia Harig


Die nächste Station war Kassel, wo einer ehemaligen städtischen Angestellten, Cornelia Harig, das erste Kasseler Nebelhorn, ein Preis für Whistleblower und Zivilcourage, verliehen wurde. Mein Mann Daniel sprach eine Laudatio, eine Musikerteam begleitete die Zeremonie auf der großen Treppe des Kasseler Rathauses mit schöner Musik, und dort – neben der Musik – habe ich am Geländer der Rathaustreppe auch ein klitzebißchen was gestrickt. Mein orangener Fußabdruck, sozusagen. Untenstehend ist ein Video von der Preisverleihung verlinkt (Klick auf das Bild oder HIER), auf dem man mein kleines Strickstück auch bewundern kann :-).

YouTube Video zur Preisverleihung des Kasseler Nebelhorns an Cornelia Harig


Nur einen Tag darauf – am 11.04.2014 – hatte ich gleich zwei Termine, beide liefen gänzlich ohne Stricken ab. Immerhin mußte ich nicht weit reisen. Die European Initiative hatte in der Stadt Brandenburg zu einer Kandidatendebatte geladen, die erst recht normal verlief aber bei Öffnung für das Auditorium schon – sagen wir überdurchschnittlich – lebendig wurde, vor allem immer dann, wenn der anwesende Henryk M. Broder ins Wüten kam.
v.l.n.r.: Susanne Melior (SPD), Alfred Eichhorn (Moderator), Anke Domscheit-Berg (Piraten), Christiane Gaethgens (FDP), Michael Cramer (Grüne), Helmut Scholz (Linke)

v.l.n.r.: Susanne Melior (SPD), Alfred Eichhorn (Moderator), Anke Domscheit-Berg (Piraten), Christiane Gaethgens (FDP), Michael Cramer (Grüne), Helmut Scholz (Linke)


Kaum eine Zahl, die ein Kandidat erwähnte, die nicht von ihm lautstark korrigiert wurde, natürlich nicht ohne den Vorwurf, dass man als MdEP doch diese Zahlen alle ganz genau wissen müßte. Das EU Parlament ist für ihn sowieso nur eine „Schmierenkomödie“, er wetterte und fuchtelte mit den Armen, prangerte mal dies und mal jenes an. Leider fiel ihm keine einzige konstruktive Idee ein, so war das zwar reichlich unterhaltsam aber eben doch sinnlos. Gerade in Brandenburg, wo die Wahlbeteiligung bei den letzten Europa-Wahlen bei erschütternden 23 Prozent lag, ist ein Lamento darüber, wie blöd die EU und wie albern seine Institutionen sind, doch eher wenig hilfreich. Denn selbst wenn man an der Art und Weise, wie in der EU Politik gemacht wird, etwas ändern möchte (und das habe ich ja zum Beispiel vor), kann man das vor allem von innen heraus tun – oder von außen, in dem man wählen geht und anders wählt als bisher. Wer sich die Argumente eines H.M.Broder zu eigen macht, dürfte jedenfalls wenig Verlockungen spüren, am 25.5. auch wählen zu gehen. Damit schaden solche einseitigen Tiraden der Demokratie, weil sie demokratische Beteiligung verringern. Die übrige Debatte war in jedem Fall spannend. Eine Rolle spielte dabei TTIP, das transatlantische Handelsabkommen aber auch die Asyl- und Migrationspolitik der EU, die Bürger vor Ort als genauso unmenschlich empfanden wie ich. Der RBB berichtete, leider ist deren Beitrag wie üblich schon nach wenigen Tagen aus der Mediathek verschwunden. Einen Artikel in der Märkischen Allgemeine Zeitung gab es auch, darin steht dieses schöne Zitat:

Anke Domscheit-Berg (Piraten), bekommt mit ihrer Kritik am Transatlantischen Freihandelsabkommen(TTIP), das sie als Hinterzimmerpolitik bezeichnet und ihrer patriotischen Rede über ihren Glauben ans Mauerneinreißen und Weltverändern den ersten spontanen Beifall von den bis dahin still lauschenden Gästen.

Von Brandenburg ging es auf schnellstem Wege nach Berlin, wo ich beim Tazsalon u.a. mit Marina Weisband, Julia Reda (unsere Spitzenkandidatin), der Kunst-und Performancegruppe Bitnik aus der Schweiz, dem politischen Aktionserfinder @Jeangleur, Markus Beckedahl von Netzpolitik, Anne Roth, Jan Josef Liefers (der Pathologe vom Münster-Tatort 🙂 ) rund um das Überwachungsthema debattierte, bei Käse, leckerem Brot und Rotwein.

