Teil 4 – Aus meinem Tagebuch vor 25 Jahren – Herbst 1989 DDR (02.11.1989)

 „Er hatte einen Brief an mich geschrieben mit genaueren Informationen zu den Geschehnissen am 05. und 07.10. (Streiks, Hungerstreiks) und der Bitte um Öffentlichmachung. Man hat ihn denunziert und den Brief gefunden. Jetzt ist er in Einzelhaft, ihm droht ein Verfahren wegen ‚illegaler Nachrichtenübermittlung staatsfeindlichen Inhalts'“

Meine Tagebuchnotizen vom 02. November 1989.
Dies ist Teil 4 aus der Reihe “Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989″, Teil 1 ist ein Tagebucheintrag vom 04.Oktober 1989, er findet sich HIER. Dort gibt es auch eine kleine Einleitung zu dieser Reihe. Teil 2 sind Tagebucheinträge vom 6. und 9.10.1989, u.a. zum Thema 40. DDR Geburtstag und polizeiliche Übergriffe (LINK). Teil 3 ist ein Tagebucheintrag vom 15.10.1989 (LINK). Auf meiner Homepage gibt es auch noch mehr Dokumente aus der Wendezeit (LINK) und persönliche Bilder von 1989 (LINK) sowie Informationen zu meinem Buch “Mauern einreißen!” (LINK).
Kürzungen (private Inhalte) sind erkennbar an “(…)”, Erklärungen gibt es in Klammern: (ADB: Erklärung) oder so: (=blabla). Ausführlichere Erklärungen gibt es in Fußnoten.

Selbstportrait als Studentin an der Fachschule für Angewandte Kunst Schneeberg, ca. 1989

Selbstportrait als Studentin an der Fachschule für Angewandte Kunst Schneeberg, ca. 1989

Tagebucheintrag 02.11.89 – 22:00, Donnerstag, WH

Ich komme eben vom Bürgerforum Schlema, nach 3,5 stündiger Diskussion. Es war mittelprächtig. Im Präsidium leider nur eine Frau – die Protokollantin. Jung nur der Umweltvertreter (CDU) und der Pfarrer, der am intelligentesten, mit guter Ironie und gekonnter Polemik sprach. Einer der nur ganz wenigen, die die “Bananenprobleme” in ihrer Bedeutung beließen und auf grundsätzliche Dinge hinwiesen. Er fand guten Beifall. Auch der Bürgermeister selbst sprach gut, er könnte glatt ein Ja bei der nächsten Wahl von mir bekommen. Manchmal zeigte sich, dass das Volk freien Streit nicht gewöhnt ist. Es kam zu Ausfällen und persönlichen, unqualifizierten Angriffen. Beschämend, wie kurzsichtig viele noch sind. Aber gut, wie viele es waren und wie sehr dabei.

Überall wird diskutiert, gestern war Schneeberg-Forum

Der Mensch vom Strahlungsschutz war eher peinlich. Alles ist hier völlig ungefährlich. (1) Einige Bürger wurden leicht rassistisch. Über die Str (asse) d(er) DSF beklagte sich wer, statt Wohnungen für Bürger stünde dort eine Reha-Werkstatt, ein Ausländerheim und ein Arbeiterwohnheim für Armisten… die FAK (=Fachschule für Angewandte Kunst) hat die Dame in der Aufreihung der Übel wohl nur unterlassen, weil sie hinter uns saß. Beschämend, der Arzt hat sich auch dementsprechend geäußert. Überall wird diskutiert, gestern war Schneeberg-Forum. Am Montag hatten wir die Gründung unseres Studentenrates beschlossen, 2 Vertreter je Studienjahr und 1 für Markneukirchen, der ist T., Gitarrenbauer aus dem ersten (= 1. Studienjahr), gut und engagiert. Er würde lieber bei uns streiten als bei den trüben Tassen. Seine erste Tat: Forderung einer Fremdsprachenwahl im Mehrheitsbeschluss, also Englisch statt Russisch im Klartext.

