Am 31.01.2016 war ich zu Gast bei Anne Will, wo darüber debattiert wurde, ob denn nun die Stimmung gegen Flüchtlinge gekippt sei oder nicht. Der aktuelle Aufhänger waren pauschale Hausverbote von Nachtclubs in Freiburg und Schwimmbädern an anderen Orten für Flüchtlinge, nachdem es dort vereinzelte Übergriffe gegeben hatte.
Die ganze Sendung kann man übrigens HIER anschauen. Die Gäste waren:
- Jens Spahn, CDU, Finanz-Staatssekretär
- Dieter Salomon, Oberbürgermeister Freiburg, Mitglied der Grünen
- Mehmet Daimagüler, Nebenklägeranwalt im NSU Prozess
- und ich selbst…
Wie immer ging die eine Stunde Debattenzeit viel zu schnell vorbei, wie immer gab es ein paar Eigendynamiken, die jede Gesprächsstrategie unterminieren können – wie der zeitweilig lustige Dialog zwischen Daimagüler und Spahn, in dem sie nicht recht wußten, ob sie sich jetzt duzen oder siezen sollten. Ich empfehle das siezen, da ist das Kritisieren einfacher und da gabs einiges, denn Mehmet Daimagüler hat das Buch von Jens Spahn offenbar genauer gelesen, als es Letzterem lieb war, so ließ der eine dem anderen seine Ausflüchte nicht durchgehen und nagelte ihn immer wieder fest auf seine pauschalisierenden, Vorurteilsbeladenen Aussagen im eigenen Buch… Aber nicht davon wollte ich schreiben sondern von all den Dingen, die ich sagen wollte aber wozu es nicht kam.
Konsequenzen einer Abschottungspolitik ist einkalkulierter Tod von Flüchtlingen
Wichtig war mir z.B. darauf hinzuweisen, dass der ausgesetzte Familiennachzug (und diese ganze Obergrenzengeschichte) nichts anderes bedeutet, als ganz bewußt den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen – nur weil wir als reichstes Land Europas meinen, nicht mehr teilen zu wollen oder diffuse, pauschale Ängste vor „dem Fremden“ haben. Schon jetzt sind 55% der Flüchtlinge (Stand Mitte Januar 2016) Frauen und Kinder. Sie kommen jetzt vermehrt selbst über die lebensgefährliche Fluchtroute, weil der Familiennachzug immer unsicherer ist und sie lieber ihr Leben dabei riskieren, als es unter Faßbomben in der Heimat zu verlieren – fern von ihren Angehörigen. Auf der Flucht sind sie besonders gefährdet, vor allem Frauen und Mädchen sind unterwegs sexualisierter Gewalt und Mißbrauch ausgesetzt, sie werden von Menschenhändlern erpresst, ihre Lage ausgenutzt. Bei uns wird überall debattiert, wie sehr es uns doch vor allem auf den Schutz der körperlichen Unversehrtheit von Frauen ankommt.
Aber genaugenommen meinen die meisten dieser besorgten Debattierer, dass sie nur deutsche Frauen schützen wollen und auch die nicht gegen jede sexualisierte Gewalt sondern nur dann, wenn sie von Ausländern kommt… (den Eindruck muss man erhalten, wenn man in all den Jahren, wo Feminist*innen für eine Reform des steinzeitlichen Sexualstrafrechts kämpften, keinerlei Unterstützung aus diesen Reihen erhielt. Wo aus diesen, vor allem rechten Ecken, immer Angriffe gegen Femistinnen kamen, wo Frauen grundsätzlich nicht geglaubt wurde – weil ja z.B. Vergewaltigungen falsche Anschuldigungen seien…). Deshalb sind offenbar die Frauen und Kinder, die da unterwegs bei Eis und Schnee irgendwo zwischen Istanbul und Deutschland verrecken, „nicht unser Problem“. Dass die neu entstandenen „Frauenrechtler“ nicht wirklich für die Rechte von Frauen eintreten, bekommen die meisten Frauen immerhin mit, nur 2% Frauen wollen die AfD wählen aber 17% der Männer. Denkt mal darüber nach.
