Man kommt ganz schön herum, so beim Wahlkämpfen, die Bahncard macht es leicht(er). Die letzten Tage führten mich nach Bielefeld und Kassel, nach Berlin und Brandenburg, nach Regensburg und Nürnberg.
In Bielefeld war ich am 09.04.2014. Im historischen Saal der Alten Spinnerei habe ich einen Vortrag zu Open Government gehalten. Die Veranstaltung war gut besucht, die anschließende Debatte war lebendig. Ringsherum hatten die Lokalpiraten Wahlplakate aufgehängt, die ich z.T. noch nie gesehen hatte. Auf dem lustigsten stand einfach nur „42“. Die Bielefelder Piraten haben dazu was gebloggt, im Text verlinkt ist eine Videoaufzeichnung von Vortrag und Debatte, Bilder gibts dort auch.
In Bielefeld wurde die Idee geboren, an „meinen“ Wahlkampforten überall orangenes Guerillastricken zu hinterlassen – als kleine Markierung, Geschenk mit Verschönerungswirkung an den Ort und seine Einwohner*innen, als originelles und unaufdringliches Wahlplakat. Am nächsten Tag wollte ich nach Kassel, zur Whistleblowerpreisverleihung, bei der das „Kasseler Nebelhorn“ zum ersten Mal verliehen wurde. Aber das war erst am Nachmittag, ich hatte den Vormittag in Bielefeld noch Zeit. Perfekte Gelegenheit, zum Stadt bestricken. In der Bahn und am Abend hatte ich vorgestrickt und dann gings los. Erst waren wir am „Siggi“, ich glaube richtig heißt er Siegfriedsplatz, wo wir vor einem Gemeindezentrum ein Geländer geflauscht haben.
Danach wurde ein Hundetütenspender in der Innenstadt in einer Einkaufsstrasse verschönt. Zum Schluss kam immer ein kleiner Piratenparteibutton dran, schließlich ist das eine Art Wahlplakat :-).
Die nächste Station war Kassel, wo einer ehemaligen städtischen Angestellten, Cornelia Harig, das erste Kasseler Nebelhorn, ein Preis für Whistleblower und Zivilcourage, verliehen wurde. Mein Mann Daniel sprach eine Laudatio, eine Musikerteam begleitete die Zeremonie auf der großen Treppe des Kasseler Rathauses mit schöner Musik, und dort – neben der Musik – habe ich am Geländer der Rathaustreppe auch ein klitzebißchen was gestrickt. Mein orangener Fußabdruck, sozusagen. Untenstehend ist ein Video von der Preisverleihung verlinkt (Klick auf das Bild oder HIER), auf dem man mein kleines Strickstück auch bewundern kann :-).
Nur einen Tag darauf – am 11.04.2014 – hatte ich gleich zwei Termine, beide liefen gänzlich ohne Stricken ab. Immerhin mußte ich nicht weit reisen. Die European Initiative hatte in der Stadt Brandenburg zu einer Kandidatendebatte geladen, die erst recht normal verlief aber bei Öffnung für das Auditorium schon – sagen wir überdurchschnittlich – lebendig wurde, vor allem immer dann, wenn der anwesende Henryk M. Broder ins Wüten kam.
Kaum eine Zahl, die ein Kandidat erwähnte, die nicht von ihm lautstark korrigiert wurde, natürlich nicht ohne den Vorwurf, dass man als MdEP doch diese Zahlen alle ganz genau wissen müßte. Das EU Parlament ist für ihn sowieso nur eine „Schmierenkomödie“, er wetterte und fuchtelte mit den Armen, prangerte mal dies und mal jenes an. Leider fiel ihm keine einzige konstruktive Idee ein, so war das zwar reichlich unterhaltsam aber eben doch sinnlos. Gerade in Brandenburg, wo die Wahlbeteiligung bei den letzten Europa-Wahlen bei erschütternden 23 Prozent lag, ist ein Lamento darüber, wie blöd die EU und wie albern seine Institutionen sind, doch eher wenig hilfreich. Denn selbst wenn man an der Art und Weise, wie in der EU Politik gemacht wird, etwas ändern möchte (und das habe ich ja zum Beispiel vor), kann man das vor allem von innen heraus tun – oder von außen, in dem man wählen geht und anders wählt als bisher. Wer sich die Argumente eines H.M.Broder zu eigen macht, dürfte jedenfalls wenig Verlockungen spüren, am 25.5. auch wählen zu gehen. Damit schaden solche einseitigen Tiraden der Demokratie, weil sie demokratische Beteiligung verringern. Die übrige Debatte war in jedem Fall spannend. Eine Rolle spielte dabei TTIP, das transatlantische Handelsabkommen aber auch die Asyl- und Migrationspolitik der EU, die Bürger vor Ort als genauso unmenschlich empfanden wie ich. Der RBB berichtete, leider ist deren Beitrag wie üblich schon nach wenigen Tagen aus der Mediathek verschwunden. Einen Artikel in der Märkischen Allgemeine Zeitung gab es auch, darin steht dieses schöne Zitat:
Anke Domscheit-Berg (Piraten), bekommt mit ihrer Kritik am Transatlantischen Freihandelsabkommen(TTIP), das sie als Hinterzimmerpolitik bezeichnet und ihrer patriotischen Rede über ihren Glauben ans Mauerneinreißen und Weltverändern den ersten spontanen Beifall von den bis dahin still lauschenden Gästen.