Man hat ihn denunziert und den Brief gefunden. Jetzt ist er in Einzelhaft

Gestern kam ein Brief aus Halle, vor 2 Wochen von Sebastian (2) geschrieben und rausgeschmuggelt. Vor gut 1 Woche ein Brief von einer fremden Frau aus Karl-Marx-Stadt (=heute Chemnitz), mit dem Hinweis, unter anderer Adresse und ganz harmlos zu schreiben. Ach Sebastian, der Brief hat mich erschlagen. Er hatte einen Brief an mich geschrieben mit genaueren Informationen zu den Geschehnissen am 05. und 07.10. (Streiks, Hungerstreiks) und der Bitte um Öffentlichmachung. Man hat ihn denunziert und den Brief gefunden. Jetzt ist er in Einzelhaft, ihm droht ein Verfahren wegen “illegaler Nachrichtenübermittlung staatsfeindlichen Inhalts”, 3 x täglich bekommt er sein Essen durch die Luke, durchs kleine Fenster ein Blick auf die Straße, sonst nichts. Von mir (erhält er) fast keine Post mehr, in den Akten hat er sie liegen sehen, meine Briefe. Ich schreibe jetzt wieder sehr oft, mit verschiedenen Absendern, auch Bertram will mal schreiben, ich versuche, mich unverfänglich auszudrücken. Armer Sebastian!

Ich habe hier alle gefragt, ob niemand eine Rechtsberatung kennt, die vertrauenswürdig ist

Ich bin nun dabei, alles nur Mögliche in Bewegung zu setzen, um ihn da raus zu holen. Habe noch gestern einen Brief an den Direktor des Strafvollzuges verfaßt, (3) mit der deutlichen Bitte, mich als Verlobte nach 8 Wochen fehlender Information bitte über Gründe für die Haftverschärfung meines Freundes zu informieren, bzw. eine Konsultation zu ermöglichen. Ich lasse mich nicht abwimmeln. Meine Schreibadresse will man ihm streichen, meine Besuche untersagen! Ich habe hier alle gefragt, ob niemand eine Rechtsberatung kennt, die vertrauenswürdig ist. Eva hat über ihren Onkel und der über den ev.-meth. Pfarrer von Halle eine Adresse vom Superintendenten und von einem Rechtsanwalt aus Halle besorgt. Nach langem Kampf mit der Telefontechnik und der Sekretärin des Rechtsanwaltes habe ich viel erreicht. Morgen fahre ich nach Halle, raus in die Neustadt, zur kleinen Kathrin, laß mir Schlüssel geben und fahre abends noch mal rein nach Halle, ab 21:00 kann ich den Superintendenten sprechen.

Brief an den Leiter der Justizvollzugsanstalt Halle, vom 1. Nov. 1989 (handschriftliche Vorlage, abgeschickt wurde eine Schreibmaschinenabschrift)

Brief an den Leiter der Justizvollzugsanstalt Halle, vom 1. Nov. 1989 (handschriftliche Vorlage, abgeschickt wurde eine Schreibmaschinenabschrift)

Alles freut sich über Scheinerfolge, die “Wende” und die “Fortschritte” und im Kern hat sich rein nichts geändert

Am Samstag kann ich dann den Rechtsanwalt anrufen und mit ihm einen Termin am gleichen Tag ausmachen. Er war höchst sympathisch und versprach, wenn es möglich wäre, zu helfen. Es gibt also noch Solidarität, ich bin so froh! Wenn das nur Sebastian wüßte! Ich habe noch Fäden nach Berlin, zum RA Giesinger, der behandelt Fälle vom 7.10., darunter Maria. Auch B. habe ich um Hilfe gebeten, sein Bischofs-Vater weiß gewiß auch jemanden. Über Petra habe ich das Neue Forum eingeschaltet, die kennen vielleicht auch wen, der helfen kann. Ich bin so aufgeregt. Da muss sich doch was ändern! Alles freut sich über Scheinerfolge, die “Wende” und die “Fortschritte” und im Kern hat sich rein nichts geändert. Von wegen Straffreiheit für Gesinnung und pol. Meinungsäußerung… ha, ha. Einzelhaft, Armer Sebastian. Ich würde Dir so gerne helfen. (…)

Unsere kleine Kathrin sehen wir morgen das letzte Mal, sie hat ihren Laufzettel schon und ist bald in Kassel.

