Auch ich bin eine Flüchtlingstochter

Die Initiative #bloggerfuerfluechtlinge hat Blogger*innen dazu aufgerufen, in der Flüchtlingsfrage Stellung zu beziehen, um Deutschland nicht den Rassisten und Menschenfeinden zu überlassen. Sie rief auch dazu auf, für Flüchtlingsprojekte zu spenden – mehr als 15.000 € sind schon zusammengekommen. Ich schließe mich diesem Aufruf gern an, habe schon gespendet und würde mich freuen, wenn noch viele mitmachen und damit ein Zeichen für Menschlichkeit setzen.
Spenden geht einfach über Betterplace: https://www.betterplace.org/de/fundraising-events/bloggerfuerfluechtlingei
Viele Blogger haben in den letzten Tagen und Wochen über ihre eigene Flüchtlingsherkunft geschrieben (z.B. hier und hier und hier). Sie machen damit deutlich, welchen Beitrag Menschen mit Migrationshintergründen leisten – oft ohne, dass ihr Hintergrund bekannt ist. Viele Menschen, die sich Gedanken machen, ob mehr Flüchtlinge ein Problem für unsere Gesellschaft darstellen, haben vielleicht nicht nur keine Ahnung von den tatsächlichen Fakten (Menschen mit Migrationshintergrund zahlen z.B. mehr in unsere Sozialsysteme ein als sie daraus erhalten) sondern schlicht auch keine Vorstellung davon, wie viel Kreativität und Potenzial diese Menschen mitbringen und wie bereichernd das für unser Land ist.
Deshalb hier auch meine Geschichte, die die Geschichte meiner Eltern ist, denn auch ich bin eine Flüchtlingstochter.
Die Vorfahren meiner Mutter verließen zwischen 1815 und 1820 Baden Württemberg und Sachsen, da Zarin Katharina Einwanderern aus Deutschland Land und ein besseres Leben versprach. Gerade unter den Bauern gab es damals sehr viel Armut. Also machten sich meine Vorfahren auf den langen und beschwerlichen Weg nach Russland, an das Schwarze Meer, wo sie in der Gegend von Kishinjow die Region Bessarabien besiedelten – zusammen mit vielen anderen Deutschen, die man heute Wirtschaftsflüchtlinge nennen würde, denn verfolgt wurden sie in der Heimat nicht. Sie wollten einfach ein besseres Leben für sich und ihre Familien. Aber so einfach war es dann doch nicht. Allein der Weg dorthin dauerte aufgrund schwieriger Umstände für einige der Auswanderer mehrere Jahre und kostete viele Menschenleben. Vor Ort war auch alles schwerer als erwartet. Die erste Generation deutscher Einwanderer wurde nicht alt, mein ausgewanderter Ur-Ur-Großvater Gottlob Weise starb mit 42, seine Frau Anna Gross im Alter von 43 Jahren.
Sie überstanden Mißernten, Überschwemmungen, Erdbeben und immer wieder auch einen Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit (Bessarabien war mal russisch, mal unabhängig, mal rumänisch, dann wieder russisch. Heute gehört ein Teil zur Ukraine, ein anderer zu Moldawien). Man lebte daher vielsprachig, baute kleine Städte und Gemeinden auf und trieb Handel weit über die Grenzen Bessarabiens hinaus.

Meine Mutter als Baby, 1935, in Bessarabien mit ihren Eltern und dem älteren Bruder Kuno

Meine Mutter als Baby, 1935, in Bessarabien mit ihren Eltern und dem älteren Bruder Kuno