Mehr 10.000 Kinder sind auf dem Fluchtweg einfach verschwunden, mußten wir lesen in diversen Medien. Der Menschenhandel und Kindesmißbrauch blüht, weil wir nicht einmal Kindern einen sicheren Weg aus Kriegsregionen bieten können. Im 3. Reich wurden 50.000 Kinder aus Deutschland nach England durch die berühmten Kindertransporte vor den Nazis gerettet. Heute, 80 Jahre später, schaffen wir das nicht mehr, wir lassen selbst Kinder im Mittelmeer ertrinken. Ich möchte nicht den Eindruck hinterlassen, dass mir männliche Flüchtlinge gleichgültiger sind, ich hebe Frauen und Kinder hier nur deshalb hervor, weil sie in unserer Debatte immer so betont werden und damit deutlich wird, wie heuchlerisch hier argumentiert wird. Es geht (den meisten) NULL um Frauen und ihre Rechte oder ihre körperliche Unversehrtheit. Es geht um Besitzstände, Neiddebatten, Rassismus und das Ende von Menschlichkeit, Solidarität, der Würde des Menschen und dem Grundrecht auf Asyl bzw. dem Recht auf Schutz nach der UN Flüchtlingskonvention. Das hätte ich alles gern auch bei Anne Will gesagt.
Wo wir dabei sind: wo bleibt der Schutz weiblicher Flüchtlinge in Deutschland?
Deutschland hat die EU Aufnahmerichtlinie ratifiziert, die in Artikel 21 vorschreibt, dass Flüchtlinge mit besonderen Bedürfnissen zu identifizieren und ihren Bedürfnissen Rechnung zu tragen ist. Dazu gehören u.a. Minderjährige, Behinderte, Opfer von Gewalt und traumatisierte Flüchtlinge. Ich habe selbst Gemeinschaftsunterkünfte angeschaut, z.B. in Lehnitz bei Oranienburg, wo über 700 Menschen in 2 Häusern untergebracht sind, bald sollen es sogar 1000 Geflüchtete sein. Ich habe dort mit Frauen gesprochen und selbst die Sanitäranlagen besichtigt. Diese Frauen erzählten mir, dass sie nur nachts duschen, wenn alle anderen schlafen, in kleinen Gruppen, und nicht oft, denn sie hätten Angst in einem Duschraum, der nicht abschließbar ist und nicht einmal Kabinen hat. Man stelle sich vor, darunter sind auch Frauen, die bereits Opfer von Gewalt geworden sind. Niemand nimmt hier Rücksicht auf ihre besonderen Bedürfnisse. Was ist so schwierig daran, in großen Heimen einen Gang für Frauen und Familien einzurichten und andere Etagen für Männer? Warum ist es so unmöglich, abschließbare Duschräume als Standard für alle zu haben? Wer würde in einem Haus mit Gemeinschaftsduschen, in dem 350 vorwiegend wildfremde Menschen wohnen, duschen gehen, ohne abschließen zu können? Aber die weiblichen Geflüchteten und ihre körperliche Unversehrtheit interessieren kaum jemanden, schon gar nicht diejenigen, die sich gerade so lautstark für Frauenrechte engagieren.
Auch den Bedürfnissen von Kindern wird nur selten entsprochen. Kinder brauchen Gelegenheiten zum Spielen. In den von mir besuchten Gemeinschaftsunterkünften gab es nicht einen einzigen Raum zum Spielen. Es gab auch kaum Spielzeug. Die Kinder hielten sich in den endlos langen Fluren auf, auf dem nackten Linoleum und spielten dort mit einem einzigen alten Ball, oder sie rannten die trostlosen Treppen hoch und runter. Spenden sammeln für Spielzeug kann man ja, auch das schaffen wir als Freiwillige neben all den anderen Dingen, aber ein Raum muss der Betreiber stellen – und das passiert nicht.
