Noch bin ich in dem Zustand, wo man einen harten Fakt einfach nicht begreifen kann. Wo der Verstand sich verweigert, weil das Gefühl sagt, dass etwas einfach nicht wahr sein kann, weil es schlicht nicht wahr sein darf.
Es kann doch nicht wahr sein, dass vorgestern, am 12.06.2014, Frank Schirrmacher gestorben ist. Weil es doch nicht sein kann, dass ich nie wieder neue kluge Worte von ihm lesen werde. Weil es doch nicht sein kann, dass ich mich nie wieder mit ihm unterhalten werde, um Feedback bitten kann oder Feedback gebe. Weil es doch einfach nicht wahr sein kann, dass der einzige Mensch, der die Alte und die Neue Welt, das analoge und das digitale Zeitalter so wunderbar verband, weil er sie beide verstehen konnte, weil er von Verfechtern beider Welten respektiert und gehört wurde, dass dieser Mensch einfach so von einem Tag zum anderen nicht mehr da ist.
Wir werden seine noch nicht gedachten, noch nicht formulierten ganz sicher unzähligen und wichtigen Visionen, Ideen, Warnungen nie hören oder lesen können. Es gibt immer auch andere, die Ähnliches tun. Dennoch, selbst am 11.6. – vor seinem überraschenden Tod – hätte ich frei vom Verdacht posthumer Lobhudelei gesagt, dass es niemand so gut konnte, wie er.
Es war außergewöhnlich, wie gut er in die Glaskugeln der Zukunft für unsere Gesellschaft schauen konnte. Wie genau seine Visionen insbesondere für die revolutionären Potenziale einer digitalen Gesellschaft waren – aber eben auch für die extremen Bedrohungen für unsere Freiheit und die Demokratie, die von außer Kontrolle geratenen Geheimdiensten in Verbindung mit dem industriellen Komplex ausgehen, wenn sie die technischen Möglichkeiten so schamlos mißbrauchen, wie es jetzt schon der Fall ist. Nein, ich habe ihn nicht als finster in seinen Visionen erlebt sondern als jemanden, der die möglichen Wegscheiden frühzeitig sehen konnte, an denen wir uns als Gesellschaft entscheiden müssen, wohin die Reise gehen soll. Er sah immer die unterschiedlichen Optionen und weil er wie eine Kassandra auch die schrecklichen Bilder sah, hat er davor gewarnt. Aber nicht als jemand, der glaubt, dass es nur so und nicht anders kommen kann, sondern als jemand, der uns zu Wachsamkeit und Aktion aufrütteln wollte. Denn als vernunftbegabte Wesen können wir doch mitbestimmen, wohin wir als Gesellschaft gehen wollen. Ich habe Frank Schirrmacher daher erlebt als einen Menschen, der uns beide Optionen plastisch beschreiben konnte, weil er sie beide vor sich sah – aber vor allem, weil er dazu beitragen wollte, dass wir gemeinsam den besseren Weg wählen und da wir schon falsch abgebogen sind, dass wir umkehren auf den rechten Pfad. Er war ein Aufrüttler und Mahner, ein Warner – der uns jetzt fehlen wird, denn seine Stimme war ungleich gewichtiger als so viele andere, die das gleiche versuchen. Jemand schrieb in einem Nachruf, dass sein Tod keine Lücke riß, sondern einen Abgrund. Das unterschreibe ich sofort.
Jedes der Gespräche, die ich vor allem am Rande von Konferenzen, auf denen wir beide sprachen, mit ihm führte, hat mich bereichert. Ungelogen, jedes einzelne. Von wie vielen Gesprächspartnern kann man das sagen?
Ohne Frank Schirrmacher, wäre mein Buch vielleicht nicht entstanden, oder mindestens nicht in der vorliegenden Form. Es gibt mehr als einen Verbindungspunkt zwischen Frank Schirrmacher und meinem Buch „Mauern einreißen“.
