Der letzte Tropfen war zu viel. Tschüss, Piratenpartei.

Vor 2,5 Jahren wurde ich Mitglied der Piratenpartei, weil ich glaubte, innerhalb der Partei effektiver für meine Überzeugungen kämpfen zu können. Ich trete nun aus, weil ich glaube, dass inzwischen das Gegenteil der Fall ist.
Ich bin es leid, wichtige Themen als sekundär zu erleben, weil das drölfzigste Gate wichtiger ist. Mitten im EU-Wahlkampf mit #keinHandschlag konfrontiert zu werden, war vor allem ein Schlag ins Gesicht unserer politischen Anliegen. Der Mißbrauch der technischen Infrastruktur der Partei durch den #orgastreik, um den ehemaligen Bundesvorstand unter Druck zu setzen, war für mich vorsätzliche Behinderung politischer Arbeit. Wenn dann unerwünschte Personen abgeschossen sind und ein Buvo nach sozialliberaler Fasson installiert ist, sind plötzlich #1000Hände bereit. Da waren die EU Wahlen aber leider schon vorbei.
Wo ist das Visionäre, Progressive, Mutige, das Neue und das Andere geblieben? Was ist das für eine „Netzpartei“, die einen vom Parteitag beschlossenen BEO (Basisentscheid ONLINE) als Briefwahl umsetzt? Das konnten SPD und Grüne schon viel früher. Wo sind unsere Antworten auf die Fragen, die die digitale Revolution aufwirft? Wo sind unsere originellen Wahlkampfaktionen? Wo sprengen wir den Parlamentsbetrieb durch disruptives Verhalten, das das System auch mal von innen in Frage stellt? Openantrag.de ist eine großartige und innovative Sache. Aber sie reicht mir nicht. Die visionärsten Pirat*innen waren sogenannte progressive, sie verlassen gerade reihenweise die Partei, sind schon längst weg oder werden nach wie vor von Parteiführung und sozialliberal-Flügel angegriffen. Es gibt Piraten, die halten Naziblockaden schon für Gewalt, sie reden von „freiheitlich-demokratischer Grundordnung“ (#FDGO), wenn sie eigentlich Angst vor Veränderung haben. Obrigkeitshörige, buchstaben-gesetzestreue Angsthasen, während in Schweden ein Peter Sunde im Gefängnis sitzt. Mit denen hätte man in der DDR keine Mauer eingerissen. Ich nehme den sozialliberalen Flügel als Flügel der Verhinderung wahr, als konservativ, vergangenheitsgerichtet, ängstlich und spaltend. Wenn mich jemand nach einem sozialliberalen Mitglied fragt, das was innovatives oder mutiges geschafft hat, fällt mir einfach niemand ein.
Ich habe nichts mehr verloren in einer Partei, deren „sozialliberale“ Mitglieder mehrheitlich die Zusammenhänge in einer digitalen Gesellschaft nicht verstanden haben und glauben, eine Konzentration auf 1, 2 Netzthemen sei ausreichend. Es gibt so viele Verbindungen zwischen all den Themen im Parteiprogramm – BGE und Asylrecht explizit eingeschlossen – und es tut mir weh zu sehen, dass das kein Konsens (mehr) zu sein scheint. Mit #reclaimyournetzpartei kann ich nichts anfangen. Ein Verein kann das tun, eine Partei braucht breitere Positionen und den großen Blick für Zusammenhänge und genau das wäre die Verantwortung dieser Partei gewesen.
Ich kann nicht mehr ertragen, dass rechte Gefahren verharmlost und linke herbeigeredet werden. Wenn selbst nach den Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg noch Piraten der Meinung sind, Linksextremismus ist eine Bedrohung in Deutschland oder Piraten waren doch leider nur zu links und sollte man nicht bei der AfD ein paar Erfolgsrezepte abgucken? – ja, dann fällt mir dazu nichts mehr ein.
Ich bin es überdrüssig, als Feministin angegriffen und beleidigt zu werden, oder solche Angriffe gegen andere mitzuerleben. Ich habe keine Lust mehr, #feminazi, #genderistin und #karrieregeil genannt und für den Niedergang der Partei verantwortlich gemacht zu werden. Das immer wieder kehrende Störfeuer, ich würde mich sogar an der Partei bereichern, ist absurd lächerlich, da offenbar diejenigen, die so reden keine Ahnung davon haben, wieviel eigene Zeit und privates Geld wir eingesetzt haben. Ich finde es jedes Mal unfassbar, dass es immer wieder Piraten gibt, die den Begriff „Piratin“ als satzungswidrig bezeichnen, die von #postgender reden, Diskriminierung leugnen und eine erschütternde Toleranz gegenüber Sexismus an den Tag legen.
Eine Partei, in der neuerdings Ordnungsmaßnahmen vom Buvo eingesetzt werden (sollen), um Flügelgegner auszuschalten, oder wo sie ausbleiben, weil sich Aggressionen offenbar „nur“ gegen den unliebsamen Flügel richten (#zusecrew) wo gejubelt wird, weil ein Flügelgegner die Partei verläßt oder von einer Kandidatur zurücktritt oder der halbe Saal laut buht, wenn aus dem „falschen“ Flügel eine kritische Wortmeldung erfolgt (#aBPT), hat ein Problem mit innerparteilicher Demokratie. Ich habe mich dazu auf eben jenem aBPT im Juni mit einer Rede geäußert, das kann man HIER nachhören. Damals hatte ich noch einen Rest Hoffnung. Nun nicht mehr.
Die gute Nachricht: an meinen Überzeugungen hat sich vor, während und nach meiner Mitgliedschaft nichts geändert. Ich werde weiterhin dafür kämpfen, die Welt zu verbessern – als kleines Zahnrad in einem großen Getriebe, weil ich immer noch glaube, dass auch kleine Zahnräder dazu beitragen können. Ich bin immer noch links, feministisch, antifaschistisch, progressiv und immer noch Kämpferin für Freiheit in einer digitalen Gesellschaft. Ich bin dankbar für die vielen großartigen Menschen, die ich durch die Piratenpartei kennenlernen durfte. Unsere Wege werden sich weiter kreuzen.
PS: Früher hat es mir noch viel ausgemacht, mitzuerleben, wer (und wie) jubelt, wenn bestimmte Menschen die Piratenpartei verlassen. Es ist mir inzwischen egal, wer bei meinem Austritt Sektkorken knallen läßt oder Wetten gewinnt.