Der Käsetisch - nach dem Essen...vor dem Aufbruch, irgendwann so gegen 2 Uhr morgens

Der Käsetisch – nach dem Essen…vor dem Aufbruch, irgendwann so gegen 2 Uhr morgens


Das Konzept des Tazsalon ging auf, jeder Gast bringt einen Käse mit. Brot und den ganzen Rest stellt Martin Kaul, taz Journalist und Gastgeber. Man sitzt in der Küche seiner WG, die auf diese Weise zu einer Art „Hinterzimmer“ wurde. Passend zum Thema wurde nicht nur entschieden, Vertrauliches in diesem Raum zu lassen sondern sicherheitshaltber auch alle Smartphones in den Kühlschrank einzusperren. Die Mischung der Gäste und das entspannte Setting sind schon fast ein Garant für sehr spannende Diskussionen. Diesmal vor allem zur Frage, ob wir mehr digitalen Widerstand brauchen, welche Arten zivilen Ungehorsams vielleicht zielführender wären, als die x-te Demonstration gegen die NSA und inländische Massenüberwachung. Es ging um digitale Anarchie, die Legitimation und Notwendigkeit vielfältiger Widerstandsformen. Ideen wurden getauscht und geboren, wie man dem Thema mehr Aufmerksamkeit in der Breite und mehr Gewicht in der politischen Landschaft verschaffen kann. Wie zur Hölle man mehr Menschen vermitteln kann, dass diese Art digitaler Überwachung das Ende von Meinungsfreiheit und Freiheit im Großen und Ganzen in der digitalen Gesellschaft (also unserer Gesellschaft) bedeutet und mithin das Ende der Demokratie einläuten kann. Dabei gab es jede Menge Inspirationen, aber natürlich gelten die Regeln des Abends 🙂 deshalb steht hier jetzt nicht mehr dazu. Dass der Abend eine halbe Nacht wurde, war jedenfalls kein Zufall. Es war spannend verbrachte Zeit.
Am nächsten Tag moderierte unser Gastgeber des Abends, Martin Kaul, gleich drei Panels zum digitalen Widerstand beim tazlab, dem Jahreskongress der Tageszeitung im Haus der Kulturen der Welt. Fast alle Gäste des Abends waren auch Debattengäste auf dem tazlab. „Mein“ Panel drehte sich um die Möglichkeiten und die Pflicht zur (Selbst-) Verteidigung gegen Überwachung. Im Tazblog und im Hauptstadtblog konnte man darüber lesen.
kurz vor der Lesung aus "Mauern einreißen" in der Regensburger Buchhandlung Dombrowski

kurz vor der Lesung aus „Mauern einreißen“ in der Regensburger Buchhandlung Dombrowski


Meine nächsten Stationen lagen im tiefsten Süden. Am 14.04.2014 fuhr ich nach Regensburg, wo ich am Abend auf Einladung der Piratenpartei-Stadträtin Tina Lorenz aus „Mauern einreißen“ vorlas. Es waren zwar nicht sehr viele Gäste da, aber die waren alle so bei der Sache, dass wir nach einer Stunde Lesung und Anderthalb Stunden angeregter Debatte doch abbrechen mußten, da der Buchhändler verständlicherweise auch mal Feierabend machen wollte. Wie bei jeder Lesung habe ich viele spannende Geschichten von meinen Gästen gehört. Eine der Debattantinnen war in der DDR Lehrerin, u.a. für Geschichte. Sie erzählte, wie durcheinander es an den Schulen zuging in der Wendezeit, als viele Lehrer nicht mehr wußten, welchen Stoff sie vermitteln sollen und auf welche Weise. Das war natürlich bei ideologisch geprägten Fächern besonders der Fall, dazu gehörte auch Geschichte. Ich hatte erst kurz zuvor mit großer Begeisterung das Buch „Eisenkinder“ von Sabine Rennefanz gelesen, die zur Wendezeit als Schülerin eine Erweiterte Oberschule in Eisenhüttenstadt besuchte, und in deren Buch das Durcheinander an den Schulen aus Schülersicht lebendig beschrieben ist. (Ein Buchauszug der „Eisenkinder“ findet sich in der ZEIT.)
Der letzte Befestigungsfaden wird abgeschnitten - beim Guerillastricken am Alten Rathaus in Regensburg

Der letzte Befestigungsfaden wird abgeschnitten – beim Guerillastricken am Alten Rathaus in Regensburg