Der erste: Im Oktober 2012 strahlte die ARD die zweiteilige Verfilmung des Romans von Uwe Tellkamp „Der Turm“ aus, die vor allem in der Zeit der DDR Wende spielt. Vieles an dem Film erinnerte mich an meine eigene Kindheit und Jugend, an meine Familie, an eigene Erlebnisse.
Ein Film schafft etwas Besonderes, wenn er Emotionen weckt und darüber hinaus eine Beziehung ermöglicht zum eigenen Erfahrungshorizont und zum kollektiven Gedächtnis. Bei „Der Turm“ habe ich das so intensiv erlebt, dass ich zwar einen Film am Bildschirm sah, aber parallel viele andere Filme in meinem Kopfkino. Das war emotional so anstrengend, dass ich nach dem zweiten Teil vom wieder ausgeschütteten Adrenalin, vom Wechselbad aus Tränen und Glücksgefühlen völlig erschöpft war. (aus „Filmreise in die eigene Vergangenheit“, FAZ, 13.10.2012)
Der Film bewegte mich im Innersten und ich twitterte darüber. Es entspann sich ein Dialog auf Twitter mit @dieKadda (Kathrin Rönicke) und @mh120480 (Marco Herack) sowie mit Frank Schirrmacher. Auslöser war nicht nur der Film sondern der Text „Die süße Krankheit gestern“ von Kathrin und Marco, (die übrigens auch den Wost-Kinder-Blog auf faz.net schreiben,) der ihre Sicht auf den Film darstellte und auf faz.net erschienen war.
Frank Schirrmacher folgte mir seinerzeit schon auf Twitter, las diese Tweets und schickte mir dann eine DM, in der er mich fragte, ob ich nicht für die FAZ einen Artikel zum Film Der Turm schreiben möchte, mit den auf Twitter erwähnten autobiographischen Bezügen.
Ich zögerte kurz und sagte dann zu. Zum ersten Mal hatte ich in diesem Artikel über die Zeit der Wende auf eine mich so persönlich betreffende Weise geschrieben. Ich empfand das damals auch als Risiko, denn immer dann, wenn man Persönliches, besonders emotionales über sich selbst und die eigene Familiengeschichte preis gibt, macht man sich angreifbarer als Mensch. Man setzt sich Kommentaren aus – potenziell – die verletzend oder beleidigend sind, man stößt vielleicht öffentliche Debatten über die eigene Biographie an, die man gar nicht unbedingt haben möchte.
Ohne Frank Schirrmacher hätte ich das damals nie gemacht. Und wenn die Resonanz auf meinen FAZ-Artikel „Filmreise in die eigene Vergangenheit“ nicht eine so überaus positive gewesen wäre, dann hätte Teil Eins meines später erschienenen Buches, in dem es ebenfalls um die Zeit der Wende in der DDR geht, sicher anders ausgesehen. Ich hätte nicht gewagt, so offen über mein Leben in jener Zeit des Umbruchs, davor und danach zu schreiben. Im Nachhinein halte ich das für einen Glücksfall, ich bin Frank Schirrmacher dankbar dafür, dass er mir die Gelegenheit gab, eine innere Barriere zu überwinden. Seither habe ich nicht nur über diese Zeit geschrieben sondern auch oft darüber geredet, in unzähligen Wahlkampf- und Medienterminen, vor allem in den letzten 12 Monaten, in denen die öffentliche Debatte von den Enthüllungen von Edward Snowden geprägt waren und in denen ich wie seinerzeit beim Schauen des Films Der Turm viele Déjà vu erlebte. Da war es wieder – das Gefühl bedrohlicher, allumfassender Überwachung durch Geheimdienste.