Von Brandenburg ging es auf schnellstem Wege nach Berlin, wo ich beim Tazsalon u.a. mit Marina Weisband, Julia Reda (unsere Spitzenkandidatin), der Kunst-und Performancegruppe Bitnik aus der Schweiz, dem politischen Aktionserfinder @Jeangleur, Markus Beckedahl von Netzpolitik, Anne Roth, Jan Josef Liefers (der Pathologe vom Münster-Tatort 🙂 ) rund um das Überwachungsthema debattierte, bei Käse, leckerem Brot und Rotwein.
Das Konzept des Tazsalon ging auf, jeder Gast bringt einen Käse mit. Brot und den ganzen Rest stellt Martin Kaul, taz Journalist und Gastgeber. Man sitzt in der Küche seiner WG, die auf diese Weise zu einer Art „Hinterzimmer“ wurde. Passend zum Thema wurde nicht nur entschieden, Vertrauliches in diesem Raum zu lassen sondern sicherheitshaltber auch alle Smartphones in den Kühlschrank einzusperren. Die Mischung der Gäste und das entspannte Setting sind schon fast ein Garant für sehr spannende Diskussionen. Diesmal vor allem zur Frage, ob wir mehr digitalen Widerstand brauchen, welche Arten zivilen Ungehorsams vielleicht zielführender wären, als die x-te Demonstration gegen die NSA und inländische Massenüberwachung. Es ging um digitale Anarchie, die Legitimation und Notwendigkeit vielfältiger Widerstandsformen. Ideen wurden getauscht und geboren, wie man dem Thema mehr Aufmerksamkeit in der Breite und mehr Gewicht in der politischen Landschaft verschaffen kann. Wie zur Hölle man mehr Menschen vermitteln kann, dass diese Art digitaler Überwachung das Ende von Meinungsfreiheit und Freiheit im Großen und Ganzen in der digitalen Gesellschaft (also unserer Gesellschaft) bedeutet und mithin das Ende der Demokratie einläuten kann. Dabei gab es jede Menge Inspirationen, aber natürlich gelten die Regeln des Abends 🙂 deshalb steht hier jetzt nicht mehr dazu. Dass der Abend eine halbe Nacht wurde, war jedenfalls kein Zufall. Es war spannend verbrachte Zeit.
Am nächsten Tag moderierte unser Gastgeber des Abends, Martin Kaul, gleich drei Panels zum digitalen Widerstand beim tazlab, dem Jahreskongress der Tageszeitung im Haus der Kulturen der Welt. Fast alle Gäste des Abends waren auch Debattengäste auf dem tazlab. „Mein“ Panel drehte sich um die Möglichkeiten und die Pflicht zur (Selbst-) Verteidigung gegen Überwachung. Im Tazblog und im Hauptstadtblog konnte man darüber lesen.
Meine nächsten Stationen lagen im tiefsten Süden. Am 14.04.2014 fuhr ich nach Regensburg, wo ich am Abend auf Einladung der Piratenpartei-Stadträtin Tina Lorenz aus „Mauern einreißen“ vorlas. Es waren zwar nicht sehr viele Gäste da, aber die waren alle so bei der Sache, dass wir nach einer Stunde Lesung und Anderthalb Stunden angeregter Debatte doch abbrechen mußten, da der Buchhändler verständlicherweise auch mal Feierabend machen wollte. Wie bei jeder Lesung habe ich viele spannende Geschichten von meinen Gästen gehört. Eine der Debattantinnen war in der DDR Lehrerin, u.a. für Geschichte. Sie erzählte, wie durcheinander es an den Schulen zuging in der Wendezeit, als viele Lehrer nicht mehr wußten, welchen Stoff sie vermitteln sollen und auf welche Weise. Das war natürlich bei ideologisch geprägten Fächern besonders der Fall, dazu gehörte auch Geschichte. Ich hatte erst kurz zuvor mit großer Begeisterung das Buch „Eisenkinder“ von Sabine Rennefanz gelesen, die zur Wendezeit als Schülerin eine Erweiterte Oberschule in Eisenhüttenstadt besuchte, und in deren Buch das Durcheinander an den Schulen aus Schülersicht lebendig beschrieben ist. (Ein Buchauszug der „Eisenkinder“ findet sich in der ZEIT.)