Der nächste Vormittag stand wieder im Zeichen des Guerillastrickens. Mit Tina Lorenz schaute ich mir die wunderschöne Altstadt von Regensburg an (Weltkulturerbe!) und an zwei Orten haben wir flauschige Marken hinterlassen.
Zuerst waren wir am Alten Rathaus, wo ich ein Geländer ummantelt habe – sorgfältig an den senkrechten Streben oben und unten befestigt, damit die Wolle nicht rutscht, wenn jemand sich daran festhält. Das Ambiente war einfach wunderschön. Die Treppe wirkt sehr majestätisch, das Portal rund um die uralte Tür natürlich erst recht. Man fühlt sich etwas klein auf dieser Treppe, aber in ehrwürdiger Umgebung.
Auf der Treppe des Alten Rathaus in Regensburg

Auf der Treppe des Alten Rathaus in Regensburg


Vom Alten Rathaus zogen wir zum Haidplatz, ebenfalls in der Altstadt gelegen, wo ein Halteverbotsschild eine Hülle aus schöner, bunter Wolle erhielt – und natürlich den obligatorischen Piratenbutton, denn es soll ja ein flauschiges Wahlplakat sein.
Haidplatz in Regensburg - verschönt mit Guerillastricken am 15.4.2014

Haidplatz in Regensburg – verschönt mit Guerillastricken am 15.4.2014


Lokale Medien berichteten über diese Aktion, so z.B. die Mittelbayerische Zeitung mit der Überschrift „Mehr Farbe mit den Piraten“. Der Artikel zeigt, wie man durch kreative und unkonventionelle Ideen Aufmerksamkeit auch für politische Themen erzeugen kann.
Ausschnitt Nürnberger Zeitung 15.04.2014

Ausschnitt Nürnberger Zeitung 15.04.2014


Von Regensburg ging es dann mittags nach Nürnberg, wo ich mich zuerst mit einer Autorin traf, die gerade ein Buch über die Wende schreibt. Ich erzählte Ihr meine Erlebnisse und sie mir ihre. Wenn im Herbst ihr Buch erscheint, werde ich hier im Blog rechtzeitig darauf hinweisen. In der Wolleabteilung eines Kaufhauses trafen mich dann die ortsansässigen Piraten beim Kaufen von Nachschub für das Guerillastricken.
Guerillastricken an der Nonnengasse in Nürnberg

Guerillastricken an der Nonnengasse in Nürnberg


Aber bevor Nürnberg geflauscht wurde, hatte ich noch einen Pressetermin bei der Nürnberger Zeitung. Der Artikel bezog sich vor allem auf meinen Vortrag am Abend zum Thema Open Government und wies freundlicherweise darauf hin, dass durch den Wegfall der Dreiprozenthürde keine Wählerstimmen mehr verloren gehen. Bei der Bundestagswahl betraf das immerhin 16% aller gültigen Stimmen, die wegen der Fünfprozenthürde faktisch verloren waren.
Ein „wolliges Wahlplakat“ haben wir dann an einem Halteverbotsschild an der Nonnengasse angebracht – an einem Platz mit Blick auf eine schöne Kirche, deren Namen ich dort leider nicht erfragt habe. Auch hier fehlt der Piratenbutton natürlich nicht, ohne den es sich ja kaum um ein Wahlplakat handeln würde ;-).
unser "wolliges Wahlplakat" der Piratenpartei für die EU Wahlen in Nürnberg, Nonnengasse

unser „wolliges Wahlplakat“ der Piratenpartei für die EU Wahlen in Nürnberg, Nonnengasse


Es war lausekalt an diesen Tagen, selbst beim kurzen Annähen der Stricksachen froren einem schier die Finger ab. Da war es nicht unangenehm, mal wieder drinnen zu sein. Im „Archiv“, einem linken Buch- und Dokumentenarchiv in einem Arbeiterstadtviertel Nürnbergs, habe ich am Abend in einem maximal vollbesetzten Raum einen Vortrag zu Open Government gehalten. Die Jungen Piraten hatten das maßgeblich organisiert, und das auch noch kurzfristig. Sie haben einen großartigen Job gemacht! Auch nach diesem Vortrag gab es eine längere Debatte mit dem Publikum.
StrickutensilienDanach war ich platt wie eine Flunder. Ein Bier mit den Lokalpiraten in einem irischen Pub mußte trotzdem noch sein, aber alt wurde ich dabei nicht und war froh, irgendwann in das Gästebett eines Piraten zu fallen. Bei der Heimfahrt am nächsten Tag habe ich wieder fleißig gestrickt, denn mein Ehrgeiz ist geweckt: ich möchte, wie in Bielefeld beschlossen, an jedem Ort, an dem ich Wahlkampf mache, etwas mit Guerillastricken verschönern. Mal sehen, ob mir das gelingt. Seit Bielefeld habe ich es nur in Brandenburg nicht geschafft. Okay, Berlin auch nicht gleich – aber das habe ich ein paar Tage später nachgeholt. Beim Text zum Zombiewalk kann man im demnächst mehr dazu lesen.

