Schon am Abend des 24. Septembers stand fest, dass ich als Abgeordnete für die Brandenburger Linken im Bundestag sitzen würde. Mein Leben würde sich also stark verändern. Aber nicht nur für mich wurde sehr viel anders. Dieser Bundestag unterscheidet sich in verschiedener Hinsicht von seinen Vorgängern, er ist mit über 700 Mitgliedern größer als je zuvor, größer als die Parlamente von Indien, Russland oder die USA, wir stehen jetzt an zweiter Stelle – nach China. Etwa 40 Prozent sind wie ich neu in der Rolle, auch ein Novum.
Und dem Bundestag gehört zum ersten Mal eine rechtsnationale Partei an, zu der Mitglieder gehören, die den Holocaust relativieren, die Grundrechte wie die Religionsfreiheit beseitigen wollen, sich für Deutschland eine „Tausendjährige Zukunft“ wünschen und finden, dass man sich weniger an die Verbrechen der Nazizeit erinnern soll. Dieser Bundestag ist aber auch der männlichste seit fast 20 Jahren. Selbst in Ländern wie Algerien und Tunesien sitzen mehr weibliche Volksvertreter im Parlament als bei uns. Ich bin eine Frau und Geschlechtergerechtigkeit ist mir wichtig. Wenn in unserem Grundgesetz steht, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind, dann sollten Männer und Frauen auch gleichermaßen das Volk vertreten. Bei der Linken funktioniert das gut, es gab quotierte Listen, so dass der Frauenanteil linker Bundestagsabgeordneter etwa bei 50 Prozent liegt. Ähnlich sieht es bei den Grünen aus, die SPD kommt noch auf 40 Prozent – auch durch eine Quote, die übrigen Parteien haben keine verbindlichen Vorgaben.
Bei der AfD ist nur jeder zehnte Abgeordnete eine Frau (kein Wunder, bei den vorsintflutlichen Einstellungen), bei der CDU/CSU und der FDP ist es jeder fünfte. Auch Männer können natürlich die Rechte von Frauen vertreten, aber in männerdominierten Parlamenten kommt es häufiger zu Gesetzen, die Frauen benachteiligen, z.B. Gesetze, die über ihren Körper bestimmen, etwa bei Schwangerschaften, Gesetze mit Kleidervorschriften oder Gesetze zur Strafverfolgung nach sexueller Belästigung und Gewalt gegen Frauen. Ich mache mir Sorgen um die politische Kultur bei uns, denn als Feministin wurde ich allein am Tag der Konstituierung im Bundestag überschüttet mit Beleidigungen in sozialen Medien, die sich auf mein Äußeres, meine Intelligenz und Kompetenz oder auf Spekulationen zu meinem Sexualleben bezogen. Die meisten kamen von Sympathisanten der AfD. Ich denke darüber nach, wie es sein wird, vier Jahre mit soviel Hass konfrontiert zu werden.
Abgeordnete zu sein ist ein Privileg, aber es ist auch keine einfache Aufgabe. Vieles habe ich nicht gewusst, meine Lernkurve ist gerade sehr steil. Zum Beispiel sind viele der Parlamentsgebäude über unterirdische Tunnel miteinander verbunden. So kommt man trockenen Fußes von einem Haus zum anderen, aber man kann sich in diesem Labyrinth auch wunderbar verlaufen. Manche der Gänge sind schön, einer hat rechts und links viele Spiegel, einer leuchtet gelb durch viele gelbe Leuchtstoffröhren, er trägt den wenig schmeichelhaften Spitznamen „Harnröhre“. Manche sehen aus, wie Hausmeisterkeller, mit jeder Menge Rohren und Leitungen – da denkt man schnell, man ist verkehrt. Am Anfang habe ich sogar die Gebäude noch verwechselt, ich stand vor der Tür eines CDU Abgeordneten im Paul Löbe Haus, als ich zu einem Meeting linker Abgeordneter im Jakob Kaiser Haus wollte. Manchmal habe ich mich so verlaufen, dass ich Kollegen anrufen mußte. Inzwischen kenne ich mich etwas besser aus.
In den ersten Tagen hatten wir Einführungsveranstaltungen, wo wir immer wieder Berge neue Dokumente, Richtlinien und Vorschriften ausgehändigt bekamen. Seitdem fürchte ich nicht mehr, den ersten Fehler, sondern die ersten 50 Fehler zu machen. Niemand kann sich doch all diese Regeln auf einmal merken! Ich bin froh, dass ich viele Menschen kenne, die ich in Zweifelsfällen alles fragen kann.
Die Zuteilung der Büros kann noch bis Januar dauern, aber ein Interims-Büro hatte ich schnell erhalten, inzwischen – seit dem 10.11.2017 habe ich sogar mein endgültiges Büro. In meinem Trakt im Jakob Kaiser Haus (es gibt acht) habe ich bisher weder eine Stelle mit Essen noch mit Trinken gefunden. Die nächste Kantine ist nur über verwirrende Tunnel zu erreichen. Die ersten Tage hatte ich daher vor allem oft Hunger. Mein erstes Essen nach dem Frühstück war dann häufig ein Brötchen am Hauptbahnhof. Inzwischen bringe ich mir ab und an belegte Brote mit und habe ein kleines Nüsselager im Büro – ein Tipp von Petra Sitte, und ich habe einen Wasserkocher, um mir Tee zu kochen.