 

Terminhinweise: 11.9. – Maybrit Illner zu Shareconomy, 12.9. Dresden zu Zivilgesellschaft

Kurzfristig 2 Terminhinweise:
Am 11.09.2014  werde ich Gast sein in der Talkshow von Maybrit Illner, das Thema ist „Bieten, mieten, tauschen – Macht das Internet unsere Jobs kaputt?“.
Die weiteren Gäste:
Jeremy Rifkin – Visionär, Ökonom, Bestsellerautor u.a. Das Ende der Arbeit, Die Empathische Gesellschaft, Die Dritte Industrielle Revolution, Die Nullgrenzkosten-Gesellschaft
Peter Altmaier – Kanzleramtsminister
Leni Breymaier – ver.di-Landesbezirksleiterin Baden-Württemberg
Gunnar Froh – Gründer der Online-Mitfahrzentrale WunderCar, ehemaliger Deutschland-Chef der Internetvermittlungsplattform Airbnb

An der Leer-Stelle war eine Graphik. Da ich wegen einem vergleichbaren Screenshot abgemahnt wurde, habe ich sie diesmal ausgeschnitten

Die Leer-Stelle war eine Graphik, da ich wegen einem vergleichbaren Screenshot abgemahnt wurde, habe ich sie diesmal ausgeschnitten