Der nächste Vormittag stand wieder im Zeichen des Guerillastrickens. Mit Tina Lorenz schaute ich mir die wunderschöne Altstadt von Regensburg an (Weltkulturerbe!) und an zwei Orten haben wir flauschige Marken hinterlassen.
Zuerst waren wir am Alten Rathaus, wo ich ein Geländer ummantelt habe – sorgfältig an den senkrechten Streben oben und unten befestigt, damit die Wolle nicht rutscht, wenn jemand sich daran festhält. Das Ambiente war einfach wunderschön. Die Treppe wirkt sehr majestätisch, das Portal rund um die uralte Tür natürlich erst recht. Man fühlt sich etwas klein auf dieser Treppe, aber in ehrwürdiger Umgebung.
Vom Alten Rathaus zogen wir zum Haidplatz, ebenfalls in der Altstadt gelegen, wo ein Halteverbotsschild eine Hülle aus schöner, bunter Wolle erhielt – und natürlich den obligatorischen Piratenbutton, denn es soll ja ein flauschiges Wahlplakat sein.
Lokale Medien berichteten über diese Aktion, so z.B. die Mittelbayerische Zeitung mit der Überschrift „Mehr Farbe mit den Piraten“. Der Artikel zeigt, wie man durch kreative und unkonventionelle Ideen Aufmerksamkeit auch für politische Themen erzeugen kann.
Von Regensburg ging es dann mittags nach Nürnberg, wo ich mich zuerst mit einer Autorin traf, die gerade ein Buch über die Wende schreibt. Ich erzählte Ihr meine Erlebnisse und sie mir ihre. Wenn im Herbst ihr Buch erscheint, werde ich hier im Blog rechtzeitig darauf hinweisen. In der Wolleabteilung eines Kaufhauses trafen mich dann die ortsansässigen Piraten beim Kaufen von Nachschub für das Guerillastricken.
Aber bevor Nürnberg geflauscht wurde, hatte ich noch einen Pressetermin bei der Nürnberger Zeitung. Der Artikel bezog sich vor allem auf meinen Vortrag am Abend zum Thema Open Government und wies freundlicherweise darauf hin, dass durch den Wegfall der Dreiprozenthürde keine Wählerstimmen mehr verloren gehen. Bei der Bundestagswahl betraf das immerhin 16% aller gültigen Stimmen, die wegen der Fünfprozenthürde faktisch verloren waren.
Ein „wolliges Wahlplakat“ haben wir dann an einem Halteverbotsschild an der Nonnengasse angebracht – an einem Platz mit Blick auf eine schöne Kirche, deren Namen ich dort leider nicht erfragt habe. Auch hier fehlt der Piratenbutton natürlich nicht, ohne den es sich ja kaum um ein Wahlplakat handeln würde ;-).
Es war lausekalt an diesen Tagen, selbst beim kurzen Annähen der Stricksachen froren einem schier die Finger ab. Da war es nicht unangenehm, mal wieder drinnen zu sein. Im „Archiv“, einem linken Buch- und Dokumentenarchiv in einem Arbeiterstadtviertel Nürnbergs, habe ich am Abend in einem maximal vollbesetzten Raum einen Vortrag zu Open Government gehalten. Die Jungen Piraten hatten das maßgeblich organisiert, und das auch noch kurzfristig. Sie haben einen großartigen Job gemacht! Auch nach diesem Vortrag gab es eine längere Debatte mit dem Publikum.
Danach war ich platt wie eine Flunder. Ein Bier mit den Lokalpiraten in einem irischen Pub mußte trotzdem noch sein, aber alt wurde ich dabei nicht und war froh, irgendwann in das Gästebett eines Piraten zu fallen. Bei der Heimfahrt am nächsten Tag habe ich wieder fleißig gestrickt, denn mein Ehrgeiz ist geweckt: ich möchte, wie in Bielefeld beschlossen, an jedem Ort, an dem ich Wahlkampf mache, etwas mit Guerillastricken verschönern. Mal sehen, ob mir das gelingt. Seit Bielefeld habe ich es nur in Brandenburg nicht geschafft. Okay, Berlin auch nicht gleich – aber das habe ich ein paar Tage später nachgeholt. Beim Text zum Zombiewalk kann man im demnächst mehr dazu lesen.