Die lähmende Ohnmacht war plötzlich wieder da, die Resignation und Hoffnungslosigkeit, wenn die Spitzel es nicht mal mehr für nötig hielten, ihre Tätigkeiten zu verbergen und Briefe im Studentenwohnheim einfach offen in das Postfach legten. Das Empfinden der ständigen Beobachtung, das allgegenwärtige Misstrauen– wir haben damals bei jedem Knacken in der Telefonleitung damit gerechnet, dass Dritte mithörten, manchmal haben wir sie sogar angesprochen: „Hallo Horch und Guck, viel Spaß beim Zuhören!“ (aus „Filmreise in die eigene Vergangenheit“, FAZ, 13.10.2012)
Gerade weil Frank Schirrmacher auf diese Weise indirekten Einfluss auf die Entstehung meines Buches hatte, lag mir viel an seinem Feedback zum Manuskript. Er war der erste Mensch – abgesehen von Lektoren, der das fertige Manuskript noch in einer rohen Fassung als Fahnen zu lesen bekam. Ich schwitzte Blut und Wasser, wartend auf seine Reaktion. Wir hatten vereinbart, dass er mir ein Zitat für den Buchdeckel schreibt, sofern er mit dem Buch etwas anfangen kann… Das war seine Antwort (der vorgeschlagene Zitattext wurde später noch für den Druck gekürzt):
Meine Sorge war offenbar unbegründet gewesen. Sein Urteil bedeutete mir so viel! In meiner Antwort schrieb ich:
Ja, er wollte eine gemeinsame Debatte zu meinem Buch und der Anlass war der beste, den ich mir vorstellen konnte: die Buchpremiere selbst.
Ich war keine Anfängerin in der öffentlichen Rede, aber ich hatte noch nie zuvor eine Buchpremiere gehabt. Ich war grenzenlos aufgeregt, hatte wirklich Panik, irgendetwas könnte schief gehen. Aber der Umstand, dass der von mir so hoch respektierte Frank Schirrmacher das Buch einerseits mochte und andererseits bei der Premiere an meiner Seite sein würde, beruhigte mich ungemein (wenn er auch nicht das Lampenfieber beseitigen konnte). Ich hatte zumindest die innere Gewißheit, dass nichts mehr so richtig schief gehen könne. Danke, Frank Schirrmacher. Ich bereue sehr, dass ich viel zu aufgeregt und verpeilt war, um mich um eine Video- oder wenigstens Audioaufnahme von diesem für mich so wichtigen Abend zu kümmern. Beides gibt es dadurch nicht und auch nur sehr wenige Bilder. Die Worte, mit denen er seine ersten Eindrücke schilderte, ließen mich rot werden. Ich habe mich sehr selten in meinem Leben über Lob so sehr gefreut wie an jenem Abend über das von Frank Schirrmacher. Er beschrieb dabei auch, wie er mit seinen Zeitungskollegen im Herbst 1989 darüber diskutierte, wie diese Menschen, die die Wende in ihrer Jugend selbst und prägend erlebt haben, wohl später einmal drauf sein werden. Mein Buch gab ihm dafür eine mögliche Antwort. (Update 17.06.2014: Wolfgang Noelke hat einen kleinen Ausschnitt der Debatte mitgeschnitten und genau den beschriebenen Moment dabei eingefangen – HIER kann man es sich in 4Min anschauen. Danke, Wolfgang @carnationberlin, dafür!)
Ich verdankte Frank Schirrmacher auch einen Vorabdruck aus meinem Buch in der gedruckten FAZ, darin ging es um einen Text aus dem Buchteil zu gläsernen Decken, der von den Barrieren handelt, die noch heute Geschlechtergerechtigkeit verhindern. Auch zum Thema Feminismus haben wir mehr als einen Verbindungspunkt, so lud mich Frank Schirrmacher ein, einen Text über Sexismus im Internet für die FAZ zu schreiben. Er erschien zwei Wochen vor der Buchpremiere unter dem Titel „Frauenhass im Internet – Das Medium braucht eine inklusive Kultur“. Ich frage mich, ob sich die Offenheit der FAZ, (auch) sehr progressive Texte zu Internet und Feminismus zu drucken, in Zukunft verändern wird. Konservative Texte gibt es ja leider schon genug. Wenn das Gegengewicht wegfiele, wäre das für die notwendige Debatte ein herber Rückschlag. Ich bin nicht sehr optimistisch. Zu viel hängt ja doch immer wieder von Einzelpersonen ab und für diese Themen war offensichtlich Frank Schirrmacher der progressive Geist in der FAZ. Aber vielleicht ehrt man sein Vermächtnis in einer Weise, die diese Kultur fortsetzt statt sie zu beenden. Es wäre mir ein großer Wunsch.