Es wird um Zukunft und Nutzen der Shareconomy gehen, um die Gefahren von Raubtierkapitalismus im Internet, um positive Visionen und bedrohliche Szenarien. Es geht auch – endlich mal wieder – um den Elefanten im Raum, nämlich die Frage nach unserem Gesellschaftssystem. Ist der Kapitalismus die bestmögliche Lösung? Hat er sich überlebt? Wird Rifkin mit seiner Behauptung, die digitale Gesellschaft ist das Grab des Kapitalismus (so wie wir ihn kennen) Recht behalten? Wenn ja, was kommt danach? Ich sehe zum ersten Mal seit der Wende in der DDR ein Zeitfenster für einen Dritten Weg, für eine bessere, sozialere, gerechtere und vor allem auch für eine nachhaltigere Gesellschaftsordnung, denn alles das ist der Kapitalismus nicht. Er spaltet uns immer mehr in arm und reich, er schafft Profite auf Basis der Ausbeutung und damit des Elends anderer, er treibt Raubbau an den Ressourcen dieser Erde und wird unweigerlich ihr bzw. unser Ende bedeuten, WENN wir keine alternative Gesellschaftsordnung für die Menschheit finden.
Die Shareconomy – eine Gesellschaft der Commons und des Teilens – kann eine solche Gesellschaft sein, die uns freier macht, sozialer und gerechter ist und die vor allem nachhaltiger sein wird. Sie kann die Grundlage dafür schaffen, den Lebenssstandard überall auf der Welt anzuheben, Lösungen für schwerwiegende Probleme zu entwickeln und zu verbreiten. Wir brauchen eine neue, eine klarere Vision, von dem was möglich ist und was besser ist, als das, was wir gerade haben. Ohne Vision ist der Kampf dafür schwierig. Deshalb sind solche Grundsatzdebatten so wichtig. Es wird bestimmt eine spannende Debatte. Ich freue mich darauf, v.a. weil ich Jeremy Rifkin großartig finde und es mir eine Ehre ist, mit ihm zu debattieren.
Ein Zitat von Jeremy Rifkin möchte ich hier noch gern beisteuern:

If there is an underlying theme to the emerging cultural conflict, it is the „monopolization vs. democratization of everything.

Es stammt aus einem sehr lesenswerten Artikel, den er selbst für die Huffpost (global) geschrieben hat.
Am Freitag, 12.09.2014, bin ich in Dresden bei der Tagung „Aufbrüche der Zivilgesellschaft“  und werde dort einen Vortrag halten und  anschließend zu „Zivilgesellschaft in der digitalen Welt“ debattieren.
Mitdiskutant ist Hansjürgen Garstka, Politikwissenschaftler und ehem. Berliner Datenschutzbeauftragter, die Moderation macht Kerstin Harzendorf. Ich werde in meinem Vortrag vor allem auf die Chancen für zivilgesellschaftliches Engagement in einer digitalen Gesellschaft eingehen, H. Garstka wird sich auf die Risiken und Ambivalenzen konzentrieren, in der anschließenden Debatte werden wir uns beide insgesamt austauschen. Mir fallen natürlich auch gewisse Risiken ein, z.B. die Gefahr, dass ein Überwachungsstaat zivilgesellschaftliches Engagement einschränkt, da es auch auf Freiheit und Privatsphäre aufbaut.
Die Veranstaltung trägt den Untertitel: „Wege, Positionen und Wirkungen der DDR-Bürgerbewegungen 1987 – 2014, Historische Entwicklungen und aktuelle Implikationen“ und wird unterstützt von der Stiftung Weiterdenken der Heinrich Böll Stiftung, von der Bundesstiftung Aufarbeitung und von der Robert Havemann Gesellschaft. Viele Namen, die mindestens uns ex-DDR-Bürgern aus Wendezeiten noch ein guter Begriff sind, tauchen dort unter den Redner*innen auf, z.B. Ulrike Poppe und Dr. Sebastian Pflugbeil.