Ja, es gibt viele Gründe, in Deutschland Angst zu haben – z.B. vor rechter Gewalt
Was leider auch nicht zur Sprache kam, waren die über 1000 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, darunter Brandanschläge, Sprengstoffanschläge, Schüsse. Über 900 davon laut BKA mit rechtem Hintergrund. Das von vielen aktuell beschworene Gewaltmonopol des Staates sehe ich auch in Gefahr, z.B. wenn ich in Freital/Heidenau mit anschauen muss, wie die Polizei sich auf der Nase herumtanzen läßt, von „besorgten Bürgern“ tagelang mit Molotowcoctails, Flaschen und Steinen beworfen wird und es passiert – nichts. Ich habe Angst um die Zukunft der Demokratie und all der kostbaren demokratischen Freiheitsrechte in Deutschland, wenn solche Kräfte weiter an Einfluss gewinnen. Ich habe Angst davor, eines Tages Schlagzeilen zu lesen, die von getöteten Flüchtlingen künden, weil wir sie nicht schützen konnten vor einem rechten, gewalttätigen Mob.
Und nun frage ich mich, wie viel Angst müssen Flüchtlinge haben, die ja auch die Nachrichten mitbekommen, wenn sie wissen, dass sie potenzielle Zielscheiben sind? Dass sie nun auch hier, wohin sie vor Krieg und Elend geflohen sind, bedroht werden und nicht ruhig schlafen können? Dass viele Menschen um sie herum sie pauschal für Vergewaltiger, Einbrecher, Diebe und sonstige Straftäter halten? Ich kenne Flüchtlinge, die selbst sagen, sie gehen jetzt nur noch zum Einkaufen raus, nicht mehr schwimmen, nicht mehr in die Disko. Sie haben Angst und sie wollen niemandem durch ihre bloße Präsenz Angst machen. Also isolieren sie sich selbst in ihrer Massenunterkunft. Das ist das Gegenteil von Integration und die Folge dieser Angstdebatte, gesteuert von Vorurteilen.
Der bisherige Gipfel ist die Diskussion um den Schießbefehl an deutschen Grenzen. Als ehemaliger DDR Bürgerin dreht sich da mein Magen um wie ein Propeller. WIE KANN MAN NUR?! Da ist es schon kaum noch eine Steigerung, wenn die Führungsspitzen der AfD da sogar noch einen drauf setzen und darüber streiten, ob man Frauen und Kinder auch erschießen soll oder doch nur die Frauen… So absurd das klingt, diese Partei hat aktuell 12% in Umfragen und Gewalt zum Verjagen von Flüchtlingen, die nach ein paar Tausend Kilometern Fluchtweg vor der deutschen Grenze stehen, finden auch bürgerliche Journalisten bürgerlicher Medien nachvollziehbar und konsequent. Ja, das macht mir Angst und zwar so richtig.
In einem Artikel (wenn ich ihn wiederfinde, verlinke ich ihn, ähnliches wird in diesem Interview mit einem Risikoforscher beschrieben) konnte man es neulich sehr schön lesen, warum viele von uns so viel Angst haben. Menschen gewöhnen sich an Risiken oder sie nehmen sie freiwillig in Kauf – dann haben sie weniger Angst davor, selbst wenn das Risiko ein tödliches sein kann. Autofahren ist riskant? Klar, aber wegen ein paar Tausend Toten im Jahr, werden wir ja wohl kaum die Mobilität einschränken wollen. Wir gewöhnen uns daran, das war ja schon immer so. Kann man machen nichts. Rauchen ist tödlich? Skifahren gefährlich? Ja, weiß man, aber scheiß drauf, man WILL rauchen oder skifahren oder was auch immer… ein freiwillig eingegangenes Risiko macht weniger Angst.
Was aber überproportional Angst macht, ist ein unbekanntes, neues, ein unfreiwilliges Risiko. Wenn ein solches Risiko wegen „YEAH! Neuigkeitswert!“ oder „Bürger wollen NOCH MEHR darüber wissen! Relevanz, Relevanz!“ unglaublich überproportional beschrieben und darüber berichtet wird, dann wirkt es noch größer, erzeugt noch mehr Angst und schon sind wir drin in einem Teufelskreislauf aus Panik, Angstmache und überproportionale Fokussierung. Wenn wir dann von dem Taschendiebstahl eines dunkelhäutigen Mannes in einer Tageszeitung lesen, die früher von den Hunderten Taschendiebstählen, die in der gleichen Stadt so jährlich passieren, nichts berichtet hat, entsteht der Eindruck: sieh mal an, ab jetzt wirds gefährlich in der Einkaufszone, laßt uns die Taschen fester packen und die Ausländer schnell wieder loswerden. Genau das gleiche im Freiburger Club, da zitieren Zeitungen eine junge Frau, die mit einem Ausländer nicht tanzen wollte, der aber trotzdem weiter mit ihr tanzte.