Die ersten Wochen vergingen wie im Flug, aber alles war noch etwas chaotisch. Immerhin gab es schon Fraktionssitzungen und eine Fraktionsklausur (die allerdings auch unerwartet turbulent war), ein Training zum Umgang mit der AfD im Bundestag, ich bekam meinen Bundestags-Laptop und eine Bundestagsemailadresse, führte Einstellungsgespräche und habe inzwischen eine Büroleiterin, einen wissenschaftlichen Mitarbeiter, einen studentischen Mitarbeiter, drei Wahlkreismitarbeiter*innen, einen davon in Oranienburg, denn in Nordbrandenburg habe ich einen zusätzlichen Betreuungswahlkreis (WK58).
Am 24. Oktober war die erste – die konstituierende Sitzung des 19. Deutschen Bundestages. Die Konstituierung war auch anders als sonst, es war mehr Aufruhr im Plenum, gab mehr Zwischenrufe, und die Wahl des Vizepräsidenten des Bundestages, den die AfD vorgeschlagen hatte, mußte dreimal erfolglos wiederholt werden. Der Typ war einfach unwählbar. Die Auszählpausen dauerten teils über eine Stunde, zwischendurch habe ich mein Strickzeug ausgepackt. Am Einlass zum Plenarsaal lernte ich wieder Neues: Wasser ist dort verboten, wer Durst hat, muss den Saal verlassen. Auch ein Button mit dem Text „Gegen Rassismus im Bundestag“ verstößt gegen die Vorschriften. Am wenigsten verstehe ich das Trinkverbot (Essen ist natürlich erst recht verboten), denn an einem durchschnittlichen Donnerstag in der Sitzungswoche fängt der Plenartag um neun Uhr an und hört um Mitternacht oder noch später auf. Eine Pause ist in der Tagesordnung gar nicht enthalten. Man muss also zwangsläufig die Plenardebatten schwänzen, wenn man auf Toilette muss, Hunger oder Durst hat. Ein Arbeitgeber mit solchen Arbeitsbedingungen hätte in Deutschland große Probleme.
Ich staune darüber, denn alles das habe ich bisher nicht gewußt und ich wette, besonders bekannt ist das alles auch in der übrigen Gesellschaft nicht. Meine erste Sitzungswoche liegt noch vor mir (ab 20.11.2017). Ich ahne, dass ich noch viel mehr Neues lernen werde. Ich bin gespannt und freue mich am meisten auf die Sacharbeit zu meinem Schwerpunktthema: Die Verbindung von Digitalisierung und sozialer Gerechtigkeit. Eigene Anträge und Gesetzinitiativen habe ich so schnell natürlich noch nicht anstoßen können, aber ich habe die ersten mitgezeichnet. Meine allererste mitgezeichnete Gesetzinitiative war für ein verpflichtendes Lobbyregister. Noch ist meine MdB Website in der Mache, aber wenn sie fertig ist, wird es für mich einen öffentlichen Lobbykalender geben, auf dem jede*r sehen kann, wann ich wen getroffen habe und zu welchen Schlagworten.
Bei der konstituierenden Sitzung habe ich übrigens dem Sender Phoenix ein Interview gegeben, HIER kann man es sich auf YouTube anschauen.
„ähnlich sieht es bei den Grünen aus“
?
Nein, viel mehr, fast 60 %!
Die Grünen hatten von Anfang an paritätische Listen,
die Linke / ehem. PDS / ehem SED nicht.
Die mussten das erst von den Grünen lernen.
Das ist richtig, die Grünen waren die ersten mit einer paritätisch besetzten Liste und sie liegen inzwischen bei 58%, die Linken im Bundestag haben einen Frauenanteil von 54% – die konkreten Zahlen sind alle in der Infographik in meinem Blogpost enthalten. Da sieht man dann auch, dass die Union sogar leicht unter 20% liegt…
Liebe Anke Domscheit-Berg,
Ihr Text ist großartig, weil er einerseits Einblicke in das „Parlamentsuniversum“ bietet, das den allermeisten Bürgern vollkommen fremd sein wird, anderseits aber etwas Selbstverständliches in Erinnerung ruft: Abgeordnete, ja Politiker_innen überhaupt, sind trotz der Bilder, die man sich unentwegt von ihnen macht, Bürger_innen und Menschen – mit all den Ängsten und Sorgen, mit denen wir uns alle auseinanderzusetzen haben. Insofern leistet Ihr Text einen wichtigen Beitrag: Er verringert die häufig wahrgenommene und beklagte, aber eben doch nur vermeintliche Distanz zwischen „denen da oben“ und „uns da unten“.
Ich wünsche Ihnen für Ihre Arbeit alles Gute!
Herzlichen Dank für die freundlichen Worte! Ich habe so oft in den letzten Wochen schon gedacht: „Krass, davon hatte ich keine Ahnung“ – und ich denke auch, dass das vielen anderen genauso geht. Sie sprechen einen wichtigen Aspekt an, nämlich die Entfremdung der Politik von der Bevölkerung, die auch damit zu tun hat, dass man „Die Politiker“ überwiegend distanziert und einseitig in den Medien oder auf irgendwelchen Wahlkampfevents erlebt. Auch deshalb denken viele Menschen, dass Politiker faule Karrieristen sind, dabei sind wirklich viele echte Arbeitstiere, die aus Überzeugung dabei sind. Es ist so ein anstrengender Job, mit absurden Arbeitszeiten, wenig freien Abenden und Wochenenden, der durch seinen Charakter an die Substanz geht und das Familienleben auf ein Minimum reduziert – von Hobbies oder anderen schönen Dingen ganz zu schweigen. Ich glaube, wir hätten ein besseres Verhältnis zwischen „Volk und Staat“, wenn man viel mehr wüßte über den Alltag in der Politik.
Ihnen einen schönen Tag und besuchen Sie meinen Blog gern wieder!
Ihre
Anke Domscheit-Berg