Vor 25 Jahren – Spiegelschrift-Brief zu den Geschehnissen in der Wende vom 9.10.1989

Manchmal waren Vorlesungen auch in der DDR langweilig und dann schrieb ich Briefe. Wenn es dabei in der Wendezeit um brisante Inhalte ging und ich nicht riskieren wollte, dass jemand Falsches beim Über-die-Schulter-Schauen mitliest, schrieb ich in Spiegelschrift – eine Art minimaler Selbstschutz. Einen solchen Brief hatte ich nicht fertiggeschrieben, deshalb überlebte er in meinen Unterlagen. Er entstand am 9.10.1989 und richtete sich an eine Freundin.

Ausschnitt Spiegelschrift-Brief

Ausschnitt Spiegelschrift-Brief vom 09.10.1989

Hier der Brief im Wortlaut:

Liebe XXXX,                                                                                                      09.10.89
Ich habe wieder mal WS (=Wissenschaftlicher Sozialismus), da bleibt mir nichts Anderes übrig, als so rum zu schreiben. Da wirst Du Dich wieder ärgern. Ach C., sag nicht, Du hättest noch den geringsten Durchblick…Ich habe keinen mehr. unsere Studenten erzählen alle von den Ereignissen in ihren Heimatkreisen. In Dresden war es besonders schlimm. Ich vertrag es nicht, DDR und Schlagstöcke, Schilder, Hunde, etc. … paßt denn das zusammen? In Halle soll ja heute was passieren. Bist Du dabei? Bist Du noch Genosse? Ich wüßte nicht, was ich als Genosse tun würde. Ich habe am Wochenende getippt. Ich schicke Dir doch ein Forumexemplar, wer weiß, wann wir uns wiedersehen und Information war nie notwendiger als heute. Vielleicht habe ich Glück und es kommt glücklich in Deine Hände. Schreib bitte sofort, wenn Du es erhalten hast. Ich muss das wissen, weil ich doch schon überwacht werde. Ein komisches Gefühl. In WS höre ich gerade, Schuld an den blutigen Zwischenfällen wäre das Neue Forum. Makaber…

An dieser Stelle brach der Brief ab.
Weitere Informationen rund um die Wende ’89:
umfangreiche Sammlung von Originaldokumenten aus der Wendezeit
Tagebucheintrag 4.10.1989
Tagebucheinträge 6. und 9.10.1989
Resolutionen der Fachschule für Angewandte Kunst vom 9. und 10.Oktober 1989
mein Buch – Mauern einreißen
Fotos aus der Wendezeit