Internet überwindet 28 Jahre und 7.200km – eine wahre Geschichte (1985 DDR – 2013 Internet)

ArshaAm 18. August 2013 erhielt ich auf Facebook eine seltsame Nachricht:

„Hi… My father Shaji Z. had a penfriend named Anke Domscheit from Germany 25 years back.. I saw the letters few days back, got interested about it and just searched fb and saw your profile… I would like to know whether it was you…. She was 18 in the year 1985-86 when they were writing letters.. Kindly give me a reply…..“

Ja, es stimmte. Ich hatte einen indischen Brieffreund, damals, vor über einem Vierteljahrhundert. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir uns schrieben, vielleicht ein Jahr. Seit diesem 18. August schreibe ich mich mit der Tochter meines damaligen Brieffreundes, einer Studentin der Bauingenieurswissenschaften, Arsha Shaji. Ich bin immer noch völlig fasziniert davon, wie soziale Netze heute Raum und Zeit überwinden und Kontakte ermöglichen, die früher undenkbar waren. Ich möchte die Geschichte aber von vorn erzählen.
Im Oktober 1985 hatte ich gerade die 12. Klasse begonnen, ich war 18 Jahre alt und besuchte die Erweiterte Oberschule hinter dem eisernen Vorhang in Strausberg, östlich von Berlin. Ich liebte Fremdsprachen und Kontakte zu Menschen aus anderen Kulturen. Für einen Ossi war das kein einfaches Hobby, denn Reisen waren nur eingeschränkt möglich und damit auch Kontakte ins Ausland. Aber ich war kreativ und stöberte auf dem jährlichen Solidaritätsbasar der DDR-Medien auf dem Alexanderplatz in den dort für Briefmarkensammler angebotenen Leserbriefumschlägen aus aller Welt. Ich ignorierte die Briefmarken und suchte die spannendsten Absender. Solche Umschläge erstand ich und schrieb dann Briefe an mir völlig unbekannte Menschen, irgendwo auf der Welt. Einer dieser Adressaten war ein 24jähriger junger Mann aus Kerala in Indien, Shaji Z., der Vater von Arsha. Und er antwortete mir!

Arsha hat mir einen Scan von meinem ersten Brief gemailt.

Arsha hat mir einen Scan von meinem ersten Brief gemailt.


Die Erinnerung an diese Brieffreundschaft aus längst vergangenen Zeiten kam zurück. Ich antwortete Arsha bald:

Hi, this is a really funny story! Yes this was me and I do remember. What a wonder that he did not throw those letters away. Its so long ago! The internet can do magic in finding remote people, remote in a geographical sense but also remote in terms of time. This seems like from another life… I was still caught behind the iron curtain, locked into a country. Only 3 years later the Berlin Wall fell forever and I could travel around. I was also in India, in 2010, visiting Bunker Roy in the barefoot college in Tilonia, not too far from Jaipur. My best regards for your father. It seems he got a happy life! I got lucky too, with the best husband in the world and a great son, who is 13 years old. best wishes from Germany! Anke

Arsha schrieb mir, dass ihr Vater 1992 heiratete. Sie ist die ältere von zwei Töchtern und 20 Jahre alt, ihre kleine Schwester ist genauso alt wie mein Sohn. In einem Jahr wird sie ihr Studium als Bauingenieurin abgeschlossen haben. Ihr Vater hatte zwar öfter davon erzählt, dass er früher eine deutsche Brieffreundin hatte, aber es hieß immer für die Kinder, diese Briefe existieren nicht mehr. Erst in diesem Sommer hat er den Töchtern den Inhalt einer alten Kiste gezeigt – darin waren meine Briefe.

2. Brief von mir, Seite 1

2. Brief von mir, Seite 1


Arsha hatte gleich die Idee, auf Facebook nach mir zu suchen. Ihr Vater hielt das für eine zweifelhaftes Unterfangen, es ist ja so lange her und bestimmt hätte ich einen anderen Namen. Aber mein Name ist noch der gleiche und Arsha fand mich in ein paar Minuten 🙂
der 2. Brief von mir, Seite 2

der 2. Brief von mir, Seite 2


Ich war sehr neugierig, was ich denn so vor 28 Jahren schrieb und bat Arsha, mit doch mal einen Brief von damals einzuscannen. So erhielt ich meine ersten beiden Briefe per email. Was für eine Reise in die eigene Vergangenheit! Was für ein lustiges Englisch habe ich damals nur geschrieben! Und was für naive Inhalte…
mein 2. Brief - Seite 3

mein 2. Brief – Seite 3


mein 2. Brief, Seite 4

mein 2. Brief, Seite 4


Mit Arsha schreibe ich heute über andere Dinge als damals mit ihrem Vater. Wir tauschen uns aus zum Thema Geschlechtergerechtigkeit auf der Welt – in Indien und bei uns in Deutschland, über Politik und unser Leben. Ich schrieb ihr, wie es seit damals weiter ging, dass ich tatsächlich Textilkunst studierte aber auch wie der Fall der Mauer alles veränderte, wie mein berufliches Leben ein paar Zick-Zacks erfuhr und wie ich heute so lebe und arbeite. Arsha übersetzte sich meine Blogtexte (hoffentlich hat Google Translate sie nicht allzu sehr verunstaltet) und erfuhr etwas über den Wahlkampf der Piratenpartei in Deutschland :-). Zur Zeit ist Arsha im Prüfungsstress und ich drücke ihr die Daumen. Ich hoffe sehr, wir lernen uns einmal persönlich kennen. Vielleicht kann sie ja sogar in Deutschland einen Masters machen (Tipps v.a. für englischsprachige Studiengänge, die irgendwie mit Civil Engineering zu tun haben, gern an mich!).
Arsha-with-Friends

Arsha mit ihren Freundinnen


Ich habe Arsha natürlich gefragt, ob ich alles das schreiben kann, auch mit ihrem Namen und Fotos – sie war einverstanden. Mir bedeutet diese kleine Geschichte sehr viel. Sie ist für mich exemplarisch für die Grenzenlosigkeit des Internets und wie sich Menschen, die sich nie begegnet sind, einander näher kommen können. Sie zeigt, über welche Ecken wir alle mit anderen Verbindungen haben oder haben könn(t)en. Wie klein die Welt ist und wie wichtig es daher ist, sich nicht so stark an Nationalismen zu orientieren. Das Internet kennt solche Grenzen einfach nicht. Es zeigt uns im Gegenteil, wie einfach sich selbst Barrieren wie Jahrzehnte Zeit und Tausende von Kilometern überwinden lassen und wie solche Bindungen – oder Abkömmlinge dieser Bindungen – selbst den Untergang eines Gesellschaftssystems überleben können. Ich bin immer noch fasziniert und danke Arsha sehr dafür, dass sie mich einfach so kontaktierte. Ich bin so um eine Freundschaft reicher geworden.
Berlin-Kerala 7.200 km Luftlinie

Berlin-Kerala 7.200 km Luftlinie