Dort, in der kleinen Stadt Tarutino, Kreis Akkerman, wurde meine Mutter 1935 geboren. Sie hat mir sehr oft von Bessarabien erzählt, obwohl sie schon als 5-jährige ihre Heimat verlassen mußte. Der 2. Weltkrieg tobte seit Jahren. Dem Hitler-Stalin-Pakt folgend, wurde Bessarabien von seinen deutschen Siedlern geräumt, alle Häuser, Weinberge, Tiere, Schulen, Fabriken und Scheunen zurückgelassen. Meine Mutter floh mit zwei Brüdern und meinen Großeltern „heim ins Reich“, und landete nach zweijähriger Odysee über Auffanglager im Clausthal-Cellerfeld (Harz) und Hagenbüchach (Bayern) 1940 in Bromberg, dem heutigen Bydgoszcz, in Polen.  
Der Familie wurde als Wohnort ein Gutshaus zugewiesen, aus dem vorher Polen vertrieben worden waren. Als selbst Vertriebene fanden sie das schlimm, denn sie konnten deren Leid sehr gut nachvollziehen. Eine Wahl hatten sie jedoch nicht, denn eine andere Wohnalternative gab es für sie nicht. Aber der Krieg kam bekanntlich auch dorthin, so hieß es im bitterkalten Januar 1945, kurz nach ihrem 10. Geburtstag, wieder nur das Allernötigste einpacken und als erneut Vertriebene eine dritte Heimat weiter westlich zu suchen. So kam meine Mutter erst nach Mecklenburg-Vorpommern, nach Friedrichshof bei Bützow, und ihre Familie später – noch vor dem Mauerbau – wieder nach Baden-Württemberg, wo sehr viele Verwandte aus Bessarabien Zuflucht in der Gegend ihrer Vorfahren gefunden hatten. Meine Oma und mein Opa sind daher in Stuttgart begraben. Zur Zeit des Mauerbaus studierte meine Mutter in Leipzig, diesem Zufall ist es zu verdanken, dass sie als einziges Mitglied ihrer ausgedehnten Familie in der DDR lebte.
Meine Mutter und ihre Familie wenige Jahre nach der Flucht in Friedrichshof, Mecklenburg-Vorpommern

Meine Mutter und ihre Familie wenige Jahre nach der Flucht in Friedrichshof, Mecklenburg-Vorpommern


Dort traf sie 1965 meinen Vater, der ebenfalls eine Flüchtlingsgeschichte hat. Mein Vater heißt Wolfgang Domscheit- Domscheit ist ein typisch ostpreussischer Name. Er hat eigentlich litauische Wurzeln und bedeutet „Sohn des Thomas“. Vielleicht ist er verwandt mit dem ostpreussischen Maler Franz Domscheit, ein Deutsch-Litauer, der sich auf litauisch Pranas Domšaitis nannte. Er war ein seinerzeit anerkannter Expressionist, Schüler von Lovis Corinth und arbeite mit Künstlern wie Emil Nolde zusammen. Für die Nazis waren seine Werke „entartete Kunst“, er floh aus Nazideutschland nach Österreich und von dort nach Südafrika, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Vielleicht ist die Namensgleichheit zufällig, wir werden es wohl nie erfahren, denn der Krieg hat alle Dokumente vernichtet.  Mein Vater wurde 1934 in Königsberg als zweites von vier Kindern geboren. Er verbrachte dort 10 Jahre seines Lebens und hat sehr lebhafte Erinnerungen an diese Zeit.

Meiner Vater in der 1. Klasse in Königsberg, Ostpreussen – mit seiner Schiefertafel


Der Vater kämpfte irgendwo, die junge Mutter mit vier Kindern wurde im Umland der Stadt, in Abschwangen (Tischino) in Sicherheit gebracht, als sich die Warnungen vor Bombenangriffen mehrten. Von dort sahen sie alle miteinander entsetzt, wie sich ihre Heimatstadt in der Ferne durch massive Bombenangriffe Ende August 1944 in ein Feuermeer verwandelte. Die Front rückte außerdem immer näher, die junge Familie mußte fliehen – eine 31 jährige Frau mit Kindern im Alter zwischen 5 und 11 Jahren.
Meine Großmutter mit ihren vier kleinen Kindern noch in Königsberg - 1941