Die vielen Tausend Male, wo eine beliebige Frau mit einem beliebigen Typen in einer Disko nicht tanzen wollte und diese Klette trotzdem nicht los wurde, oder wo Frauen in Schwimmbädern verbal angemacht wurden, die standen in keiner Zeitung und haben auch nicht zu einer Debatte geführt, bestimmte Männergruppen (blonde? lockige? mit Sommersprossen?) vom Zugang zu Clubs oder Schwimmbädern auszuschließen. Das gleiche spielt sich ab bei jeder beliebigen Straftat, sei es nun versuchte oder vollzogene Vergewaltigung, verbale Belästigung oder anderes. Das sind alles verwerfliche Taten aber es sind IMMER verwerfliche Taten, egal, wer sie begeht. Sie sollten IMMER Aufmerksamkeit erhalten, egal wer der Täter ist, ausnahmslos. Und mal so ganz nebenbei: es gibt ein Antidiskriminierungsverbot und wir sind ein Rechtsstaat. Beides bedeutet, dass Sippenhaft und Ausgrenzung auf Basis z.B. von Herkunft oder Ethnie verboten sind. Wer Schandtaten begeht, gehört bestraft, aber individuell, nicht alle Angehörigen der gleichen Ethnie stellvertretend mit. Im übrigen hat sich auch das Opfer der versuchten Vergewaltigung von Freiburg in diese Richtung geäußert und selbst die Zutrittsverbote als „abscheulich“ gebranntmarkt.
Wenn wir uns der psychologischen Effekte der Bewertung von Risiken bewußter wären, könnten wir rationaler mit den Geschehnissen der Gegenwart umgehen. Weniger in Panik verfallen, weniger Angst haben, mehr nach Lösungen suchen und uns mehr auf die Risiken konzentrieren, die ein zu wenig an Integration verursacht. Die sind nämlich höchst real aber werden sich erst in der Zukunft zeigen, vielleicht erst in 10 oder 20 Jahren. Aber diese Risiken sind nicht in Stein gemeißelt, wir können sie beeinflussen und dramatisch verringern, wenn wir es wollen und wenn wir daran arbeiten.
#wirmachendas – den vielen Macher*innen eine Stimme und ein Gesicht geben
Das machen ja schon Hunderttausende in Deutschland, unermüdlich, jeden Tag. Es werden auch nicht weniger. Aber wie Mehmet Daimagüler anmerkte – es sind die stillen, die man daher weniger wahr nimmt. Sie labern halt nicht. Sie machen einfach. Sie verplempern ihre Zeit nicht wie die lauten Besorgten mit wütenden Protesten auf virtuellen und analogen Plätzen sondern engagieren sich für eine bessere Integration, mit Deutschkursen, Begleitung zu Behörden, mit Spendensammeln und Verteilen, mit Rechtsberatung, mit kreativen Lösungen für anstehende Probleme (schaut mal die eigenen 14 Wände an!) und auf unendlich vielen Wegen mehr. Damit sie endlich sichtbarer werden und der verquere Eindruck, die Mehrheitsmeinung sei eine ablehnende etwas gerade gerückt werden kann, haben 100 Frauen aus Wissenschaft, Kunst, Kultur, Medien und öffentlichem Leben die Initiative #wirmachendas gegründet. Ich bin eine dieser 100 Frauen und kann nur empfehlen, unsere Seite einmal zu besuchen und sich inspirieren zu lassen, von der Motivation und Kreativität der Allianz der Willigen, die es massenhaft in Deutschland gibt. Diese Initiative wächst gerade zur Bewegung, an der sich immer mehr Einheimische und Neuankömmlinge, Institutionen und Netzwerke, Frauen und Männer engagieren. Weil eine gemeinsame gute Zukunft für uns alle möglich ist – wenn wir unsere Energien darauf lenken.
Das alles hätte ich also auch gerne noch gesagt, nun hab ich stattdessen aufgeschrieben.