Von Gabriele (ital. Brieffreund) kamen jetzt 5 Karten von Padova zu Hause an. (….)  Unsere kleine Kathrin sehen wir morgen das letzte Mal, sie hat ihren Laufzettel (4) schon und ist bald in Kassel. Unsere dritte Kathrin studiert gerade noch zu Ende. Ihr Freund hat auch seine Zettel erhalten. Jetzt sind es schon 3 von 20 Gestaltern, können wir uns das leisten?! In diesem Jahr haben wir statt weit über 100 gerade 40 Bewerber, Katastrophe. FAK annonciert freie Studienplätze… früher nie möglich.

***

beim Naturstudium an der Fachschule für Angewandte Kunst Schneeberg, 1988/1989

beim Naturstudium an der Fachschule für Angewandte Kunst Schneeberg, 1988/1989

(1) Unsere Wohnheime befanden sich in Schlema, Erzgebirge, einem Uranabbaugebiet der Wismut. Ringsherum gab es Abraumhalden, die vor sich hin strahlten. Aus Abraummaterial wurden Fundamente gebaut, der Boden war von Schächten durchzogen, aus manchen alten Schächten zogen Radongase nach oben und verstrahlten die Gegend. Als ich meinem Vater, einem Arzt, erzählte, dass ich an einer Kunstschule in Schneeberg studieren möchte, erzählte er mir von der Diagnose „Schneeberger Lungenkrebs“… eine häufige Erkrankung der Bergarbeiter der Region. Während der Wendezeit wurde das Problem öffentlich debattiert, später gab es auch Messungen der Verstrahlungen. In unserem Studentenwohnheim wurden 2000 Becquerel gemessen. Der Grenzwert in Westdeutschland war 60 Becquerel… Irgendwann lange nach dem Mauerfall kam sogar der damalige Umweltminister Töpfer nach Schneeberg. Besser war das auch nicht, er empfahl z.B. einer Frau, die im Haus 30.000 Becquerel hatte, doch öfter mal zu lüften, damit das Radongas entweichen kann. Das war mitten im eiskalten Winter.
(2) Sebastian heißt eigentlich anders. Ein Freund aus Kindertagen, der in Halle im Gefängnis saß. Ich hatte mich als seine Verlobte ausgegeben, um Schreib- und Besuchsrechte zu erhalten. Es hatte Anfang Oktober auch in der Justizvollzugsanstalt Proteste gegeben, von denen er mir in seinem Schmuggelbrief berichten wollte. Ich schrieb ihm damals fast täglich bunte Briefe und nummerierte sie, damit er wenigstens wußte, wie viele Briefe zensiert worden waren.
(3) Ich habe auf diesen Brief nie eine Antwort von der JVA Halle erhalten. Am 22.11.1989 – zwischendurch war die Mauer gefallen – schrieb ich erneut an den Direktor des Gefängnisses. Aber auch darauf habe ich keine Antwort erhalten. Der zweite Brief ist HIER verlinkt. Im Zusammenhang mit dem Fortschreiten der Wende wurde wenige Monate später eine Amnesty erlassen, in deren Rahmen auch mein Freund frei kam.

(4) Einen sogenannten Laufzettel bekamen Ausreisewillige, deren Ausreiseantrag bewilligt wurde. Sie mußten damit von Amt zu Amt laufen und diverse Bestätigungen einholen und ihre Papiere abgeben, um das Ausreisedokument zu bekommen.