Vor ein paar Wochen verriet er mir hinter vorgehaltener Hand, dass er noch eine Überraschung für mich in petto hätte. Es würde noch eine Rezension in der FAZ geben, und die Überraschung wäre der Autor, es wäre jemand Besonderes, aber es sei ja eine Überraschung, also verrät er mir nichts, aber er sei sich sicher, ich würde mich über diese Person als Rezensent sehr freuen. Ich soll einfach noch eine Weile warten. Ich habe nie erfahren, wen er meinte. Vermutlich werde ich es auch nicht mehr erfahren. Eine Winzigkeit verglichen mit all den anderen Beiträgen, die wir alle nicht mehr von ihm erfahren werden. Es ist ein schwacher Trost, dass Frank Schirrmacher trotz seines frühen Todes im Alter von 54 Jahren eine beeindruckende Menge intellektueller Glanzleistungen hinterläßt. Denn so wunderbar diese sind, so lassen sie doch auch den Verlust an verpaßten Möglichkeiten ahnen.
Mir ganz persönlich wird am meisten die direkte Auseinandersetzung mit ihm fehlen. Jede einzelne hatte mich so inspiriert. Ich hätte gern noch über so vieles mit Frank Schirrmacher geredet. Ich kann mir nicht ansatzweise vorstellen, wie es seiner Familie gehen muss. Sie hat mein aufrichtiges Beileid. Seine Angehörigen und viele andere haben einen Menschen verloren, der für sie persönlich wichtig war, aber er war es auch für „Die Sache“. Und „Die Sache“ war nichts weniger als die Zukunft der Gesellschaft, unser aller Zukunft, die Zukunft der Demokratie und der Freiheit. R.I.P., Frank Schirrmacher.
Ich wünschte, er hätte sich in diesem Kampf nicht so gefährlich selbst verbrannt. Möge sein früher Tod uns allen daher auch eine Warnung sein, denn Weltretten braucht einen langen Atem und das heißt auch einmal eine Pause machen und einen Gang runterschalten. Ich werde mir das zu Herzen nehmen, als letzten unausgesprochenen Rat von Frank Schirrmacher. Ich würde zwar auch gern so ein strahlendes Glühwürmchen sein wie er eines war, aber ich möchte nicht so früh verglühen.
Liebe Anke,
vielen lieben Dank für deine Worte, er wird uns allen fehlen und hinterlässt in der deutschen Zeitungslandschaft ein Loch das wir noch lange fühlen werden.
Sperling
Anke,
ein beeindruckender Nachruf!
Danke!
Frank Schirrmacher war, so glaube ich jedenfalls, DER JOURNALIST unserer Zeit. Und zwar, ohne sich selbst so sehr in den Mittelpunkt zu stellen, als vielmehr sein Anliegen, eine Verzweigung in eine ‚Denk mal nach‘-Schleife! Und kein Anliegen war störend – die Weckrufe der Vernunft. (es sei denn man hatte etwas zu verbergen)
Er war selbstlos und er war besorgt! Er hatte recht!
Viele verstehen das nicht. Vor allem weil wir alle so sehr vom (modernen) Einzelkämpfertum vollkommen eingenommen sind. Eine ‚Perestrojka‘ ist nötig.
Er ist ein unersetzbarer Verlust, es sei denn wir alle halten uns an seine Weckrufe, seinem Mut!
Ohne Zweifel hat er vielen ein Fenster geöffnet und Halt gegeben. Jetzt sind wir alle traurig. Es fehlt dieser Halt.
In der Hoffnung, dass Frank Schirrmacher im warmen Licht der unendlichen Harmonie angekommen ist und uns auf wundersamer Weise weiter zu denken gibt, nur so kann und will ich seinen frühen Tod verstehen.
Kamen
Anke,
Ein eindrucksvoller Nachruf!
Danke!
Kamen