"Spitzenbäume" in Himmelpfort – Schneekristalle aus Textil werden zu "Kunst am Baum"

Heute, am 12.12.2013, war es soweit – ich habe mit der Hilfe vieler großartiger Menschen zum ersten Mal Bäume in ein Spitzenkleid gehüllt!
Und so sieht mein erster „Spitzenbaum“ aus – eine Linde, die direkt vor dem Weihnachtspostamt in Himmelpfort steht:
1. Spitzenbaum vor dem Weihnachtspostamt Himmelpfort
 
Der Weihnachtsmann war auch dabei
Das gelbe Fahrrad im Bild gehört übrigens dem Weihnachtsmann…, er kam uns auch besuchen, genau wie ein Engel und Frau Holle. Hier ist der Fotobeweis (vorerst nur für den Weihnachtsmann):
ADB und Weihnachtsmann am SpitzenbaumDer Weihnachtsmann half sogar, die Bommeln im Baum zu befestigen, die textilen Schneekristalle schienen ihm sehr zu gefallen :-). Es war etwas neblig in der ersten Tageshälfte und so dauerte es nicht allzu lang, bis mir die Finger klamm wurden, aber mit Handschuhen klappte das Nadelhalten einfach nicht. Wenigstens hielt mich die Skihose warm.
1. Spitzenbaum DetailTrotz umfangreicher Vorarbeiten (zum Prozess siehe weiter unten) war das sorgfältige Befestigen zeitaufwändiger als gedacht – gegen 13Uhr war ich erst mit Baum Nummer Eins fertig. In der letzten Stunde hatte ich aber nur noch Kleinigkeiten perfektioniert, so dass wir wie geplant um 12:00 Uhr die Übergabe mit Ortsvorsteher Lothar Pietsch und dem Weihnachtsmann – mit Fototermin für die Presse – machen konnten (hier wird noch ein Foto nachgereicht, ich muss es mir erst noch von meinen Helfer*innen besorgen).
Ich war froh über die zahlreichen Begleiter, die aus Himmelpfort, Berlin und Erkner gekommen waren. Vom Haus des Gastes bekamen wir Tee und Kaffee und eine wunderschöne Aufwärmgelegenheit im Weihnachtsmannhaus an einem eisernen Herd mit loderndem Feuer, die wir zum „Auftauen“ genossen, bevor wir uns am frühen Nachmittag dem zweiten Baum auf der Festwiese widmeten.
2. Spitzenbaum - ZwischenstandUnd so sieht der zweite Baum aus – als „Work in Progress“ – denn fertig ist er noch nicht, es fing an zu nieseln und wurde langsam dunkel, daher mußten wir abbrechen. Am Sonntag, den 15.12.2013 Samstag, den 14.12.2013, werde ich den zweiten Baum fertig stellen. Geplant ist, noch einige der unteren Äste einzukleiden und auch noch ein Stück Stamm oberhalb des ersten Astwirbels. Eine ganze Reihe weißer Bommeln haben wir aber schon im Baum verteilt – sie verstärken den winterlich-märchenhaften Eindruck, den die Schneekristallspitzen erzeugen.
Das Ergebnis hat uns schon jetzt alle begeistert. Beide Bäume sind Hingucker und die vielen großen und kleinen Besucher von Himmelpfort, die auch unter der Woche das Weihnachtspostamt besuchten, waren sichtlich angetan. Viele Male wurde ich gefragt, warum ich das mache, die Antwort „weil ich es schön finde und möchte, das viele Menschen sich daran freuen können“, hat bisher allen genügt (ausführlichere Argumente finden sich am Ende meines Ankündigungsblogposts zur Aktion HIER).
Wie entsteht ein Spitzenbaum?
Aufmaß BaumDer Prozess ist gar nicht so kompliziert. Zuerst sucht man sich einen geeigneten Baum und nimmt Maß, denn vieles kann man zuhause vorbereiten – aber nur dann, wenn man eine genauer Vorstellung davon hat, was man braucht – man mißt also den Umfang von Stamm und Ästen und die Abstände zwischen den Stellen, die sich im Umfang stark unterscheiden. Ich mache das in einem kleinen Büchlein, dann fliegen mir die Zettel nicht herum.
Für große Flächen – etwa den bedeckenden Stamm – klebe ich mir die benötigten Ausmaße mit Kreppklebeband auf den Boden (siehe Bild – das wurde das Kleid für den zweiten Spitzenbaum, die Fichte).