***

Dies war der 4. Teil einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989. Weitere folgen in den nächsten Tagen.
Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch ans Herz gelegt 🙂
Weitere Informationen rund um die Wende ’89:

Teil 1: Aus meinem Tagebuch – vor 25 Jahren – Herbst 1989 DDR (4.10.1989)

Tagebuch Nr. 24, Oktober - November 1989

Tagebuch Nr. 24, Oktober – November 1989

English version HERE.
Auch im heißen Herbst 1989, während meines Studiums an der Fachschule für Angewandte Kunst, Schneeberg, als ich 21 Jahre alt und in der Opposition engagiert war, schrieb ich über das was mich bewegte, in mein Tagebuch, wie schon seit meinem 14. Lebensjahr. Ich bekomme noch heute Gänsehaut, wenn mir beim Lesen der alten Zeilen diese Wochen wieder lebendig werden. Nicht nur Erinnerungen werden dabei wieder wach sondern gerade auch Emotionen. Es war eine Phase intensivster Gefühle, von Angst und Panik, Euphorie und Hoffnung, von Verzweiflung bis zum Gefühl der eigenen Unbesiegbarkeit und dem Erleben von Mut, den man sich gar nicht zugetraut hatte.
Weil diese sehr persönlichen Notizen vielleicht auch für Andere einen Einblick geben können, in diese Zeit, möchte ich sie hier veröffentlichen. In meinem Buch „Mauern einreißen“ sind Ausschnitte dieser Texte gekürzt  veröffentlicht. In dem Buch erzähle ich auch, was diese Zeit insgesamt für mich bedeutete und warum sie mir ein Quell unbegrenzter Energie geworden ist. Warum ich wegen dieser Erfahrungen heute noch glaube, dass selbst unmögliche und große gesellschaftliche Veränderungen möglich sind. Mehr Dokumente – die im Tagebuch erwähnten Aufrufe und Listen des Neuen Forums – aber auch viele weitere Originaldokumente der Wendezeit habe ich auf dieser Website bereitgestellt (LINK).  Ein paar mehr Fotos von 1989 gibt es dort auch (LINK).
Nachfolgend ein Transkript aus meinem Tagebuch, ich habe nur private Inhalte gekürzt, erkennbar an „(…)“. Erklärungen von Abkürzungen o.ä. habe ich in Klammern kursiv gesetzt. Einige Namen habe ich nur als Initialen erwähnt. Dies ist mein erster Blogpost zu meinen Tagebuchnotizen vom Herbst 1989, es werden weitere folgen.
04.10.2014, 23:15 Uhr, Schlema, WH FAK DSF 3
(Wohnheim, Fachschule für Angewandte Kunst, Strasse der DSF 3)

„Unbegreiflich, warum ich so lange nicht geschrieben habe. Vielleicht konnte ich einfach nicht beginnen? Horror Vacui bei so viel zu Schreibendem? In Gedanken oft getan. Herrje, so viel Politik, Politik, Politik. Nie hat sie mich so beherrscht, so mein Leben ausgefüllt (und) angeleitet.

Tagebuch, 4.10.1989

Eine heiße Zeit, gefährlich, endlich aktiv und interessant. Niemand kommt ohne Standpunkt davon.

Eine heiße Zeit, gefährlich, endlich aktiv und interessant. Die Situation ist gekommen, wo Entscheidungen getroffen werden müssen, wo Bedeutendes geschieht. Historische Ereignisse und Möglichkeiten, die es vorher nicht gab. Es kann ausarten in jede Richtung, selbst Neo-Stalinismus, was die Praktiken angeht oder eine Militärdiktatur sind möglich. Eine Konterrevolution ist ahnbar. Es brodelt, es kocht, es brennt. Überall. Niemand kommt ohne Standpunkt davon. Man muss sich endlich bekennen. Sagen, was man denkt. Es ist höchste Zeit.