Meine Großmutter mit ihren vier kleinen Kindern noch in Königsberg – 1941


Mein Vater hat mir viel von der Flucht und den Strapazen erzählt, vom Hunger und von den seltsamen Gerichten, die man zubereitete, weil es nichts anderes gab. Einige davon hat er uns später als Kindern mal gekocht, damit wir uns besser vorstellen konnten, wie es für ihn war. Den Mehlpamps (Mehl in heißes Wasser aufgekocht) hat er für uns zwar mit Butter und Zucker verfeinert, aber eklig blieb es doch. Auch den Spinat aus Brennesseln fand ich nur mäßig lecker. Die Flucht durch Kriegsgebiete war beschwerlich und gefährlich. Es ist eine ungeheure Leistung und wohl auch eine ordentliche Portion Glück, dass alle fünf überlebten. Sie landeten in der späteren sowjetischen Besatzungszone, als Vertriebene ohne Heimat. Ich wuchs auf mit den Geschichten meiner Eltern über Krieg, Flucht und Vertreibung, über die Trauer nach der verlorenen Heimat, über Hunger, Leid und Elend. Meine Eltern haben beide aus ihrer Geschichte vor allem viel Emphatie für das Leid Dritter geschöpft. Beide sind außerdem ausgeprägte Pazifisten. Meine Mama ist im Mai gestorben – hätte sie noch erlebt, was heute Flüchtlingen in Deutschland mancherorts an Hass entgegenschlägt, sie hätte sich furchtbar aufgeregt.
Aber meine Eltern haben mir mehr mitgegeben als (zugegeben spannende) Gruselgeschichten und eine ebenfalls ausgeprägt pazifistische Überzeugung. So wuchs ich zwar in Brandenburg auf, aber mit einem Vater, der die besten Königsberger Klopse der Welt kochen konnte und einer Mutter, deren Küche eine sehr leckere Mischung aus Schwarzmeer- und Schwabenküche umfaßte und wo es mal einen russischen Borschtsch oder Ikra (einen Brei aus gerösteten Auberginen) gab oder eben Spätzle, Dampfnudeln und Apfelstrudel (da macht meine Schwester den besten, durch ihren dünnen,  handgezogenen Teig konnte man Zeitung lesen!). An Heiligabend gab es immer den roten Kartoffelsalat, der Möhren und Rote Beete enthielt und den heute Gäste auf meinen Parties sehr schätzen.
mit meiner Familie 1975 in Brandenburg (ein Bruder ist nicht im Bild, ich bin die kleinste, ganz links)

mit meiner Familie 1975 in Brandenburg (ein Bruder ist nicht im Bild, ich bin die kleinste, ganz links)