Ausgelegte Spitzen
Vorarbeit im Trocknen und Warmen
Dort lege ich die vorhandenen Spitzendeckchen (am besten auf ebay eingekauft oder im Bekanntenkreis eingesammelt) so aus, dass sie von Form und Muster schön zu einander passen, stecke sie mit Nadeln fest und nähe sie dann nach und nach zusammen. Das ist schon etwas mühsam – für die Stämme beider Bäume habe ich ca. 30-40 Stunden Vorbereitungszeit gebraucht. Einzelne Teile kann man auch auf einem Tisch zusammennähen, am Ende eignet sich der Boden aber am besten. Gegen wunde Knie helfen Kissen, manchmal habe ich auf dem Bauch liegend gearbeitet.
Vorbereitung 1. Baum
Damit man beim Nähen nicht vor Langeweile stirbt, kann man wunderbar nebenbei Hörbücher hören oder Filme am Laptop schauen. Ich habe z.B. nebenbei diverse Vorträge auf YouTube angehört, um mich auf die Talkshow bei Anne Will zum Thema „Tötet der Kapitalismus?“ vorzubereiten. Das Bild oben zeigt das Kleid für den ersten Spitzenbaum, die Linde, das praktischerweise die Maße eines meiner Teppiche hatte. Rechts und links hatte ich die Spitzendeckchen nach Größe (klein, mittel, groß) und Format (rund, eckig, rautenförmig) sortiert bereit gelegt. Alle Deckchen habe ich vorher gebügelt, damit sie schön glatt liegen.
1. Spitzenbaum - Beginn
Am Baum wird es spannend – paßt das Kleid?
Das fertige Kleid im Rechteckformat habe ich dann vorsichtig zusammengelegt, in ein Stück Stoff eingeschlagen und am Baum auf einer Leiter stehend und mit Hilfe anderer wieder ausgerollt und sofort am oberen Rand mit Stecknadeln und einem Hammer erst einmal provisorisch befestigt.
Screenshot - 12-12-13
Auf Sorgfalt kommt es an – und Fingerspitzengefühl
Danach strafft man das Ganze in jede Richtung – die Spitzen müssen sehr stramm sitzen, denn beim ersten Regen werden sie schlaffer und sie sollen ja dann keine traurigen Falten werfen. Damit das Spitzenkleid an der gewünschten Stelle bleibt, kann man viele weitere Stecknadeln zum Festpinnen nutzen. Nur nicht tief in die Rinde treiben – das tut dem Baum weh. Dort, wo die Längskanten des Spitzenkleides aneinander treffen, wird sorgfältig zugenäht, auch alle sonstigen Stellen, wo einzelne Teile der Spitzendeckchen etwas unförmig herumhängen, werden mit Nadel und Faden fixiert. Alle dann nicht mehr notwendigen Stecknadeln werden wieder herausgezogen. Da, wo ich ein einzelnes Deckchen z.B. in der Baumkrone befestigen wollte, habe ich das nur mit Stecknadeln getan. Für ein paar Wochen wird das halten.
1. Spitzenbaum - Detail
Sorgfältiges Arbeiten ist wichtig, denn Spitzen leben von Akkuratesse – nicht nur der Muster selbst, die ihren Reiz ausmachen, sondern auch ihrer Form. Das Ergebnis lohnt die Mühe. Ich bin jedenfalls stolz auf mein Werk und hoffe, dass es vielen Menschen Freude macht und vielleicht sogar Lust auf Handarbeiten weckt. Ich danke allen, die mir heute geholfen haben und freue mich über Nachahmer*innen (und über Fotos davon!). Es ist sehr entspannend, mal etwas ganz Anderes zu machen als (in meinem Fall) Politik, Ehrenamt und sonstige Arbeit. Ich hatte großen Spaß bei der Aktion! Wenn es Berichte irgendwo über meine Spitzenbäume gibt, schickt mir die Links, dann kann ich sie hier einstellen. Das eine oder andere Bild werde ich auch noch ergänzen.
Gefallen Euch die Spitzenbäume? Über Feedback freue ich mich – nutzt einfach das Kommentarfeld dafür.
Update – Presselinks

Weitere Blogposts zum gleichen Thema:

  • Ankündigung der Aktion