Selbstportrait, 1989, im Studentenwohnheim

Was ist passiert? Den ganzen Sommer schon sind Tausende über Ungarn ausgewandert. Jetzt im September haben sich letztes Wochenende insgesamt 6.800 Bürger (mit kleinen Kindern!) in und um die BRD-Botschaft in Prag und einige 100 in Warschau festgesetzt. Auf Planen und in Zelten unter unwürdigen Bedingungen haben einige davon Wochen so zugebracht. 1 Arzt für alle, der schon längst jede Verantwortung abgelehnt hat. Von 50 Kindern hatten 40 Durchfall. Genscher selbst hat am Samstag die Lösung – Ausreise – durch die DDR mit Reichsbahn verkündet. Ein unvorstellbarer Jubel. Komische Bilder, wie Völkerwanderungen nach dem Kriege. Wie Flucht aus der Barbarei. Umarmen, Tränen.
In Dresden und unterwegs sprangen immer mehr Leute auf. Ein Drama. Ein Müncheberger, B. – Achims Bruder – bedankte sich im Fernsehen für die Hilfe von Seiten der polnischen Regierung und der Solidarnosc… Ein Anblick! Die Botschaften sollten geschlossen werden. Aber die BRD hielt sich nicht dran und heute früh waren es schon wieder 11.000 Leute (!) um die Botschaft. Gestern die Nachricht, dass der visafreie Reiseverkehr in die CSSR bis auf Weiteres aufgehoben ist. Ein Hammer nach dem Anderen. Jetzt geht also nur noch Rostock und Suhl ohne Visum. Hurra. Keine Überfallbesuche bei Gustav mehr! 11.000, und Kuno (mein Bruder) hatte auch überlegt, ob er nach Prag fährt. Hätte er geahnt, wie flink das geht, er wäre schon längst weg.

Es muss doch endlich was passieren!

In der Schule wurde es auch immer heißer. Bertram hatte mir ein NF-Info-blatt (NF=Neues Forum) und eine Mitgliederliste sowie eine Broschüre über den Neofaschismus in der DDR mitgebracht. Das Infoblatt haben wir gleich mehrfach abgetippt (im Werkstattsekretariat) und unter Leute gebracht. Hier habe ich erst Sylvia und Gundula geworben. Nach den letzten Ereignissen (Karsten wird wohl beschattet und sein Zimmer ist ebenfalls betreten worden) hat auch er sich entschlossen, zu unterschreiben und Annett und einige Andere folgen noch. Erstmal muss ich irgendwie an die Liste rankommen, ich  habe sie blöderweise zuhause liegenlassen. Auf meine Familie kann ich stolz sein. Vater, Mutter, Schwester, Schwager, Freund – alle unterschrieben. Auch wenn z.B. meine Mutter Hemmungen hatte. Ihr Stasierlebnis war nicht wirkungslos. Wo man damals zu ihr sagte: Seien Sie froh, wenn Sie Ihre Kinder wieder sehen dürfen… Der Vater war eher überzeugt. Es muss doch endlich was passieren! (…)

Aus der Wendezeit - mein Schreibtisch im Wohnheim - hier schrieb ich mein Tagebuch

Aus der Wendezeit – mein Schreibtisch im Wohnheim – hier schrieb ich mein Tagebuch

Wir haben Mut getankt.

Zu Anka Goll sind wir gefahren, es stellte sich heraus, dass sie selbst uns des Forums wegen besuchen wollten. Sie hatten auch das Blatt und eine Liste dort. Wir haben Mut getankt. Am 16.10. kommen sie zu uns, wenn die E. auch da ist. Hier gab es fast täglich Versammlungen. Es ging um die Frage Fete – ja oder nein, wen ja, dann wie. Mit Fete ist das Keilbergfest am 8.10. gemeint. Es war schon überall ausgehängt und in der Presse stands und eine Menge war organisiert. Umsonst. Unsere Studentenschaft hat sich tapfer geschlagen. Wir haben lange und viel dikutiert. Erst am Dienstag – nach der CSSR-Mitteilung haben wir aufgefordert, zum Boykott.

Ehrlichkeit ist von Nöten, jetzt nicht zu feiern heißt nicht, 40 Jahre zu ignorieren, sondern zu sehen.