Meine Mutter hat ihre alte Heimat nie wieder gesehen. Mein Vater ist vor wenigen Jahren das erste mal wieder in Königsberg – heute Kaliningrad gewesen. Viel steht nicht mehr von dem, was Königsberg einmal ausmachte, aber er erkennt noch Vieles und es bleibt die Stätte seiner Kindheit.
Mein Vater wurde erst Stellmacher, besuchte dann in der DDR die Arbeiter und Bauern Fakultät, um Abitur zu machen und studierte anschließend Medizin. Er wurde Arzt und praktizierte bis weit über sein 70. Lebensjahr hinaus. Meine Mutter war Sängerin und Kunsthistorikerin, sie schrieb mehrere Bücher. Beide hatten es schwer in ihrer Kindheit und Jugend. Beide mußten ihr Land verlassen und tausende Kilometer entfernt ein neues Leben beginnen. Beide haben auch Ablehnung als Flüchtlinge aus dem Osten kennengelernt aber auch viel Hilfsbereitschaft. Wenn sie nicht die Chance auf einen Neuanfang gehabt hätten, wären sie sich nie begegnet und mich würde es gar nicht geben. Für mich war es also im engsten Sinne des Wortes existenziell, dass meine Eltern als Flüchtlinge eine Zukunftsperspektive bekamen.
Ich kann das alles nicht vergessen, wenn heute wieder Flüchtlinge vor Krieg und Terror, vor Hunger und Elend Zuflucht in unserem großen und reichen Land suchen. Ich erinnere mich, wie ich als Kind meinen Vater erschrecken sah, wenn die Sirene einmal heulte oder ein Tiefflieger der NVA plötzlich über unser Haus donnerte. Ich konnte die Angst in seinen Augen sehen, die Angst, die er als Kind ausstand, wenn Bomber mit ihrer Todesladung im Anflug waren. Flüchtlinge aus Syrien haben den gleichen Terror erlebt, Todesangst ausgestanden und einen gefährlichen Fluchtweg hinter sich. Ich möchte, dass sie hier wieder Vertrauen und Sicherheit finden, ihre Angst überwinden und für sich und ihre Kinder ein Leben aufbauen können, das ihre kulturellen Wurzeln mit den vielfältigen Wurzeln unserer Gesellschaft vereint – vielleicht ja auch in Form von Kochgewohnheiten, die das Leckerste aus Syrien oder Afghanistan mit unserer Küche kombinieren.
Vielleicht ladet Ihr ja einfach mal ein paar Flüchtlinge zu Euch ein und kocht gemeinsam etwas Feines – jede*r ihr/sein Lieblingsgericht – und dann eßt Ihr es gemeinsam auf und erzählt Euch nebenbei Geschichten. Flüchtlinge sind nicht einfach nur Zahlen in der Tagesschau, es sind Menschen mit persönlicher Historie, mit Vorlieben und Leidenschaften, mit Interessen und Abneigungen. Gebt Euch die Chance, diese Menschen persönlich und vorurteilsfrei kennenzulernen und ihnen die Chance, eine andere Seite von Deutschland zu erfahren, als die düstere und Angst machende, die aktuell die Nachrichten beherrscht. Helft mit, Ihnen den Neuanfang nicht schwerer zu machen, als er ohnehin schon ist. Es gibt so viele Wege, Flüchtlingen hier bei uns zu helfen. Haltet Augen und Ohren und vor allem Euer Herz offen, dann werdet Ihr einen passenden Weg der Hilfe finden. Und solltet Ihr einfach so gar keine Zeit dafür haben – ganz oben im Text ist ja noch der Link zum Spenden 🙂 – jede noch so kleine Summe hilft und den Link weiter verbreiten, hilft auch.
Und bitte, stellt Euch jedem entgegen, der mit blindem Rassismus Flüchtlinge beleidigt, bedroht, oder angreift. Ich bin überzeugt davon, dass sich deshalb so viele Rassisten aus ihren Löchern trauen und ihre widerlichen Gewaltphantasien in die Tat umsetzen, weil sie glauben, dass sie damit die Meinung der (schweigenden) Mehrheit vertreten. Schweigen wir NIE, wenn wir so etwas miterleben und demonstrieren wir klar und deutlich, dass Rechtsextremismus keinen Platz in Deutschland hat und schon erst recht keinerlei Mehrheitsunterstützung. Der sogenannte „wehrhafte Staat“ besteht ja nicht nur aus Staatsanwaltschaft und Polizei, sondern aus uns allen, die wir Demokratie und Grundrechte nur gemeinsam erfolgreich verteidigen können.
Ein herzliches Dankeschön an alle, die sich auf welche Weise auch immer für Flüchtlinge engagieren und dem dumpfen Hass echte Menschlichkeit entgegensetzen!
Als Bonus (und weil ich sowieso dauernd danach gefragt werde) gibts hier das Rezept Bessarabischer Roter Kartoffelsalat:

  • Kartoffeln (schälen, kochen, würfeln)
  • Zwiebeln (schälen, würfeln)
  • Gewürzgurken (reichlich!, am besten die echten Spreewälder, würfeln, auch 2-3 Esslöffel von der Brühe zum Salat geben)
  • Möhren (schälen, im Ganzen bißfest kochen, würfeln)
  • Rote Beete (ich nehme die eingeschweißte vorgekochte Variante, Saft in die Salatschüssel geben – für mehr rote Farbe, Beete würfeln)
  • Mayonnaise (nicht zu viel)
  • Salz und frisch gemahlener Pfeffer (der Salat frißt recht viel Salz und v.a. Pfeffer)

Alles mischen, ziehen lassen, abschmecken, fertig. Am nächsten Tag schmeckt er noch besser. Mengenangaben kann ich nicht gut machen, ich messe da nie etwas und ich mache ohnehin immer Riesenportionen (z.B. 1 Sack Kartoffeln, 1 Beutel Biomöhren, 1-2 Pakete Rote Beete, ca. 10 Gewürzgurken – je nach Größe, 3 große Zwiebeln, ein paar Eßlöffel Salz-Pfeffer Mischung). Auf das Gramm kommt es nicht an, der Salat schmeckt eh immer lecker.

Update: Eine großartige Hilfsidee machen ReBuy, DRK und Hermes möglich: Ihr packt ein Paket mit Kinderkleidung, Kinderbüchern und/oder Spielzeug, druckt einen kostenfreien Versandaufkleber aus (hier: https://www.rebuy.de/s/drk-spendenaktion), bringt das Paket zum nächsten Hermes Paketshop und der liefert das Paket an das DRK, wo die Verteilung an Flüchtlinge übernommen wird. Einfacher geht helfen wirklich nicht!