Wir haben alles abgewogen, kamen dann einstimmig zu dem Schluss, dass wir uns verweigern müssen. Dass es in der gegenwärtigen Situation, die eine nie geahnte Fluchtbewegung aufzeigt, unmöglich ist , ein Fest zum 40. DDR Geburtstag zu veranstalten. Auch wenn wir mit Plaketten und in schwarz erschienen wären. Ehrlichkeit ist von Nöten und jetzt nicht zu feiern heißt nicht, 40 Jahre zu ignorieren, sondern zu sehen. Diese letzten Wochen sind das Ergebnis dieser 40 Jahre, ohne letztere also auch nicht möglich. Feiern? Nie.

Schwere Ereignisse erwarten alle, und “dass es noch viel schlimmer” kommt.

In Leipzig am Montag die größte Demo seit 1953, 20.000, die Stasi “lud” einige auf LKW, an Händen und Füßen gepackt. Furchtbar, es geht los. Bei den Dozentengesprächen wurde deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es jederzeit zu einer Situation kommen kann, wie sie ’53 oder noch nie da war. Schwere Ereignisse erwarten alle, und “dass es noch viel schlimmer” kommt. Oh weh. Aber endlich tut sich was und eine Geburt ist immer mit Schmerz verbunden.

Meine Post wird neuerdings offen nach Müncheberg geschickt. Schön, wie schnell die reagieren.

Meine Post wird neuerdings offen nach Müncheberg geschickt. Schön, wie schnell die reagieren. Adieu, Frankreich, das wird wohl nichts werden. Die können ja kein verbotenes NF-Mitglied dahin schicken. Und raus kriegen die alles. In den Zeitungen steht entweder nichts oder nur Mist. Schlimm in jedem Falle. Haarsträubend. Die Tausenden sind “einige Bürger, darunter Asoziale”, die Ungarnflüchtlinge sind mit “Drogen betäubt worden und über die Westgrenze verschleppt” worden, der “Sklavenhandel” in den Imperialismus blüht… da kommt einer das Kotzen. Widerlicher Mist. Ich habe ein Einladung bekommen, zum Fackelzug nach Aue zu fahren, “Bekenntnis zum Vaterland”, “Vertrauen in die Politik der Heimat”, “Für ein Leben in Glück und Frieden, uns und unseren Kindern”, welch Hohn. Im Dresdener Bahnhof haben sich mehr als 3000 Bürger verschanzt, die auf die Züge aufspringen wollen, die durch die DDR fahren, von Prag kommend. Erst hat eine nette Frau durchs Mikro geredet, dann wurden die Maßnahmen schrittweise verschärft und am Ende griff die Polizei ein. Die Menschen legten sich auf die Schienen, um die Züge zu stoppen.
Kleine Ergänzung vom 4.10.2014: gestern gab es auf Twitter eine zum vorhergehenden Absatz passende Kopie eines Stasi-Dokumentes, die ich hier nachträglich einfügen möchte:

Man wundert sich über die große Freundschaft zu China – denke an den Juniaufstand und sein so blutiges Ende. Ob die Soldaten so etwas mitmachen würden?

Man wundert sich über die große Freundschaft zu China – denke an den Juniaufstand und sein so blutiges Ende. Ob die Soldaten so etwas mitmachen würden? Was mache ich nun am 07.10.? Nach Berlin fahren? Es passiert garantiert irgendetwas. Muß ja. Die Spannung schreit nach Entladung. Von Gabriele (italienischer Briefreund) der Brief ist verschwunden. Gemeinheit. Einfach konfisziert. Der von Melissa (amerikanische Brieffreundin) kam offen. Sie hat sehr lieb geeschrieben, hat mich so gefreut. Florence (französische Brieffreundin) hat mir angeboten, wenn ich eine Bleibe suchen sollte, sie wäre immer da und ich könnte bleiben, so lange es Not täte. Von Gabriele kam wenigstens das Päckchen, auch das, trotz Eilpost, war 5 Wochen unterwegs. (…)

Dies war der Auftakt zu einer kleinen Reihe von Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1989. Weitere folgen in den nächsten Tagen. Wer mehr als Tagebücher von mir zu dieser Zeit lesen möchte, dem sei mein Buch  „Mauern einreißen!“ ans Herz gelegt 🙂
Weitere Informationen rund um die Wende ’89: