#Blumengewalt – Wie falsche Beschuldigungen mich vor Gericht brachten

Hinweis: Es gibt 2 Updates am Ende des Beitrages – vom 3. Januar und vom 5. März 2017.
Am 28. November 2016 nahm ich zum ersten Mal in meinem Leben an einem Gerichtsverfahren teil. Das war am Strafgericht Berlin Moabit und ich war die Angeklagte. Die Vorwürfe – zwei Körperverletzungen gegen Polizist*innen:

  1. einer Polizistin, die mir meinen Blumenstrauß entreißen wollte, soll ich beim „Tauziehen“ mit dem Blumenstrauß nebenbei eine kleine Kratzwunde am vorderen Glied ihres Zeigefingers zugefügt haben
  2. einem Polizisten soll ich mit einem umgedrehten Blumenstrauß mit dessen Stielen voran unter das Visir in  sein Gesicht gestochen haben – dabei soll ich ihn an der Wange verletzt haben, oder doch am Kinn, oder am Hals, oder an der Nase – das ist nach seiner schriftlichen und mündlichen Aussage etwas unklar.

Beides habe ich jedoch nicht getan. Im übrigen soll ich einen dritten Polizisten mit einem hochgehaltenen Blumenstrauß beim Filmen der Demonstranten behindert haben. Zum Ablauf des Verfahrens werde ich ausführlicher nach dem Verfahrensabschluss berichten. Wer wissen will, wie schräg es dabei zu ging, kann den Artikel im Neuen Deutschland darüber lesen, der nach Verhandlungstag 1 erschien. Der Text trägt den zutreffenden Titel:

„Polizist weiß nicht mehr, wie Domscheit-Berg ihn verletzte“

Einen Eindruck vom Verfahren geben auch die Live Tweets des Zentrums für Politische Schönheit, die jemanden zur Prozessbeobachtung geschickt hatten. Ich habe sie mit einigen anderen Tweets über das Gerichtsverfahren in einem storify zum Nachlesen gesammelt. Neben etlichen Journalist*innen war auch MdB Norbert Müller vor Ort und schüttelte seinerseits den Kopf über das Verfahren bzw. die Aussagen der Zeugen der Anklage.
Hat Rainer Wendt schon Blumenschutzausrüstung für die Berliner Polizei gefordert? – überschrieb Metronaut seine Berichterstattung.
Am 15.12.2016 soll es weiter gehen, ab 14:15 Uhr im Kriminalgericht Berlin Moabit, Turmstrasse 91, Raum 572. Mit etwas Glück ist die Sache dann ausgestanden. Ich rechne mit einem Freispruch – aufgrund der Beweislage – aber man kennt das ja, vor Gericht und auf hoher See…, also drückt ruhig Eure Daumen, man weiß ja nicht.

Nachfolgend meine Stellungnahme, wie ich sie am 28.11.2016 zum Auftakt des Verfahrens vorgelesen habe (Bilder für diesen Blog ergänzt):

Graphik: Evelyn Schubert (http://evelynschubert.com/)

Graphik: Evelyn Schubert (http://evelynschubert.com/)


Am Samstag, dem 20. Juni 2015, war Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen, der seit 2001 begangen wird. In jenem Jahr hatte die Anzahl von Menschen auf der Flucht eine Rekordmarke seit dem 2. WK erreicht. Fast 60 Millionen Menschen hatte ihre Heimat aufgrund von Konflikten, Kriegen und Verfolgung verlassen müssen. Davon zählen nach Genfer Flüchtlingskonvention knapp 20 Millionen Menschen als Flüchtlinge. Noch nie hatte das UNHCR mehr Geflüchtete verzeichnet. Die meisten Menschen flohen nicht nach Europa, sondern in die Türkei, nach Pakistan, Libanon, in den Iran, nach Äthiopien oder Jordanien. Ein Großteil Geflüchteter blieb auf der Flucht im eigenen Land. Aber für viele blieb nur die Flucht in die Ferne. Viele zog es nach Europa, wo es Frieden gibt und eine Chance auf Zukunft. Aber legale Wege gibt es nicht in die EU einzureisen, um in der EU das Grundrecht auf Asyl oder Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention zu beantragen.

Für 100€ gibt es Flugtickets von der Türkei nach Deutschland, wo viele der Geflohenen z.B. aus Syrien zuerst Schutz suchten. Aber die Türkei ist nicht erst seit ein paar Monaten ein undemokratisches Land. Geflüchtete wurden in unmenschlichen Arbeitsverhältnissen ausgebeutet, Kindern der Zugang zu Bildung verwehrt, Kranke bekamen Hilfe nur gegen Geld. Seit dem letzten Sommer habe ich mit sehr vielen Geflüchteten gesprochen, von denen über 30 im Laufe des vergangenen Jahres in meinem Haus vorübergehend Obdach fanden und die mir erzählten, warum sie erst in die Türkei und dann von dort weiter geflohen sind. „Fragt uns nicht, warum wir gekommen sind, fragt uns warum wir nicht in unserer Heimat bleiben konnten“ hat mir vor wenigen Tagen bei der Denkfabrik der Welthungerhilfe eine Migrantin gesagt. Ich habe selbst schon oft gefragt und höre immer wieder Geschichten, wie die von Kamal aus Nordsyrien, der genau in jenem Sommer 2015 den Entschluss fasste, den gefährlichen Weg über das Mittelmeer zu wagen. Er tat es, um das Leben seiner Frau und seiner 4 kleinen Kinder zu retten, eines davon war 2 Jahre alt und hat die Glasknochenkrankheit. Medizinische Betreuung gab es nicht mehr in seiner Heimat, für den kleinen Jungen war diese Situation auch ohne Bomben schon lebensgefährlich. Der junge Vater hat sein Leben auf dem Meer für die Zukunft seiner Kinder riskiert. Er hat überlebt und es zusammen mit seinem Bruder nach Griechenland und von dort bis nach Deutschland geschafft. Der Agraringenieur lebt in meiner Kleinstadt im Norden von Brandenburg, er spricht inzwischen fließend deutsch. Vor wenigen Wochen hat er endlich seine Frau und die 4 Kinder in Berlin Tegel abholen können und ist in eine Wohnung gezogen. Über eine Familienzusammenführung konnten sie den sichereren Weg nehmen und einfach in ein Flugzeug steigen.

Kamal und seine Familie hatten Glück. Aber viele andere nicht. Die meisten können sich die horrenden Kosten für die illegale Flucht gar nicht erst leisten, sie harren in Lagern mit menschenfeindlichen Lebensbedingungen ohne jede Perspektive aus. Andere verkaufen ihre Eheringe und alles, was sie haben, um den Schleppern in der Türkei einen Sitzplatz in einem hoffnungslos überfüllten Schlauchboot abzuringen.

Wenn sie Pech hatten, versagte der Motor auf hoher See, kippten Wellen das Boot und waren die Schwimmwesten gefälschte Ware, ohne lebensrettende Wirkung. Das passiert jeden Tag im Mittelmeer, im Sommer und im Winter, auch heute. Jeden Tag wird das Meer zu einem nassen Grab, in dem Geflüchtete in der Hoffnung auf ein Leben mit Zukunft jämmerlich ertrinken.

Eine Uhr, die 01:42 zeigt. Der Text: in 2016, every 1H42 er Person dies trying to cross the Mediterranean

Quelle: Tweet von Ärzte ohne Grenzen: https://twitter.com/MSF_Sea/status/805714118103666688

Ihren Namen kennt in den meisten Fällen niemand. Männer, Frauen, Kinder, Babies – versinken in den Fluten, wenn kein rettendes Schiff in der Nähe ist – laut Ärzte ohne Grenzen waren es in diesem Jahr im Durchschnitt 14 Menschen, jeden einzelnen Tag, die auf diese Weise starben. Ich bin in der DDR aufgewachsen. Ich habe mich als Kind entsetzt, wenn es zu Todesfällen an der deutsch-deutschen Grenze gekommen war. Mit meinem Menschenbild und einer humanitären Grundeinstellung ist nicht vereinbar, dass wir jedes Jahr den Tod Tausender verzweifelter Menschen billigend in Kauf nehmen, obwohl sie bei uns ein Bleiberecht nach der Verfassung und nach der Genfer Flüchtlingskonvention hätten.

Unsere europäischen Grenzen, die Grenzen der EU, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden ist, sind zur tödlichsten Grenze der ganzen Welt geworden. Diese Praxis ist schlicht menschenverachtend.

Aus diesem Grund bin ich vor einem Jahr dem Aufruf des Zentrums für Politische Schönheit gefolgt, mich an dem Marsch der Entschlossenen zu beteiligen, mit dem die Toten aus dem Mittelmeer symbolisch von der europäischen Außengrenze in das Herz Europas, mitten nach Berlin gebracht werden sollten. Das ZPS hat sich erhofft, dass wenn wir schon die verzweifelten Schreie der Lebenden nicht hören, dass wir vielleicht wenigstens die stumme Klage der Toten vernehmen können. Deshalb führte der Marsch der Entschlossenen auch in das politische Zentrum unserer Hauptstadt, Richtung Kanzleramt und Bundestag, damit wir stellvertretend für die Toten unsere Stimme erheben, so dass sie gehört werden von denen, die einen Einfluss darauf haben. Das ist für mich der Sinn einer Demokratie und der unmittelbare Zweck des Demonstrationsrechts.

Demonstrationszug "Die Toten kommen", im Vordergrund Anke Domscheit-Berg mit einem Schild (jeder Mensch hat ein Recht auf Leben) und einem Grabkranz mit roten Rosen.

Fotocredit: Nick Jaussi (http://nick.jaussi.eu )

Gemeinsam mit 5000 anderen Demonstranten wollte ich außerdem den an den EU-Außengrenzen Gestorbenen ihre Würde zurückgeben, ihrer wenigstens einmal öffentlich still und in unserer Mitte gedenken, ihnen einen Gedenkraum schaffen, wie wir ihn für unsere Toten auf einem Friedhof jederzeit finden können. Wenigstens temporär sollte es für die namenlosen Toten einen Ort der Trauer und des Gedenkens geben.

Ihre Angehörigen erfahren nie von ihrem Schicksal, es gibt für sie kein Grab, kein gemeinsames Erweisen von Respekt, keine Rede, keine Blumen, keine Kranzniederlegung und keinen Grabstein. Wenn ihre Leichen überhaupt je an ein Ufer gespült wurden, hat man sie in Mülltüten gestopft, in Kühlkammern wochenlang übereinander gestapelt und am Ende irgendwo in einem Massengrab verscharrt. Ihrer Menschenwürde sind sie beraubt selbst im Tod. In unserer Verfassung steht aber, die Würde des Menschen ist unantastbar. In unserer Verfassung steht nichts davon, dass nur die Würde deutscher Menschen oder von Staatsbürgern der EU unantastbar ist. Diese Verfassung ist auch meine Verfassung und ihr Leitgedanke ist auch der meine.

Deshalb haben mein Mann und ich im Juni 2015 beim Gärtner in unserer Stadt einen großen Kranz mit roten Rosen bestellt und auf die Seidenfahnen unser Gedenken an die ertrunkenen Geflüchteten im Mittelmeer geschrieben. Wir haben Blumensträuße gekauft, aus schmalen flachen Brettern kleine Kreuze gebaut und „Grenzen töten“ auf die Brettchen geschrieben. In einen kleinen Sack haben wir Erde aus unserem Garten eingefüllt und alles das am 21. Juni 2015 auf einem kleinen Rollwagen nach Berlin zur Demonstration mitgenommen. Für uns war das eine Beerdigungsfeier, also hat mein Mann seinen schwarzen Hochzeitsanzug angezogen und ich ein schwarzes Kleid und einen schwarzen Mantel darüber. Wir zogen mit der Demonstration durch die Innenstadt Berlins, friedlich und still. Kurz vor dem Kanzleramt hielt der große Zug an, wir standen im vorderen Drittel, in der Mitte des Zuges, als sich nach einigen Reden die Menge wieder in Bewegung setzte und rechts auf die Wiese des Platz der Republik abbog.

Wiese vor dem Reichstag - mit von Demonstranten angelegten provisorischen Gräbern

Wir sind dem Strom der Demonstranten gefolgt. Ich habe das Umwerfen eines Zaunes später auf Videos gesehen und kann mich nicht daran erinnern, ob wir  über einen Zaun gelaufen sind oder für uns der Zugang frei war ,  das ist nichts, was ich mir besonders merken würde, weil in Berlin ja ohnehin viel herum liegt und ich einfach in einer größeren Menschenmenge gelaufen bin. Vor Ort habe ich auf der Wiese selbst einen Zaun Richtung Hauptbahnhof bzw. Paul-Löbe Haus und einen in Richtung Reichstagsgebäude wahrgenommen, das machte für mich auch einen gewissen Sinn, da man vielleicht vorsichtig war und den Schutz des Parlaments erhöhen wollte. Auf dieser Wiese habe ich schon oft demonstriert, es ist für mich neben dem Pariser Platz einer der häufigsten Orte für Kundgebungen und Demonstrationen. Ich habe dort vielfach gegen Überwachung demonstriert aber auch für die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen. Es ist ein natürlicher Ort direkt vor dem Parlamentsgebäude seine Meinung als Bürgerin zu äußern, auf dem „Dem deutschen Volke“ in Stein gemeißelt steht. Auch wenn ich vom Pariser Platz kommend zum Hauptbahnhof laufen wollte, bin ich zig Mal über diese Wiese gelaufen, ich kenne  sie als frei zugänglichen öffentlichen Ort.

Neben uns her liefen viele Polizisten, alle in Richtung Reichstagsgebäude. Niemand von ihnen hat uns aufgefordert, stehen zu bleiben. Noch ein ganzes Stück vom Zaun vor dem Reichstagsgebäude entfernt, blieben mein Mann und ich stehen. Wir wollten ein symbolisches Grab anlegen, als temporäre Gedenkstelle und damit den anonymen Ertrunkenen eine letzte Ehre erweisen.

Über das daraufhin folgende Ausmaß völlig unbegründeter, willkürlicher Polizeigewalt war ich entsetzt und erschrocken. Ich hatte bisher persönlich keinerlei negativen Erfahrungen mit Polizisten gesammelt und war umso mehr erschüttert.

Tweet: "anked gerade im stream "Bin von Polizisten geschlagen worden, weil ich einen Blumenstrauß hoch hielt" #dietotenkommen

Ich wurde ohne Vorwarnung mehrfach von  Polizisten getreten und  geschubst. Dabei ging es auch immer wieder um meine Blumen. Polizisten schlugen immer wieder  meinen Arm herunter und versuchten, mir den Blumenstrauß zu entreißen. Diese Blumen waren für mich längst zum Symbol geworden. Ein Symbol für die Ehrerbietung gegenüber den Toten, für die Trauer um die Toten und gegen die Gewalt, die von der Polizei ausgeübt wurde. Ich habe sie immer wieder verzweifelt hochgehalten, selbstverständlich nicht, um jemanden damit zu verletzen oder zu behindern, sondern als klares und deutliches Zeichen  der Würde und Gewaltfreiheit.

Ich habe schon vor wenigen Jahren  etwa Teile eines Panzers, der das KZ Ravensbrück befreit hat, in den Friedensfarben des Regenbogens eingestrickt und mit gehäkelten Blüten geschmückt. In die Mündung des Kanonenrohres steckte ich Blumen. In der Tradition der Flower Power Bewegung der 60er und 70er Jahre wollte ich damit dem Militärischen etwas zutiefst Friedliches und Harmloses entgegensetzen. Aus dem gleichen Grund habe ich ebenfalls vor einigen Jahren ein altes Militärflugzeug eingestrickt und ebenfalls mit vielen textilen Blumen besetzt. Ich habe selbst einmal Angewandte Kunst studiert und setze künstlerische Methoden ein, um mit symbolischen Mitteln meinen Überzeugungen wie in diesem Fall dem Pazifismus Ausdruck zu verleihen. Ich bin dabei nie auf Widerstand oder Ablehnung gestoßen. Fotos von meiner Strickaktion am Ravensbrücker Panzer sind inzwischen Teil der Dauerausstellung der Gedenkstätte Ravensbrück als moderne Form des Gedenkens.

Ich bin ein friedliebender Mensch, der zwar für seine Überzeugungen öffentlich eintritt, auch mit originelleren Aktionen, der aber nie Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung für sich akzeptiert hat.

Ich habe als friedliche Demonstrantin in feierlicher Kleidung, weithin erkennbar an meinem roten Hut an der Demonstration „Die Toten Kommen“ teilgenommen. Ich habe dort für mich völlig überraschend Polizeigewalt erlebt und meiner Erschütterung darüber in mehreren Interviews noch vor Ort auf der Wiese gegenüber verschiedenen Medien Ausdruck verliehen. Ich habe etwa 10 Minuten nach diesen Übergriffen um 15:53 Uhr folgenden Tweet von der Wiese getwittert: „ Polizisten haben erst hart zugegriffen, mich geschlagen, obwohl ich ‚keine Gewalt’ rief und nur Blumen in die Höhe hielt“. Mehrere Stunden später war ich auf dem Heimweg und twitterte: „liege auf einer Bahnsteigbank, warte auf die Bahn. Mein Rücken schmerzt elend, vielleicht eine Folge der Polizeischläge“. Ich habe damals überlegt, ob ich Anzeige gegen die übergriffigen Polizisten erstatte, aber ich hatte zu oft in der Zeitung gelesen, dass solche Anzeigen zu nichts führen, so dass ich das gelassen habe.

Nach meinem persönlichen Erleben während der gesamten Demonstration und nachfolgenden Aktion auf dem Gelände der Wiese des Platz der Republik ging jede Eskalation ausschließlich von der Polizei aus. Sowie die Polizei mit Eskalationsverhalten aufhörte, war die Menge absolut friedlich, klatschte und sang. Sie legten unbehelligt über 100 symbolische Gräber mit ihren nackten Händen an, die am Ende doch noch das beabsichtigte Ziel erreichten – einen würdigen Gedenkort in Form eines Friedhofes für die Toten im Mittelmeer im Herzen Berlins zu errichten. Die Toten waren also doch noch gekommen und ruhten symbolisch unter dem Platz, der für Deutschland die höchste politische Bedeutung trägt, sichtbar für alle Abgeordneten des Bundestages, die beim Überqueren der Wiese zumindest über symbolische Gräber und Leichen hätten gehen müssen.

Eines dieser Gräber haben auch mein Mann und ich noch angelegt, wir haben die mitgebrachte Erde aus unserem Garten zu einem kleinen Hügel aufgeschüttet, um die Wiese darunter nicht zu beschädigen und haben den mitgebrachten Trauerkranz mit roten Rosen sowie einen Blumenstrauß auf dieses Grab gelegt.

Tweet von @anked: Wir sind eine fridlich unsere meinung äußernde gruppe von bürger*innen. #dietotenkommen. Wir singen u klatschen. Und ein Foto, das sitzende Demonstranten vor einer Kette Polizisten zeigt.

Nach den für mich schockierenden Erfahrungen während dieser friedlichen und doch so kreativen Aktion hat es mich besonders überrascht, über ein Jahr später vom Ermittlungsverfahren gegen mich in Kenntnis gesetzt zu werden. Die Vorwürfe darin sind an Absurdität kaum zu überbieten. Ich soll u.a. einen meiner Blumensträuße umgedreht und mit den Stielen einen Polizisten im Gesicht verletzt haben! Man könnte das fast lustig finden, so seltsam ist dieser Vorwurf. Aber ich finde es nicht lustig, der Körperverletzung eines Polizisten beschuldigt zu werden. Ich habe in diesem Jahr ein Start Up gegründet und ich kandidiere für die Bundestagswahl 2017. Es ist daher nicht nur ehrabschneidend sondern auch geschäftsschädigend und wahlbeeinflussend, mir eine Straftat anzuhängen, die ich nicht begangen habe. Zur Anklage gab es bereits eine dpa Meldung, die in vielen Medien Verbreitung fand. Eine Mitarbeiterin von RTL verlinkte eine solche Meldung und twitterte dazu: „2017 im Bundestag mit r2g?

Andere Tweets lauteten „Qualifikation für den Bundestag: Anke Domscheit-Berg soll Polizisten angegriffen haben“. Auch über meine Nominierung als Listenkandidatin der Linke vor zwei Tagen haben nach einer entsprechenden DPA Meldung viele Medien nur im Zusammenhang mit dieser Anklage berichtet, wie z.B. die Berliner Zeitung, die schreibt: „Auf Platz drei kam die Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg, die sich an diesem Montag vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten verantworten muss. Ihr wird vorsätzliche Körperverletzung von Polizisten vorgeworfen.“ Auf RBB Online musste ich gestern einen ganzen Artikel unter der Überschrift „Anke Domscheit-Berg wegen Körperverletzung vor Gericht“ lesen, in dessen Kurzfassung steht„Die Politaktivistin Anke Domscheit-Berg muss sich ab Montag vor Gericht verantworten. Ihr wird vorsätzliche Körperverletzung vorgeworfen, weil sie bei einer Mahnwache im vergangenen Jahr drei Polizisten angegriffen haben soll.

Diese Tweets und Artikel machen erkennbar, dass bereits die falsche Unterstellung für mich öffentliche Nachteile brachte. In Vorbereitung dieses Gerichtsverfahrens habe ich viele Videos der fraglichen Situationen wieder und wieder angeschaut, immer wieder habe ich mir ansehen müssen, wie die Polizei mich grundlos und unverhältnismäßig überfallen hat. Immer wieder habe ich  mich genauso schrecklich gefühlt wie damals.
Ich möchte es in aller Klarheit sagen: ich habe auf dieser Veranstaltung zu keinem Zeitpunkt jemanden verletzt oder getreten, geschubst oder gekratzt. Ich bin Pazifistin nicht nur in der Theorie sondern auch im praktischen Leben.

*** Ende meiner Stellungnahme vor Gericht ***

Den Überfall der Polizei auf mich kann man u.a. auf einem Video von Streetperspectives sehen – ab 08:50 min beginnt diese Szene. Direkt im Anschluss sollen sich die dem Verfahren zugrunde liegenden Taten ereignet haben…

Portrait von Anke DB am Zaun des Geländes der Reichstagswiese mit einem Zitat, das weitgehend dem Tweettext entspricht.
Tweet von derPupe: @anked in vorderster Front fragt polizei warum sie nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben, nummern tragen. #dietotenkommen

 Ich vertraue auf den Rechtsstaat, denn ich habe mir nichts vorzuwerfen.

Ich bin Publizistin. Ich wehre mich mit Worten.

Update vom 3. Januar 2017
Am 15.12.2016 fand der zweite Verhandlungstag statt. Ein geladener Zeuge auf Polizeiseite sollte erklären, wie die Unterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher Zeugenaussage zustande kamen. Der geladene Zeuge war derjenige, der die Zeugenaussagen der beiden „Opfer“ schriftlich aufgenommen hatte. Sie standen mehrfach im Widerspruch zu den vor Gericht getätigten Aussagen der Opfer, z.B. hinsichtlich des Ortes und der Art der Verletzung, des angeblichen Tathergangs etc. Die Widersprüche blieben unaufgeklärt. Am Ende der Verhandlung forderte der Staatsanwalt absurderweise bei völliger Abwesenheit von Beweisen auf seiner Seite weiterhin 60 Tagessätze und verdoppelte die anzusetzende Summe, die seinerzeit dafür im Strafbefehl stand auf 1.800 Euro. In ihrem Plädoyer nahm meine Anwältin noch einmal sämtliche Aussagen der Zeug*innen auseinander, belegt durch von uns vorgelegte Beweise, wie Videos und Fotos. Man könnte meinen, es handelte sich um einen sonnenscheinklaren Fall von Freispruch. Aber die Richterin war dazu offenbar nicht bereit. Deshalb haben wir einen Beweisantrag auf Anhörung einer Entlastungszeugin gestellt. Dafür ist nun ein dritter Termin erforderlich, er findet am 5. Januar 2017 um 14:15 Uhr erneut im Landgericht Moabit im Raum 672 statt. Prozessbeobachter*innen sind natürlich wieder willkommen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass bei dieser Verhandlung das Urteil gesprochen wird.
Update vom 5. März 2017
Am 05. Januar 2017 fand der 3. Verhandlungstag zu diesem Verfahren statt. Dort wurde ich zu 20 Tagessätzen verurteilt. Das Urteil war ein klares Fehlurteil und ich verstehe immer noch nicht, wie es bei so klarer Beweislage überhaupt zu einer Verurteilung kommen konnte. Selbstverständlich habe ich Berufung eingelegt und warte seither auf den Berufungstermin. Im Rechtsstaat Deutschland gilt der Grundsatz, im Zweifel für den Angeklagten. Nicht einmal dieser Grundsatz wurde berücksichtigt.
Hier die Fakten:
Immerhin: der Vorwurf, ich hätte einem Polizisten mit einem umgedrehten Blumenstrauß durchs Visir gestochen und ihn ihm Gesicht verletzt, wurde aufgrund der erheblichen Unglaubwürdigkeit des vermeintlichen Opfers fallen gelassen. Er hatte mehrfach verschiedene Angaben zu Verletzungen getätigt, völlig falsche Aussagen zur Sachlage vor Ort gemacht (die durch Videos und Fotos widerlegt wurden), es gab keine einzige Aussage dritter Personen, die seine Darstellungen stützten,  er hatte „vergessen“ Fotos von der Verletzung zu machen und auch der Polizist, der seine schriftliche Aussage kurz nach dem „Vorfall“ aufgenommen hatte, erinnerte sich an keinerlei sichtbare Verletzungen und hat auch nichts dergleichen in der schriftlichen Aussage festgehalten. Den Vorwurf, eine weitere Polizistin am obersten Zeigefingerglied leicht gekratzt zu haben (nach eigener Aussage der Polizistin eine „lächerliche Lappalie“) wurde jedoch als glaubwürdig bewertet und nur auf diesen Vorwurf bezieht sich die Verurteilung. Der Staatsanwalt blieb im übrigen bei seiner Forderung nach 60 Tagessätzen, obwohl der weitaus schwerwiegendere Tatvorwurf als unbegründet fallen gelassen worden war.
Hier der Sachstand, wie er der dem Gericht vorlag, und den die Richterin ignoriert hat, denn obwohl jeder dieser Umstände für sich alleine genommen für einen Freispruch gereicht hätte, hat die Richterin darin nicht einmal einen Grund für Zweifel an meiner Schuld gesehen (das muss man nicht verstehen):

  • An einer Nachstellung des behaupteten Tatgeschehens (zwei Personen reißen an beiden Enden eines Blumenstraußes – durch Papierrolle ersetzt) habe ich nachgewiesen, dass es technisch UNMÖGLICH ist, mit der gleichen Hand, mit der man an einem Blumenstrauß zieht, jemand anderen zu kratzen, der am anderen Ende des Straußes zieht. Man kann nicht loslassen, ohne sich ruckartig nach hinten zu bewegen (bzw. zu fallen). Mann kann nicht kratzen, ohne Loszulassen.
  • Am 3. Verhandlungstag wurde eine Entlastungs-Augenzeugin befragt, die zum vermeintlichen Tatgeschehen direkt neben mir stand (das konnte ich anhand von Bilddokumentationen dritter Personen nachweisen, außerdem hat sie zeitweise von dort selbst Aufnahmen gemacht). Es handelt sich um eine Fotojournalistin, die ausgesagt hat, dass sie die fragliche Situation von Anfang bis Ende mit eigenen Augen deutlich gesehen hat und dass sie ausschließen kann, dass ich a) den Strauß losgelassen habe und b) dass ich jemanden gekratzt habe. Die Zeugin wurde von der Richterin zwar als glaubwürdig bewertet, die Richterin glaubt nur trotzdem nicht, dass ihre Aussage stimmt (Häh? Ja genau. Häh.)
  • Die Polistizin (das „Opfer“) wiederum behauptete, es sei ausgeschlossen, dass eine andere Person als „Kratzer“ in Frage kommt, weil nur meine Hand zum fraglichen Zeitpunkt in der Nähe ihrer Hand gewesen sei. Ich konnte anhand von Fotos und Videos nachweisen (inklusive Polizeivideo!), dass mehrfach diverse Hände in jener fraglichen Minute am Strauß waren, ALLE anderen Hände waren dichter an der Hand der Polizistin als meine, denn ihre und meine Hand befanden sich an den entgegengesetzten Enden des Straußes, die anderen Hände dazwischen. Ich konnte sogar ein Foto vorlegen, das deutlich zeigte, dass die Hand eines (unbekannten) Polizisten genau so AUF ihrer Hand drauf lag, dass seine Fingernägel in der Nähe der beschriebenen Kratzwunde lagen. Vermutlich ist hier der Moment der Verletzung fotografisch festgehalten. Aber ein Polizist als Verursacher der Kratzwunde war wohl nicht opportun.

In ihrer Urteilsbegründung hat die Richterin im übrigen diverse falsche Dinge hineingeschrieben, von Nebensächlichkeiten wie, die Anwältin hätte meine Stellungnahme verlesen (nein, das war ich selbst) bis hin zu der schwererwiegenden Behauptung, ich hätte mich geweigert, Fragen zur Sache zu beantworten. Das ist nicht richtig. Fakt ist, dass es keine einzige Frage von der Richterin gab, die ich nicht beantwortet habe. Ich habe sogar proaktiv Stellung genommen, selbst viele Fragen an die Zeug*innen gestellt und ganz offensichtlich einen Willen zur Kooperation gezeigt. Ich hatte nur gesagt, dass ich keine Befragung VOR der Befragung der übrigen Zeugen wünsche.
Den Glauben an den Rechtsstaat habe ich zwar noch nicht verloren, aber ich muss zugeben, er ist etwas angekratzt. Es ist nicht lustig, am nächsten Tag in der Bildzeitung zu lesen, dass man wegen „Mißhandlung von Polizisten“ verurteilt wurde und dass die Anklage auf Stechen unter ein Polizeivisir lautete. Kein Wort davon, dass gerade dieser Vorwurf als unglaubwürdig abgewiesen wurde. Mir bleibt also nichts, als auf die Berufungsverhandlung zu warten und dort einen Freispruch zu erkämpfen. Ich habe niemanden verletzt. Punkt.

Unternehmensgründung aus "Notwehr" – weil es endlich Glasfaser-Breitband in Deutschland braucht

Es ist zum weinen: Deutschland ist Schlußlicht in Europa, was die Versorgung mit richtiger Glasfaser betrifft. Die Deutsche Telekom schickt uns Flyer ins Haus, in denen sie 3 Stufen des Netzausbaus beschreibt und wo die dritte Stufe „Vectoring ist die Zukunft“ heißt. Für die, die es nicht wissen: Vectoring ist so ziemlich das Letzte, was man mit dem Begriff „Zukunft“ assoziieren sollte, die „Braunkohle der Kommunikationstechnologie“ trifft es viel eher. Vectoring beschreibt die Strategie der Deutschen Telekom, hoch subventioniert durch die Bundesregierung, Glasfaser nur auf längeren Strecken zu legen und auf der letzten Meile immer noch die Daten über alte Kupferkabel zu leiten. Man versetze sich zum Vergleich aus dem digitalen Zeitalter einmal in die Zeit der industriellen Revolution zurück und stelle sich vor, es gäbe keinen ÖPNV als Bus und Straßenbahn sondern Eisenbahn auf langen Strecken und die kurzen Distanzen werden mit Pferdewagen überwunden. Und dann kommt ein Verkehrsunternehmen und sagt: „Die Zukunft, das ist Nahverkehr mit Pferden, die mit elektrischen Peitschen angetrieben werden“. Ja, sehr cool.
Es sind aber immer noch PFERDE, verdammt!
Und Kupfer bleibt Kupfer und wird nie die Leistung einer Glasfaser bringen, und wenn man noch so viele, teure und energiefressende Vectoringkästen alle paar Meter aufstellt! *KopfaufTisch*

Man achte auch auf die klassische Formulierung: "BIS ZU 100Mbit werden MÖGLICH" - das weiß man was man hat. Nicht.

Man achte auch auf die klassische Formulierung: „BIS ZU 100Mbit werden MÖGLICH“ – das weiß man was man hat. Nicht.


Es ist mehr als unglücklich, dass die Breitbandstrategie des Bundes den Erhalt eines veralteten Geschäftsmodells eines Großkonzerns höher priorisiert, als die Zukunftssicherheit unseres Landes. Viele Wettbewerber haben sie dafür kritisiert, selbst aus der EU kam Kritik, weil diese Subventionen auch noch den Markt für die Telekom schützen und Investitionen Dritter behindern. Also was tun, außer ärgern und aufregen? Manchmal ist die Antwort: Selbermachen!
Lernen von den Besten: Schweden weiß, wie Breitbandausbau geht
Mein Mann Daniel und ich haben uns dafür entschieden, selbst etwas zu tun. Daniel ist beruflich viel in Schweden unterwegs, unter anderem, weil dort das Internet so schön schnell und preiswert ist. Vor vielen Jahren hat er dort auch Jonas Birgersson, den man in Schweden auch den „Breitband-Jesus“ nennt, kennengelernt. Und so hat er natürlich auch mitbekommen, dass der Breitbandausbau in Schweden ganz anders funktioniert als bei uns. Muss man sich nicht fragen, warum in Deutschland nur lächerliche 1,2 Prozent der Breitbandanschlüsse auf Glasfaser basieren, während es in Schweden 33-Mal mehr sind (40 Prozent) sind? Schweden hat die höchste Internetdurchschnittsgeschwindigkeit in Europa, die viertschnellste in der Welt. Schweden ist im globalen Innovationsindex von 2016 auf Platz 2 und hat sich in einem Jahr um 8 Plätze verbessert. Deutschland, das „Land der Ideen“, das vom alten Ruhm seiner Innovationsstärke noch immer zehrt, ist auf dem absteigenden Ast – von Platz 9 sind wir nun auf Platz 10 abgefallen. Wer sich mit der Entwicklung der digitalen Revolution beschäftigt, wundert sich darüber nicht. Ein Land, das in der vorherigen industriellen Revolution keine Eisenbahnschienen gebaut hätte, wäre im Innovationsvergleich wohl auch abgestiegen, weil neue Unternehmen eine moderne Infrastruktur brauchen, um eine Chance zu haben. Und heute reisen eben nicht nur Container um den Globus sondern Datenpakete.
Was macht Schweden anders? 
Also stellt sich die Frage: Was machen die Schweden anders? In Schweden gibt es einen fundamentalen Unterschied im Breitbandausbau und der liegt im starken Fokus auf den dezentralen Ausbau durch Kommunen. Das geht nicht, weil es nicht finanzierbar ist und sich nie rechnet? Stimmt nicht. Die Schweden zeigen ja schon seit Mitte der 90er, dass dieser Weg funktioniert, UND dass er sich rechnet. Für die Kommunen wurde das Internet so zur langfristigen Einnahmequelle, für die Nutzer wurde das Internet vor allem rasend schnell und super preiswert. Wer in Deutschland von der Deutschen Telekom einen 10MBit Anschluss mit symmetrischer Leistung möchte (also Download UND Upload mit dieser Geschwindigkeit, und eben nicht über ein Shared Medium wie DSL, sondern, wie soll man es sagen – über eine richtige Anbindung an das Internet-Netzwerk und kein komisches Modulationsverfahren auf einer alten Telefonleitung), der soll 500€ blechen (wir haben das für unser Haus mal angefragt). Im schwedischen Glasfasernetz gibt es die 100 fache Geschwindigkeit – 1 Gigabit symmetrischer Leistung für etwa 50 Euro – und nein, da fehlt keine Null. Das ist auch keine Zauberei sondern schlicht ein anderes Geschäftsmodell. Eines, das die Infrastruktur der Zukunft in die Hände der Kommunen legt und das Internet  als Daseinsvorsorge betrachtet, wie Straßen oder Abwasserkanäle. Es ist ein natürliches Monopol, das jeder Haushalt braucht aber keiner zweimal. Nur einmal in richtig, preiswert und zuverlässig. Die Kommunen in Schweden bekommen das hin. Die Deutsche Telekom und die rein Top-Down orientierten Geschäftsmodelle in Deutschland leider nicht.

Wir wollen dieses Geschäftsmodell hierzulande verbreiten, weil wir es als kritischen Weg sehen, endlich schnelles Internet auch bei uns in Deutschland zu bekommen. Weil weder Infrastrukturminister noch digitale Bundestagsausschüsse offenbar in der Lage sind, die richtigen Strategien vorzugeben. Und weil es auch unabhängig davon geht, wenn sich Kommunen finden, die Lust darauf haben, es den schwedischen Pionieren nachzumachen. Wir, das ist der deutsche Ableger des schwedischen Unternehmens, das seit den 90er Jahren Breitband in schwedische Kommunen legt. Wir heißen ViaEuropa Deutschland und sind eine GmbH. Das schnelle Internet wollen wir unter dem Namen „Opengiga“ in die Fläche bringen. Open – weil es auf einem offenen Marktplatz basiert, Giga – logisch – weil es Giga Leistungen nicht nur als Werbetrick verspricht, wie z.B. Vodafone sondern weil da auch wirklich Gigaspeed drin ist – genau das, was die Gigabit-Gesellschaft braucht.
Wie genau das alles funktioniert, wie die Glasfaser als Dark Fibre von Kommunen dem Markt zur Verfügung gestellt wird, wie sich das für sie rechnet und wie durch einen offenen Marktplatz obendrauf ein intensiver Wettbewerb entsteht, der dezentral neue Arbeitsplätze schafft, Dienste, Konditionen und Preise für Endkunden verbessert – das alles werden wir am Freitag bei einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit vorstellen und anschließend auch über unsere Website www.viaeuropa.de. Bei der Pressekonferenz werden auch Vertreter der schwedischen Kommune Landskrona von ihren Erfahrungen berichten und ein Vertreter des Deutschen Städte und Gemeindebundes seine Perspektive beitragen. Natürlich ist auch der „Breitband-Jesus“ dabei, Jonas Birgersson :-).
Pressevertreter*innen, die sich für unsere Pressekonferenz am 16.9.2016 in Berlin interessieren, könnten uns gern an presse @ viaeuropa . de schreiben, wir schicken dann umgehend die Einladung mit den Details. Wir twittern übrigens unter @opengiga_de – folgt uns zahlreich!
So, und jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, denn es gibt viel zu tun in so einem Start Up!
++++++++ UPDATE ++++++++++
Unsere Pressekonferenz am 16.09.2016 war ein voller Erfolg. Wir konnten uns über viele Berichte in diversen Medien freuen, erhalten immer noch neue Anfragen und viel ermutigendes Feedback von Menschen aus ganz Deutschland. Der Leidensdruck durch mangelnde Internetgeschwindigkeit ist einfach hoch.
Unsere Pressemappe kann man inzwischen auf https://www.opengiga.de/ herunterladen.
Pressespiegel zum Unternehmensstart:

 

Mein Nachtrag zur Anne Will Sendung "Kippt die Stimmung gegen Flüchtlinge?"

Am 31.01.2016 war ich zu Gast bei Anne Will, wo darüber debattiert wurde, ob denn nun die Stimmung gegen Flüchtlinge gekippt sei oder nicht. Der aktuelle Aufhänger waren pauschale Hausverbote von Nachtclubs in Freiburg und Schwimmbädern an anderen Orten für Flüchtlinge, nachdem es dort vereinzelte Übergriffe gegeben hatte.
Die ganze Sendung kann man übrigens HIER anschauen. Die Gäste waren:

  • Jens Spahn, CDU, Finanz-Staatssekretär
  • Dieter Salomon, Oberbürgermeister Freiburg, Mitglied der Grünen
  • Mehmet Daimagüler, Nebenklägeranwalt im NSU Prozess
  • und ich selbst…

Wie immer ging die eine Stunde Debattenzeit viel zu schnell vorbei, wie immer gab es ein paar Eigendynamiken, die jede Gesprächsstrategie unterminieren können – wie der zeitweilig lustige Dialog zwischen Daimagüler und Spahn, in dem sie nicht recht wußten, ob sie sich jetzt duzen oder siezen sollten. Ich empfehle das siezen, da ist das Kritisieren einfacher und da gabs einiges, denn Mehmet Daimagüler hat das Buch von Jens Spahn offenbar genauer gelesen, als es Letzterem lieb war, so ließ der eine dem anderen seine Ausflüchte nicht durchgehen und nagelte ihn immer wieder fest auf seine pauschalisierenden, Vorurteilsbeladenen Aussagen im eigenen Buch… Aber nicht davon wollte ich schreiben sondern von all den Dingen, die ich sagen wollte aber wozu es nicht kam.
Konsequenzen einer Abschottungspolitik ist einkalkulierter Tod von Flüchtlingen
Wichtig war mir z.B. darauf hinzuweisen, dass der ausgesetzte Familiennachzug (und diese ganze Obergrenzengeschichte) nichts anderes bedeutet, als ganz bewußt den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen – nur weil wir als reichstes Land Europas meinen, nicht mehr teilen zu wollen oder diffuse, pauschale Ängste vor „dem Fremden“ haben. Schon jetzt sind 55% der Flüchtlinge (Stand Mitte Januar 2016) Frauen und Kinder. Sie kommen jetzt vermehrt selbst über die lebensgefährliche Fluchtroute, weil der Familiennachzug immer unsicherer ist und sie lieber ihr Leben dabei riskieren, als es unter Faßbomben in der Heimat zu verlieren – fern von ihren Angehörigen. Auf der Flucht sind sie besonders gefährdet, vor allem Frauen und Mädchen sind unterwegs sexualisierter Gewalt und Mißbrauch ausgesetzt, sie werden von Menschenhändlern erpresst, ihre Lage ausgenutzt. Bei uns wird überall debattiert, wie sehr es uns doch vor allem auf den Schutz der körperlichen Unversehrtheit von Frauen ankommt.
Aber genaugenommen meinen die meisten dieser besorgten Debattierer, dass sie nur deutsche Frauen schützen wollen und auch die nicht gegen jede sexualisierte Gewalt sondern nur dann, wenn sie von Ausländern kommt… (den Eindruck muss man erhalten, wenn man in all den Jahren, wo Feminist*innen für eine Reform des steinzeitlichen Sexualstrafrechts kämpften, keinerlei Unterstützung aus diesen Reihen erhielt. Wo aus diesen, vor allem rechten Ecken, immer Angriffe gegen Femistinnen kamen, wo Frauen grundsätzlich nicht geglaubt wurde – weil ja z.B. Vergewaltigungen falsche Anschuldigungen seien…). Deshalb sind offenbar die Frauen und Kinder, die da unterwegs bei Eis und Schnee irgendwo zwischen Istanbul und Deutschland verrecken, „nicht unser Problem“. Dass die neu entstandenen „Frauenrechtler“ nicht wirklich für die Rechte von Frauen eintreten, bekommen die meisten Frauen immerhin mit, nur 2% Frauen wollen die AfD wählen aber 17% der Männer. Denkt mal darüber nach.
Mehr 10.000 Kinder sind auf dem Fluchtweg einfach verschwunden, mußten wir lesen in diversen Medien. Der Menschenhandel und Kindesmißbrauch blüht, weil wir nicht einmal Kindern einen sicheren Weg aus Kriegsregionen bieten können. Im 3. Reich wurden 50.000 Kinder aus Deutschland nach England durch die berühmten Kindertransporte vor den Nazis gerettet. Heute, 80 Jahre später, schaffen wir das nicht mehr, wir lassen selbst Kinder im Mittelmeer ertrinken. Ich möchte nicht den Eindruck hinterlassen, dass mir männliche Flüchtlinge gleichgültiger sind, ich hebe Frauen und Kinder hier nur deshalb hervor, weil sie in unserer Debatte immer so betont werden und damit deutlich wird, wie heuchlerisch hier argumentiert wird. Es geht (den meisten) NULL um Frauen und ihre Rechte oder ihre körperliche Unversehrtheit. Es geht um Besitzstände, Neiddebatten, Rassismus und das Ende von Menschlichkeit, Solidarität, der Würde des Menschen und dem Grundrecht auf Asyl bzw. dem Recht auf Schutz nach der UN Flüchtlingskonvention. Das hätte ich alles gern auch bei Anne Will gesagt.
Wo wir dabei sind: wo bleibt der Schutz weiblicher Flüchtlinge in Deutschland?
Deutschland hat die EU Aufnahmerichtlinie ratifiziert, die in Artikel 21 vorschreibt, dass Flüchtlinge mit besonderen Bedürfnissen zu identifizieren und ihren Bedürfnissen Rechnung zu tragen ist. Dazu gehören u.a. Minderjährige, Behinderte, Opfer von Gewalt und traumatisierte Flüchtlinge. Ich habe selbst Gemeinschaftsunterkünfte angeschaut, z.B. in Lehnitz bei Oranienburg, wo über 700 Menschen in 2 Häusern untergebracht sind, bald sollen es sogar 1000 Geflüchtete sein. Ich habe dort mit Frauen gesprochen und selbst die Sanitäranlagen besichtigt. Diese Frauen erzählten mir, dass sie nur nachts duschen, wenn alle anderen schlafen, in kleinen Gruppen, und nicht oft, denn sie hätten Angst in einem Duschraum, der nicht abschließbar ist und nicht einmal Kabinen hat. Man stelle sich vor, darunter sind auch Frauen, die bereits Opfer von Gewalt geworden sind. Niemand nimmt hier Rücksicht auf ihre besonderen Bedürfnisse. Was ist so schwierig daran, in großen Heimen einen Gang für Frauen und Familien einzurichten und andere Etagen für Männer? Warum ist es so unmöglich, abschließbare Duschräume als Standard für alle zu haben? Wer würde in einem Haus mit Gemeinschaftsduschen, in dem 350 vorwiegend wildfremde Menschen wohnen, duschen gehen, ohne abschließen zu können? Aber die weiblichen Geflüchteten und ihre körperliche Unversehrtheit interessieren kaum jemanden, schon gar nicht diejenigen, die sich gerade so lautstark für Frauenrechte engagieren.
Auch den Bedürfnissen von Kindern wird nur selten entsprochen. Kinder brauchen Gelegenheiten zum Spielen. In den von mir besuchten Gemeinschaftsunterkünften gab es nicht einen einzigen Raum zum Spielen. Es gab auch kaum Spielzeug. Die Kinder hielten sich in den endlos langen Fluren auf, auf dem nackten Linoleum und spielten dort mit einem einzigen alten Ball, oder sie rannten die trostlosen Treppen hoch und runter. Spenden sammeln für Spielzeug kann man ja, auch das schaffen wir als Freiwillige neben all den anderen Dingen, aber ein Raum muss der Betreiber stellen – und das passiert nicht.
Ja, es gibt viele Gründe, in Deutschland Angst zu haben – z.B. vor rechter Gewalt

Was leider auch nicht zur Sprache kam, waren die über 1000 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, darunter Brandanschläge, Sprengstoffanschläge, Schüsse. Über 900 davon laut BKA mit rechtem Hintergrund. Das von vielen aktuell beschworene Gewaltmonopol des Staates sehe ich auch in Gefahr, z.B. wenn ich in Freital/Heidenau mit anschauen muss, wie die Polizei sich auf der Nase herumtanzen läßt, von „besorgten Bürgern“ tagelang mit Molotowcoctails, Flaschen und Steinen beworfen wird und es passiert – nichts. Ich habe Angst um die Zukunft der Demokratie und all der kostbaren demokratischen Freiheitsrechte in Deutschland, wenn solche Kräfte weiter an Einfluss gewinnen. Ich habe Angst davor, eines Tages Schlagzeilen zu lesen, die von getöteten Flüchtlingen künden, weil wir sie nicht schützen konnten vor einem rechten, gewalttätigen Mob.
Und nun frage ich mich, wie viel Angst müssen Flüchtlinge haben, die ja auch die Nachrichten mitbekommen, wenn sie wissen, dass sie potenzielle Zielscheiben sind? Dass sie nun auch hier, wohin sie vor Krieg und Elend geflohen sind, bedroht werden und nicht ruhig schlafen können? Dass viele Menschen um sie herum sie pauschal für Vergewaltiger, Einbrecher, Diebe und sonstige Straftäter halten? Ich kenne Flüchtlinge, die selbst sagen, sie gehen jetzt nur noch zum Einkaufen raus, nicht mehr schwimmen, nicht mehr in die Disko. Sie haben Angst und sie wollen niemandem durch ihre bloße Präsenz Angst machen. Also isolieren sie sich selbst in ihrer Massenunterkunft. Das ist das Gegenteil von Integration und die Folge dieser Angstdebatte, gesteuert von Vorurteilen.
Der bisherige Gipfel ist die Diskussion um den Schießbefehl an deutschen Grenzen. Als ehemaliger DDR Bürgerin dreht sich da mein Magen um wie ein Propeller. WIE KANN MAN NUR?! Da ist es schon kaum noch eine Steigerung, wenn die Führungsspitzen der AfD da sogar noch einen drauf setzen und darüber streiten, ob man Frauen und Kinder auch erschießen soll oder doch nur die Frauen… So absurd das klingt, diese Partei hat aktuell 12% in Umfragen und Gewalt zum Verjagen von Flüchtlingen, die nach ein paar Tausend Kilometern Fluchtweg vor der deutschen Grenze stehen, finden auch bürgerliche Journalisten bürgerlicher Medien nachvollziehbar und konsequent. Ja, das macht mir Angst und zwar so richtig.
In einem Artikel (wenn ich ihn wiederfinde, verlinke ich ihn, ähnliches wird in diesem Interview mit einem Risikoforscher beschrieben) konnte man es neulich sehr schön lesen, warum viele von uns so viel Angst haben. Menschen gewöhnen sich an Risiken oder sie nehmen sie freiwillig in Kauf – dann haben sie weniger Angst davor, selbst wenn das Risiko ein tödliches sein kann. Autofahren ist riskant? Klar, aber wegen ein paar Tausend Toten im Jahr, werden wir ja wohl kaum die Mobilität einschränken wollen. Wir gewöhnen uns daran, das war ja schon immer so. Kann man machen nichts. Rauchen ist tödlich? Skifahren gefährlich? Ja, weiß man, aber scheiß drauf, man WILL rauchen oder skifahren oder was auch immer… ein freiwillig eingegangenes Risiko macht weniger Angst.
Was aber überproportional Angst macht, ist ein unbekanntes, neues, ein unfreiwilliges Risiko. Wenn ein solches Risiko wegen „YEAH! Neuigkeitswert!“ oder „Bürger wollen NOCH MEHR darüber wissen! Relevanz, Relevanz!“ unglaublich überproportional beschrieben und darüber berichtet wird, dann wirkt es noch größer, erzeugt noch mehr Angst und schon sind wir drin in einem Teufelskreislauf aus Panik, Angstmache und überproportionale Fokussierung. Wenn wir dann von dem Taschendiebstahl eines dunkelhäutigen Mannes in einer Tageszeitung lesen, die früher von den Hunderten Taschendiebstählen, die in der gleichen Stadt so jährlich passieren, nichts berichtet hat, entsteht der Eindruck: sieh mal an, ab jetzt wirds gefährlich in der Einkaufszone, laßt uns die Taschen fester packen und die Ausländer schnell wieder loswerden. Genau das gleiche im Freiburger Club, da zitieren Zeitungen eine junge Frau, die mit einem Ausländer nicht tanzen wollte, der aber trotzdem weiter mit ihr tanzte.
Die vielen Tausend Male, wo eine beliebige Frau mit einem beliebigen Typen in einer Disko nicht tanzen wollte und diese Klette trotzdem nicht los wurde, oder wo Frauen in Schwimmbädern verbal angemacht wurden, die standen in keiner Zeitung und haben auch nicht zu einer Debatte geführt, bestimmte Männergruppen (blonde? lockige? mit Sommersprossen?) vom Zugang zu Clubs oder Schwimmbädern auszuschließen. Das gleiche spielt sich ab bei jeder beliebigen Straftat, sei es nun versuchte oder vollzogene Vergewaltigung, verbale Belästigung oder anderes. Das sind alles verwerfliche Taten aber es sind IMMER verwerfliche Taten, egal, wer sie begeht. Sie sollten IMMER Aufmerksamkeit erhalten, egal wer der Täter ist, ausnahmslos. Und mal so ganz nebenbei: es gibt ein Antidiskriminierungsverbot und wir sind ein Rechtsstaat. Beides bedeutet, dass Sippenhaft und Ausgrenzung auf Basis z.B. von Herkunft oder Ethnie verboten sind. Wer Schandtaten begeht, gehört bestraft, aber individuell, nicht alle Angehörigen der gleichen Ethnie stellvertretend mit. Im übrigen hat sich auch das Opfer der versuchten Vergewaltigung von Freiburg in diese Richtung geäußert und selbst die Zutrittsverbote als „abscheulich“ gebranntmarkt.
Wenn wir uns der psychologischen Effekte der Bewertung von Risiken bewußter wären, könnten wir rationaler mit den Geschehnissen der Gegenwart umgehen. Weniger in Panik verfallen, weniger Angst haben, mehr nach Lösungen suchen und uns mehr auf die Risiken konzentrieren, die ein zu wenig an Integration verursacht. Die sind nämlich höchst real aber werden sich erst in der Zukunft zeigen, vielleicht erst in 10 oder 20 Jahren. Aber diese Risiken sind nicht in Stein gemeißelt, wir können sie beeinflussen und dramatisch verringern, wenn wir es wollen und wenn wir daran arbeiten.
#wirmachendas – den vielen Macher*innen eine Stimme und ein Gesicht geben
Das machen ja schon Hunderttausende in Deutschland, unermüdlich, jeden Tag. Es werden auch nicht weniger. Aber wie Mehmet Daimagüler anmerkte – es sind die stillen, die man daher weniger wahr nimmt. Sie labern halt nicht. Sie machen einfach. Sie verplempern ihre Zeit nicht wie die lauten Besorgten mit wütenden Protesten auf virtuellen und analogen Plätzen sondern engagieren sich für eine bessere Integration, mit Deutschkursen, Begleitung zu Behörden, mit Spendensammeln und Verteilen, mit Rechtsberatung, mit kreativen Lösungen für anstehende Probleme (schaut mal die eigenen 14 Wände an!)  und auf unendlich vielen Wegen mehr. Damit sie endlich sichtbarer werden und der verquere Eindruck, die Mehrheitsmeinung sei eine ablehnende etwas gerade gerückt werden kann, haben 100 Frauen aus Wissenschaft, Kunst, Kultur, Medien und öffentlichem Leben die Initiative #wirmachendas gegründet. Ich bin eine dieser 100 Frauen und kann nur empfehlen, unsere Seite einmal zu besuchen und sich inspirieren zu lassen, von der Motivation und Kreativität der Allianz der Willigen, die es massenhaft in Deutschland gibt. Diese Initiative wächst gerade zur Bewegung, an der sich immer mehr Einheimische und Neuankömmlinge, Institutionen und Netzwerke, Frauen und Männer engagieren. Weil eine gemeinsame gute Zukunft für uns alle möglich ist – wenn wir unsere Energien darauf lenken.
Das alles hätte ich also auch gerne noch gesagt, nun hab ich stattdessen aufgeschrieben.

Auch ich bin eine Flüchtlingstochter

Die Initiative #bloggerfuerfluechtlinge hat Blogger*innen dazu aufgerufen, in der Flüchtlingsfrage Stellung zu beziehen, um Deutschland nicht den Rassisten und Menschenfeinden zu überlassen. Sie rief auch dazu auf, für Flüchtlingsprojekte zu spenden – mehr als 15.000 € sind schon zusammengekommen. Ich schließe mich diesem Aufruf gern an, habe schon gespendet und würde mich freuen, wenn noch viele mitmachen und damit ein Zeichen für Menschlichkeit setzen.
Spenden geht einfach über Betterplace: https://www.betterplace.org/de/fundraising-events/bloggerfuerfluechtlingei
Viele Blogger haben in den letzten Tagen und Wochen über ihre eigene Flüchtlingsherkunft geschrieben (z.B. hier und hier und hier). Sie machen damit deutlich, welchen Beitrag Menschen mit Migrationshintergründen leisten – oft ohne, dass ihr Hintergrund bekannt ist. Viele Menschen, die sich Gedanken machen, ob mehr Flüchtlinge ein Problem für unsere Gesellschaft darstellen, haben vielleicht nicht nur keine Ahnung von den tatsächlichen Fakten (Menschen mit Migrationshintergrund zahlen z.B. mehr in unsere Sozialsysteme ein als sie daraus erhalten) sondern schlicht auch keine Vorstellung davon, wie viel Kreativität und Potenzial diese Menschen mitbringen und wie bereichernd das für unser Land ist.
Deshalb hier auch meine Geschichte, die die Geschichte meiner Eltern ist, denn auch ich bin eine Flüchtlingstochter.
Die Vorfahren meiner Mutter verließen zwischen 1815 und 1820 Baden Württemberg und Sachsen, da Zarin Katharina Einwanderern aus Deutschland Land und ein besseres Leben versprach. Gerade unter den Bauern gab es damals sehr viel Armut. Also machten sich meine Vorfahren auf den langen und beschwerlichen Weg nach Russland, an das Schwarze Meer, wo sie in der Gegend von Kishinjow die Region Bessarabien besiedelten – zusammen mit vielen anderen Deutschen, die man heute Wirtschaftsflüchtlinge nennen würde, denn verfolgt wurden sie in der Heimat nicht. Sie wollten einfach ein besseres Leben für sich und ihre Familien. Aber so einfach war es dann doch nicht. Allein der Weg dorthin dauerte aufgrund schwieriger Umstände für einige der Auswanderer mehrere Jahre und kostete viele Menschenleben. Vor Ort war auch alles schwerer als erwartet. Die erste Generation deutscher Einwanderer wurde nicht alt, mein ausgewanderter Ur-Ur-Großvater Gottlob Weise starb mit 42, seine Frau Anna Gross im Alter von 43 Jahren.
Sie überstanden Mißernten, Überschwemmungen, Erdbeben und immer wieder auch einen Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit (Bessarabien war mal russisch, mal unabhängig, mal rumänisch, dann wieder russisch. Heute gehört ein Teil zur Ukraine, ein anderer zu Moldawien). Man lebte daher vielsprachig, baute kleine Städte und Gemeinden auf und trieb Handel weit über die Grenzen Bessarabiens hinaus.

Meine Mutter als Baby, 1935, in Bessarabien mit ihren Eltern und dem älteren Bruder Kuno

Meine Mutter als Baby, 1935, in Bessarabien mit ihren Eltern und dem älteren Bruder Kuno


Dort, in der kleinen Stadt Tarutino, Kreis Akkerman, wurde meine Mutter 1935 geboren. Sie hat mir sehr oft von Bessarabien erzählt, obwohl sie schon als 5-jährige ihre Heimat verlassen mußte. Der 2. Weltkrieg tobte seit Jahren. Dem Hitler-Stalin-Pakt folgend, wurde Bessarabien von seinen deutschen Siedlern geräumt, alle Häuser, Weinberge, Tiere, Schulen, Fabriken und Scheunen zurückgelassen. Meine Mutter floh mit zwei Brüdern und meinen Großeltern „heim ins Reich“, und landete nach zweijähriger Odysee über Auffanglager im Clausthal-Cellerfeld (Harz) und Hagenbüchach (Bayern) 1940 in Bromberg, dem heutigen Bydgoszcz, in Polen.  
Der Familie wurde als Wohnort ein Gutshaus zugewiesen, aus dem vorher Polen vertrieben worden waren. Als selbst Vertriebene fanden sie das schlimm, denn sie konnten deren Leid sehr gut nachvollziehen. Eine Wahl hatten sie jedoch nicht, denn eine andere Wohnalternative gab es für sie nicht. Aber der Krieg kam bekanntlich auch dorthin, so hieß es im bitterkalten Januar 1945, kurz nach ihrem 10. Geburtstag, wieder nur das Allernötigste einpacken und als erneut Vertriebene eine dritte Heimat weiter westlich zu suchen. So kam meine Mutter erst nach Mecklenburg-Vorpommern, nach Friedrichshof bei Bützow, und ihre Familie später – noch vor dem Mauerbau – wieder nach Baden-Württemberg, wo sehr viele Verwandte aus Bessarabien Zuflucht in der Gegend ihrer Vorfahren gefunden hatten. Meine Oma und mein Opa sind daher in Stuttgart begraben. Zur Zeit des Mauerbaus studierte meine Mutter in Leipzig, diesem Zufall ist es zu verdanken, dass sie als einziges Mitglied ihrer ausgedehnten Familie in der DDR lebte.
Meine Mutter und ihre Familie wenige Jahre nach der Flucht in Friedrichshof, Mecklenburg-Vorpommern

Meine Mutter und ihre Familie wenige Jahre nach der Flucht in Friedrichshof, Mecklenburg-Vorpommern


Dort traf sie 1965 meinen Vater, der ebenfalls eine Flüchtlingsgeschichte hat. Mein Vater heißt Wolfgang Domscheit- Domscheit ist ein typisch ostpreussischer Name. Er hat eigentlich litauische Wurzeln und bedeutet „Sohn des Thomas“. Vielleicht ist er verwandt mit dem ostpreussischen Maler Franz Domscheit, ein Deutsch-Litauer, der sich auf litauisch Pranas Domšaitis nannte. Er war ein seinerzeit anerkannter Expressionist, Schüler von Lovis Corinth und arbeite mit Künstlern wie Emil Nolde zusammen. Für die Nazis waren seine Werke „entartete Kunst“, er floh aus Nazideutschland nach Österreich und von dort nach Südafrika, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Vielleicht ist die Namensgleichheit zufällig, wir werden es wohl nie erfahren, denn der Krieg hat alle Dokumente vernichtet.  Mein Vater wurde 1934 in Königsberg als zweites von vier Kindern geboren. Er verbrachte dort 10 Jahre seines Lebens und hat sehr lebhafte Erinnerungen an diese Zeit.

Meiner Vater in der 1. Klasse in Königsberg, Ostpreussen – mit seiner Schiefertafel


Der Vater kämpfte irgendwo, die junge Mutter mit vier Kindern wurde im Umland der Stadt, in Abschwangen (Tischino) in Sicherheit gebracht, als sich die Warnungen vor Bombenangriffen mehrten. Von dort sahen sie alle miteinander entsetzt, wie sich ihre Heimatstadt in der Ferne durch massive Bombenangriffe Ende August 1944 in ein Feuermeer verwandelte. Die Front rückte außerdem immer näher, die junge Familie mußte fliehen – eine 31 jährige Frau mit Kindern im Alter zwischen 5 und 11 Jahren.
Meine Großmutter mit ihren vier kleinen Kindern noch in Königsberg - 1941

Meine Großmutter mit ihren vier kleinen Kindern noch in Königsberg – 1941


Mein Vater hat mir viel von der Flucht und den Strapazen erzählt, vom Hunger und von den seltsamen Gerichten, die man zubereitete, weil es nichts anderes gab. Einige davon hat er uns später als Kindern mal gekocht, damit wir uns besser vorstellen konnten, wie es für ihn war. Den Mehlpamps (Mehl in heißes Wasser aufgekocht) hat er für uns zwar mit Butter und Zucker verfeinert, aber eklig blieb es doch. Auch den Spinat aus Brennesseln fand ich nur mäßig lecker. Die Flucht durch Kriegsgebiete war beschwerlich und gefährlich. Es ist eine ungeheure Leistung und wohl auch eine ordentliche Portion Glück, dass alle fünf überlebten. Sie landeten in der späteren sowjetischen Besatzungszone, als Vertriebene ohne Heimat. Ich wuchs auf mit den Geschichten meiner Eltern über Krieg, Flucht und Vertreibung, über die Trauer nach der verlorenen Heimat, über Hunger, Leid und Elend. Meine Eltern haben beide aus ihrer Geschichte vor allem viel Emphatie für das Leid Dritter geschöpft. Beide sind außerdem ausgeprägte Pazifisten. Meine Mama ist im Mai gestorben – hätte sie noch erlebt, was heute Flüchtlingen in Deutschland mancherorts an Hass entgegenschlägt, sie hätte sich furchtbar aufgeregt.
Aber meine Eltern haben mir mehr mitgegeben als (zugegeben spannende) Gruselgeschichten und eine ebenfalls ausgeprägt pazifistische Überzeugung. So wuchs ich zwar in Brandenburg auf, aber mit einem Vater, der die besten Königsberger Klopse der Welt kochen konnte und einer Mutter, deren Küche eine sehr leckere Mischung aus Schwarzmeer- und Schwabenküche umfaßte und wo es mal einen russischen Borschtsch oder Ikra (einen Brei aus gerösteten Auberginen) gab oder eben Spätzle, Dampfnudeln und Apfelstrudel (da macht meine Schwester den besten, durch ihren dünnen,  handgezogenen Teig konnte man Zeitung lesen!). An Heiligabend gab es immer den roten Kartoffelsalat, der Möhren und Rote Beete enthielt und den heute Gäste auf meinen Parties sehr schätzen.
mit meiner Familie 1975 in Brandenburg (ein Bruder ist nicht im Bild, ich bin die kleinste, ganz links)

mit meiner Familie 1975 in Brandenburg (ein Bruder ist nicht im Bild, ich bin die kleinste, ganz links)


Meine Mutter hat ihre alte Heimat nie wieder gesehen. Mein Vater ist vor wenigen Jahren das erste mal wieder in Königsberg – heute Kaliningrad gewesen. Viel steht nicht mehr von dem, was Königsberg einmal ausmachte, aber er erkennt noch Vieles und es bleibt die Stätte seiner Kindheit.
Mein Vater wurde erst Stellmacher, besuchte dann in der DDR die Arbeiter und Bauern Fakultät, um Abitur zu machen und studierte anschließend Medizin. Er wurde Arzt und praktizierte bis weit über sein 70. Lebensjahr hinaus. Meine Mutter war Sängerin und Kunsthistorikerin, sie schrieb mehrere Bücher. Beide hatten es schwer in ihrer Kindheit und Jugend. Beide mußten ihr Land verlassen und tausende Kilometer entfernt ein neues Leben beginnen. Beide haben auch Ablehnung als Flüchtlinge aus dem Osten kennengelernt aber auch viel Hilfsbereitschaft. Wenn sie nicht die Chance auf einen Neuanfang gehabt hätten, wären sie sich nie begegnet und mich würde es gar nicht geben. Für mich war es also im engsten Sinne des Wortes existenziell, dass meine Eltern als Flüchtlinge eine Zukunftsperspektive bekamen.
Ich kann das alles nicht vergessen, wenn heute wieder Flüchtlinge vor Krieg und Terror, vor Hunger und Elend Zuflucht in unserem großen und reichen Land suchen. Ich erinnere mich, wie ich als Kind meinen Vater erschrecken sah, wenn die Sirene einmal heulte oder ein Tiefflieger der NVA plötzlich über unser Haus donnerte. Ich konnte die Angst in seinen Augen sehen, die Angst, die er als Kind ausstand, wenn Bomber mit ihrer Todesladung im Anflug waren. Flüchtlinge aus Syrien haben den gleichen Terror erlebt, Todesangst ausgestanden und einen gefährlichen Fluchtweg hinter sich. Ich möchte, dass sie hier wieder Vertrauen und Sicherheit finden, ihre Angst überwinden und für sich und ihre Kinder ein Leben aufbauen können, das ihre kulturellen Wurzeln mit den vielfältigen Wurzeln unserer Gesellschaft vereint – vielleicht ja auch in Form von Kochgewohnheiten, die das Leckerste aus Syrien oder Afghanistan mit unserer Küche kombinieren.
Vielleicht ladet Ihr ja einfach mal ein paar Flüchtlinge zu Euch ein und kocht gemeinsam etwas Feines – jede*r ihr/sein Lieblingsgericht – und dann eßt Ihr es gemeinsam auf und erzählt Euch nebenbei Geschichten. Flüchtlinge sind nicht einfach nur Zahlen in der Tagesschau, es sind Menschen mit persönlicher Historie, mit Vorlieben und Leidenschaften, mit Interessen und Abneigungen. Gebt Euch die Chance, diese Menschen persönlich und vorurteilsfrei kennenzulernen und ihnen die Chance, eine andere Seite von Deutschland zu erfahren, als die düstere und Angst machende, die aktuell die Nachrichten beherrscht. Helft mit, Ihnen den Neuanfang nicht schwerer zu machen, als er ohnehin schon ist. Es gibt so viele Wege, Flüchtlingen hier bei uns zu helfen. Haltet Augen und Ohren und vor allem Euer Herz offen, dann werdet Ihr einen passenden Weg der Hilfe finden. Und solltet Ihr einfach so gar keine Zeit dafür haben – ganz oben im Text ist ja noch der Link zum Spenden 🙂 – jede noch so kleine Summe hilft und den Link weiter verbreiten, hilft auch.
Und bitte, stellt Euch jedem entgegen, der mit blindem Rassismus Flüchtlinge beleidigt, bedroht, oder angreift. Ich bin überzeugt davon, dass sich deshalb so viele Rassisten aus ihren Löchern trauen und ihre widerlichen Gewaltphantasien in die Tat umsetzen, weil sie glauben, dass sie damit die Meinung der (schweigenden) Mehrheit vertreten. Schweigen wir NIE, wenn wir so etwas miterleben und demonstrieren wir klar und deutlich, dass Rechtsextremismus keinen Platz in Deutschland hat und schon erst recht keinerlei Mehrheitsunterstützung. Der sogenannte „wehrhafte Staat“ besteht ja nicht nur aus Staatsanwaltschaft und Polizei, sondern aus uns allen, die wir Demokratie und Grundrechte nur gemeinsam erfolgreich verteidigen können.
Ein herzliches Dankeschön an alle, die sich auf welche Weise auch immer für Flüchtlinge engagieren und dem dumpfen Hass echte Menschlichkeit entgegensetzen!
Als Bonus (und weil ich sowieso dauernd danach gefragt werde) gibts hier das Rezept Bessarabischer Roter Kartoffelsalat:

  • Kartoffeln (schälen, kochen, würfeln)
  • Zwiebeln (schälen, würfeln)
  • Gewürzgurken (reichlich!, am besten die echten Spreewälder, würfeln, auch 2-3 Esslöffel von der Brühe zum Salat geben)
  • Möhren (schälen, im Ganzen bißfest kochen, würfeln)
  • Rote Beete (ich nehme die eingeschweißte vorgekochte Variante, Saft in die Salatschüssel geben – für mehr rote Farbe, Beete würfeln)
  • Mayonnaise (nicht zu viel)
  • Salz und frisch gemahlener Pfeffer (der Salat frißt recht viel Salz und v.a. Pfeffer)

Alles mischen, ziehen lassen, abschmecken, fertig. Am nächsten Tag schmeckt er noch besser. Mengenangaben kann ich nicht gut machen, ich messe da nie etwas und ich mache ohnehin immer Riesenportionen (z.B. 1 Sack Kartoffeln, 1 Beutel Biomöhren, 1-2 Pakete Rote Beete, ca. 10 Gewürzgurken – je nach Größe, 3 große Zwiebeln, ein paar Eßlöffel Salz-Pfeffer Mischung). Auf das Gramm kommt es nicht an, der Salat schmeckt eh immer lecker.

Update: Eine großartige Hilfsidee machen ReBuy, DRK und Hermes möglich: Ihr packt ein Paket mit Kinderkleidung, Kinderbüchern und/oder Spielzeug, druckt einen kostenfreien Versandaufkleber aus (hier: https://www.rebuy.de/s/drk-spendenaktion), bringt das Paket zum nächsten Hermes Paketshop und der liefert das Paket an das DRK, wo die Verteilung an Flüchtlinge übernommen wird. Einfacher geht helfen wirklich nicht!

 

Demokratie ohne freie Presse ist keine.

Auf der "Landesverrat" Demo am 01.08.2015 in Berlin. Bildrechte:  Sozialfotografie StR https://www.flickr.com/photos/sozialfotografie

Auf der „Landesverrat“ Demo am 01.08.2015 in Berlin. Bildrechte: Sozialfotografie StR https://www.flickr.com/photos/sozialfotografie


Immer weiter dreht sich die Spirale mit haarsträubenden Neuigkeiten rund um die Ermittlungen des (inzwischen ehemaligen) Generalbundesanwalts Range gegen zwei Journalisten des Politblogs Netzpolitik.org und ihre bisher unbekannte Quelle wegen Landesverrats. Landesverrat – die dickste und härteste Keule, die es gegen Journalisten gibt – Mindeststrafe: Ein Jahr Gefängnis.
Aktuell am irritierendsten ist der Umstand, dass vollständig intransparent ist, wann welche Behörden (und wer darin) was erfahren hat, wie und wann darauf reagiert wurde. Es gibt dazu ein verwirrendes Geflecht sich widersprechender Aussagen – mal aus der gleichen Behörde, mal von Behörden, die sich gegenseitig widersprechen. Als Bürger*in verliert man da sehr schnell den Überblick – so wie ihn längst alle Berichterstatter*innen auch verloren haben (eine Chronologie der Ereignisse findet sich auf Tagesschau.de). Die neueste Drehung der Spirale: nachdem das BMI erst öffentlich erklärte, nicht gewusst zu haben, dass sich die Landesverratsermittlungen gegen zwei Journalisten richteten, meldete die Tagesschau am 6.8.2015, das BMI hätte doch frühzeitig gewusst, gegen wen sich das Verfahren richtete. Wenige Stunden später das Dementi: Nein, so sei es doch nicht, nie hätte man verlautbart, keine Ahnung gehabt zu haben. Darin steckt die Aussage: ja, wir haben alles ganz genau gewusst, wochenlang, aber haben nichts dagegen getan, diesen Angriff auf die Pressefreiheit zu stoppen.
Nachdem der Generalbundesanwalt Range durch diese Affäre bereits seinen Job verlor, richtet sich nun folgerichtig das Augenmerk auf die anderen Beteiligten. Die Vermutung liegt nahe, dass er nur ein Bauernopfer war (67 Jahre alt, ein paar Monate vor dem Ruhestand ein verschmerzbares Opfer), von dem sich die Regierungskoalition erhofft, dass es reicht, die aufgebrachte Medienlandschaft zu beruhigen und die Grundrechtsaktivisten wieder von der Straße zu bringen.
Aber das sollte ihr hoffentlich nicht gelingen, denn viel zu offensichtlich trägt Harald Range nur einen Teil der Verantwortung, vermutlich nicht einmal den größten. Da steht an erster Stelle der Präsident des Amtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, der die Ermittlungen anstieß. Er steuerte auch gleich noch ein Gutachten bei, in dem wenig überraschenderweise stand, dass die Veröffentlichung des Haushaltes des Verfassungsschutzes auf der Plattform Netzpolitik.org sehr wohl der Verrat eines Staatsgeheimnisses sei, geeignet dem Staat schweren Schaden zuzufügen.
Ihm folgt der Innenminister Thomas de Maizière, der dessen Behörde – wie wir ja nun genauer wissen – von den Landesverratsermittlungen frühzeitig in Kenntnis gesetzt wurde und sie auch klar billigte. Der Dritte im Bunde ist Justizminister Heiko Maas, der zwar den GBA Harald Range nach öffentlichem Schlagabtausch entließ, der aber auch erst konsequent aktiv wurde, als die Sache durch Netzpolitik selbst ans Tageslicht geriet und einen Sturm der Entrüstung hervorrief. Was genau in den Wochen davor passierte, in denen auch Heiko Maas informiert war, weiß auch wieder keiner so genau, denn Maas spricht von deutlichem Abraten, Range kann sich nur an wage Hinweise erinnern, keinesfalls an eine ernsthafte Warnung und an deutliche Zweifel.
Wie viele andere wüsste ich gern, was da genau gelaufen ist und ob unser Justizminister die Pressefreiheit auch dann vehement verteidigt hat, als noch nicht jeder dabei zuschaute. Ich habe deshalb über www.fragdenstaat.de eine Anfrage an das Bundesjustizministerium gestellt, mit der Bitte um Herausgabe der Kommunikation zwischen dem GBA und Heiko Maas (siehe: https://fragdenstaat.de/anfrage/kommunikation-zwischen-heiko-maas-bjm-und-gba-runge-zu-landesverrat-ermittlungen-gg-netzpolitik/). Ich bin gespannt auf die Antwort, die offenbar auf anderen Wegen nicht erhältlich ist.
Aber neben einer Aufklärung des gesamten Sachverhaltes, sehe ich noch eine ganze Menge weiteren Handlungsbedarf:
1) Die Ermittlungen gegen Netzpolitik müssen endlich eingestellt werden!
Immer noch stehen zwei Journalisten in einem Ermittlungsverfahren wegen Landesverrat, sie gelten mithin als potenzielle Landesverräter. Dieser Zustand ist schnellstmöglich zu beenden und zwar begleitet von einer unmissverständlichen Entschuldigung der Bundesregierung wegen dieses falschen Verdachtes.
2) Jede Überwachung von Netzpolitik.org und seinen Mitarbeiter*innen ist einzustellen, vorhandenes Material ist zu löschen.
Journalist*innen können ihrer Arbeit nicht frei nachgehen, wenn sie überwacht werden. Die Überwachung von Journalist*innen führt zu einem nachgewiesenen “Chilling Effekt”. Sie stellt einen massiven Eingriff in die Pressefreiheit dar – einen Eingriff, der nicht in eine Demokratie gehört. Ergebnisse eventueller Überwachung von Netzpolitik Mitarbeiter*innen sind sofort zu löschen.
3) Endlich her damit: Whistleblowerschutzgesetz
Mehrfach gab es schon Anläufe für ein Whistleblowerschutzgesetz im Bundestag, jedes Mal erfolglos. Aber in Zeiten, in denen es mehr denn je offensichtlich ist, dass die Öffentlichkeit und selbst das Parlament wichtige Informationen über Fehlentwicklungen in einer Demokratie über Whistleblower erfahren haben, muss ihre Kriminalisierung ein Ende haben. Nicht Einschüchterung von Whistleblowern, wie es dieses unsägliche Verfahren darstellt, sondern ihre Ermutigung und rechtliche Absicherung ist durch ein demokratisches Rechtssystem umzusetzen. Leider geht der Trend bisher in die falsche Richtung. So enthält der Gesetzentwurf zur Vorratsdatenspeicherung einen Passus zur “Datenhehlerei”, der sich prima für die Kriminalisierung von Whistleblowern eignet. Sehr lesenswert zum Thema ist dabei der Text “Whistleblowing und ziviler Ungehorsam im demokratischen Verfassungsstaat” des ehemaligen Bundesrichters Dieter Deiseroth aus Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2014, S.4-9.
4) Diskurs über Überwachungsmaßnahmen des Verfassungsschutzes
Erinnern wir uns daran, worum es im Fall “Landesverrat” eigentlich ging: Netzpolitik.org hatte den Haushalt des Amtes für Verfassungsschutz veröffentlicht, aus dem hervorging, dass mehrere Millionen Euro in die massenhafte Überwachung sozialer Netze investiert werden sollen (siehe: https://netzpolitik.org/2015/geheimer-geldregen-verfassungsschutz-arbeitet-an-massendatenauswertung-von-internetinhalten/ und https://netzpolitik.org/2015/geheime-referatsgruppe-wir-praesentieren-die-neue-verfassungsschutz-einheit-zum-ausbau-der-internet-ueberwachung/). An der Verfassungsmäßigkeit dieser Art von Überwachung durch einen Inlandsgeheimdienst bestehen jedoch große Zweifel, da sie ebenfalls einen enormen Eingriff in demokratische Grundrechte bedeutet. Gerade solche Entscheidungen bedürfen daher eines intensiven Diskurses – einer parlamentarischen und einer breiten gesellschaftlichen Debatte. Erst jetzt, wo wir diese Informationen haben, können wir überhaupt eine solche Debatte führen – ohne Whistleblower, ohne die Quelle von Netzpolitik.org hätte es nie dazu kommen können, auch deshalb ist Forderung 3 so wichtig. Aber bei aller Diskussion um den Vorgang der Landesverratsermittlung sollten wir den Auslöser inhaltlich nicht aus den Augen verlieren. Wir sollten uns immer dessen bewusst sein, dass die Kombination von Massenüberwachung mit einer Einschränkung der Pressefreiheit eine geradezu archetypische Charakteristik eines undemokratischen Staatssystems ist. Wir müssen beide dieser gefährlichen Medaillenseiten gleichermaßen bekämpfen, wenn wir unsere Demokratie behalten wollen.
5) Verfolgung des Spionageverdachts gegen ausländische Geheimdienste durch Generalbundesanwalt
Der neu eingesetzte Generalbundesanwalt sollte seine Energie – anders als sein Vorgänger im Amt – nicht zur Verfolgung von Whistleblowern und Journalisten einsetzen sondern endlich in der Sache Spionageaufklärung aktiv werden. Range hat dazu immer wieder erklärt, ihm fehlten die Beweise für Ermittlungen nach Anfangsverdacht, selbst die Hinweise auf die Überwachung des Handys der Bundeskanzlerinnen fand er nicht ausreichend. Dieses eklatante Ungleichgewicht in der Behandlung von Verdachtsfällen, diese unerträgliche Unterpriorisierung der Massenüberwachung eines ganzen Landes durch einen fremden Geheimdienst sowie der offensichtliche Einsatz von Wirtschaftsspionage, muss endlich einer selbstbewussten Aufklärung weichen. Diese überfällige Ermittlung muss auch die Verwicklung deutscher Behörden und Geheimdienste in den NSA Skandal aufdecken.
6) Reform der Rechtsnormen rund um den “Landesverrat”
Der Strafbestand “Landesverrat” ist ein Relikt des Kalten Krieges, in der Form hat er sich heute überlebt. Diesbezügliche Rechtsnormen sind daher dahingehend zu überarbeiten, dass sie keine Handhabe mehr darstellen, die Pressefreiheit einzuschränken. Ein Fall wie die Ermittlung gegen Netzpolitik.org darf sich nicht wiederholen.
Kurz gefasst: es gibt noch viel zu tun. Verteidigen wir gemeinsam die hohen Ansprüche an die gelebte Demokratie in unserem Land und wiederholen unsere Forderungen, solange bis sie umgesetzt sind.
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Blog von Demokratie Plus.
Nachträgliche Konkretisierung: Bundesinnenminister de Maizière ließ erklären, dass er selbst tatsächlich erst aus der Presse von den Ermittlungen erfahren hätte. Insofern konnte er das Ermittlungsverfahren auch nicht persönlich billigen. Etliche Beamte seines Hauses hatten jedoch wochenlang Kenntnis und auch keinerlei Probleme mit den Ermittlungen gegen die beiden Journalisten. Der Bundesminister trägt natürlich trotzdem die Verantwortung für seine Behörde, für ihre Fehlentscheidungen als auch dafür, dass ihre Mitarbeiter*innen nicht in der Lage waren, Prioritäten zu erkennen und ihn über so wichtige Vorkommnisse zu informieren.

Ab heute im Handel: Mein neues Buch "Ein bisschen gleich ist nicht genug!…"

Medienberichte zur Frauenquote Es ist schon ein besonderes Gefühl, ein Manuskript endlich als Buch im Laden zu sehen. Heute ist es soweit: mein zweites Werk „Ein bisschen gleich ist nicht genug! Warum wir von Geschlechtergerechtigkeit noch weit entfernt sind“ (Heyne) ist in der Welt.
Das Timing hätte nicht besser sein können, gestern erst hat der Bundestag einstimmig (!) das Gesetz zur Frauenquote beschlossen und damit Geschichte geschrieben, morgen ist der Internationale Frauentag, vor wenigen Tagen ging Ministerin Manuela Schwesig mit ihrer Transparenzinitiative zur Bekämpfung von geschlechtsbezogenen Gehaltsunterschieden an die Öffentlichkeit. Medien sollten sich ja immer für ein gesellschaftliches Thema von so großer Relevanz interessieren. Aber zum Mediengeschäft gehört, dass anlaßbezogen berichtet wird. Anlässe gibt es derzeit genug – gut für das Buch, das so zu seinem Start eine große Aufmerksamkeit genießt, und gut für die Sache.

Buchcover "Ein bisschen gleich ist nicht genug..." 7. März 2015, Heyne

Buchcover „Ein bisschen gleich ist nicht genug…“ 7. März 2015, Heyne


Ich habe zum Buchstart eine Seite mit Hintergrundinformationen freigeschaltet, in der ich viele Links, Zahlen, Daten und Fakten sammele, um Interessierten die Möglichkeit zu geben, Behauptungen an ihrer Datenquelle selbst nachprüfen zu können, eigene Schlussfolgerungen zu ermöglichen und insgesamt eine sachlichere Debatte zu unterstützen, die weniger von Emotionen und mehr von belastbaren Erkenntnissen getrieben ist. Ich freue mich über Empfehlungen hat für passende Links o.ä., die diese Seite weiter vervollständigen können. Einfach per Kommentar oder über die Kontaktseite.
Auf einer weiteren Seite sammele ich die Stimmen zum Buch, so ist schon ein großes Interview bei Neues Deutschland erschienen, wurde mein Buch in der großen Spiegel-Reportage zum Gehaltsunterschied zitiert, und brachte der österreichische Standard eine Buchrezension. Eine ganze Reihe Radiotermine und mehrere im TV habe ich entweder schon hinter mir – oder noch vor mit. Details und Links nach Nachhören/Nachsehen gibts auf der erwähnten Seite. Presseanfragen bitte auch über meine Kontaktseite oder direkt über den Verlag.
Noch ein letzter Hinweis: Am Montag abend, 09.03.2015, 20:30 Uhr, findet in Berlin mein Buchpremierenevent statt. Details dazu gibt es HIER.

 

"Gesetzliches Unrecht" vs "ungesetzliches Recht" – Edward Snowden beantwortet Fragen auf Reddit

In der Nacht vom 22. auf den 23. Februar 2015 werden in den USA die Oscars vergeben. Gewinnerin in der Kategorie Dokumentarfilm wird Laura Poitras mit „Citizenfour“, einer faszinierenden Doku, die die Enthüllungen von Edward Snowden zum NSA Überwachungsskandal begleitete. Der Film ist kostenfrei im Netz erhältlich. Wer das Geld dafür hat, sollte jedoch dafür sorgen, dass es auch bei den Macher*innen ankommt oder zumindest an eine NGO spenden, die sich für deren Ziele einsetzt.

Am 23. Februar gab es einen AMA (ask me anything) auf reddit  von Laura Poitras, Glenn Greenwald und Edward Snowden. Dieses AMA ist sehr lesenswert, am spannendsten fand ich die folgende Frage von masondog13,:

What’s the best way to make NSA spying an issue in the 2016 Presidential Election? It seems like while it was a big deal in 2013, ISIS and other events have put it on the back burner for now in the media and general public. What are your ideas for how to bring it back to the forefront?

Ich finde diese Frage deshalb wichtig, weil sie auch auf uns übertragbar ist. Es ist eigentlich die generische Frage, wie man das Thema generell wieder auf die höchste politische Tagesordnung heben kann. Es gibt darauf mehrere Antworten und eine intensive Debatte. Hier ist die Antwort von Glenn Greenwald, sie bezieht sich noch sehr stark auf US Politik, aber auch auf Deutschland läßt sie sich anwenden, denn auch bei uns sind vor allem die Führungsspitzen beiden Großparteien untätig und wäre es an der Zeit, ihnen massiv das Vertrauen zu entziehen:

The key tactic DC uses to make uncomfortable issues disappear is bipartisan consensus. When the leadership of both parties join together – as they so often do, despite the myths to the contrary – those issues disappear from mainstream public debate.
The most interesting political fact about the NSA controversy, to me, was how the divisions didn’t break down at all on partisan lines. Huge amount of the support for our reporting came from the left, but a huge amount came from the right. When the first bill to ban the NSA domestic metadata program was introduced, it was tellingly sponsored by one of the most conservative Tea Party members (Justin Amash) and one of the most liberal (John Conyers).
The problem is that the leadership of both parties, as usual, are in full agreement: they love NSA mass surveillance. So that has blocked it from receiving more debate. That NSA program was ultimately saved by the unholy trinity of Obama, Nancy Pelosi and John Bohener, who worked together to defeat the Amash/Conyers bill.
The division over this issue (like so many other big ones, such as crony capitalism that owns the country) is much more „insider v. outsider“ than „Dem v. GOP“. But until there are leaders of one of the two parties willing to dissent on this issue, it will be hard to make it a big political issue.
That’s why the Dem efforts to hand Hillary Clinton the nomination without contest are so depressing. She’s the ultimate guardian of bipartisan status quo corruption, and no debate will happen if she’s the nominee against some standard Romney/Bush-type GOP candidate. Some genuine dissenting force is crucial.
Edward_Snowden-2-CCBY3-wikicommons

„Edward Snowden-2“ von Laura Poitras / Praxis Films. Lizenziert unter CC BY 3.0 über Wikimedia Commons – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Edward_Snowden-2.jpg#mediaviewer/File:Edward_Snowden-2.jpg


Viel interessanter finde ich die Antwort von Edward Snowden, denn sie greift den immer wieder entstehenden Grundwiderspruch zwischen gesetzlichem Unrecht und ungesetzlichem Recht auf. Diese Beschreibung einer inneren Pflicht, dem eigenen moralischen Kompass zu folgen, auch wenn dies Verstöße gegen aktuell geltendes Recht bedeutet, ist auf jedes Land und jede Zeit übertragbar. Seine Beispiele aus der Geschichte reichen von Extremen wie dem Naziregime und der Sklaverei bis zu weniger plakativen Rechtsbrüchen, etwa gegen das Mariahuana-Verbot – in all diesen Fällen zeigen Geschichte oder Gegenwart, wie sich Recht verändern kann, auch und gerade durch zivilen Widerstand.
Sein Appell, dass eine staatliche Allmacht solchen zivilen Widerstand künftig im Keim ersticken und damit die eigene Veränderungsfähigkeit des Staates im Kern gefährden kann (und wird), richtet sich an uns alle. Er beschreibt eindringlich, warum unter bestimmten Rahmenbedingungen ziviler Ungehorsam zur Pflicht wird. Nachfolgend die Antwort von Edward Snowden im Wortlaut:

This is a good question, and there are some good traditional answers here. Organizing is important. Activism is important.
At the same time, we should remember that governments don’t often reform themselves. One of the arguments in a book I read recently (Bruce Schneier, „Data and Goliath“), is that perfect enforcement of the law sounds like a good thing, but that may not always be the case. The end of crime sounds pretty compelling, right, so how can that be?
Well, when we look back on history, the progress of Western civilization and human rights is actually founded on the violation of law. America was of course born out of a violent revolution that was an outrageous treason against the crown and established order of the day. History shows that the righting of historical wrongs is often born from acts of unrepentant criminality. Slavery. The protection of persecuted Jews.
But even on less extremist topics, we can find similar examples. How about the prohibition of alcohol? Gay marriage? Marijuana?
Where would we be today if the government, enjoying powers of perfect surveillance and enforcement, had — entirely within the law — rounded up, imprisoned, and shamed all of these lawbreakers?
Ultimately, if people lose their willingness to recognize that there are times in our history when legality becomes distinct from morality, we aren’t just ceding control of our rights to government, but our agency in determing thour futures.
How does this relate to politics? Well, I suspect that governments today are more concerned with the loss of their ability to control and regulate the behavior of their citizens than they are with their citizens‘ discontent.
How do we make that work for us? We can devise means, through the application and sophistication of science, to remind governments that if they will not be responsible stewards of our rights, we the people will implement systems that provide for a means of not just enforcing our rights, but removing from governments the ability to interfere with those rights.
You can see the beginnings of this dynamic today in the statements of government officials complaining about the adoption of encryption by major technology providers. The idea here isn’t to fling ourselves into anarchy and do away with government, but to remind the government that there must always be a balance of power between the governing and the governed, and that as the progress of science increasingly empowers communities and individuals, there will be more and more areas of our lives where — if government insists on behaving poorly and with a callous disregard for the citizen — we can find ways to reduce or remove their powers on a new — and permanent — basis.
Our rights are not granted by governments. They are inherent to our nature. But it’s entirely the opposite for governments: their privileges are precisely equal to only those which we suffer them to enjoy.
We haven’t had to think about that much in the last few decades because quality of life has been increasing across almost all measures in a significant way, and that has led to a comfortable complacency. But here and there throughout history, we’ll occasionally come across these periods where governments think more about what they „can“ do rather than what they „should“ do, and what is lawful will become increasingly distinct from what is moral.
In such times, we’d do well to remember that at the end of the day, the law doesn’t defend us; we defend the law. And when it becomes contrary to our morals, we have both the right and the responsibility to rebalance it toward just ends.
Auch viele der Kommentare lohnen die Lektüre. Unter anderem zitiert Pimpson17 Martin Luther King aus einem seiner Briefe (Gefängnis Birmingham):

„How can you advocate breaking some laws and obeying others?“ The answer lies in the fact that there are two types of laws: just and unjust. I would be the first to advocate obeying just laws. One has not only a legal but a moral responsibility to obey just laws. Conversely, one has a moral responsibility to disobey unjust laws. I would agree with St. Augustine that „an unjust law is no law at all.“

Edward Snowden antwortet auch auf eine Frage nach der Glaubwürdigkeit Rußlands hinsichtlich geheimdienstlicher Kommunikationsüberwachung mit einer allgemeingültigen Antwort. Lest selbst:

To tag on to the Putin question: There’s not, and that’s part of the problem world-wide. We can’t just reform the laws in one country, wipe our hands, and call it a day. We have to ensure that our rights aren’t just being protected by letters on a sheet of paper somewhere, or those protections will evaporate the minute our communications get routed across a border. The only way to ensure the human rights of citizens around the world are being respected in the digital realm is to enforce them through systems and standards rather than policies and procedures.

Da hat er einen Punkt. Das heißt nicht, dass wir nicht für Policies und Procedures und natürlich ihre Einhaltung kämpfen sollten, aber ein Schutz, der technisch garantiert wird, ist vermutlich verläßlicher und auf jeden Fall nicht nur innerhalb bestimmter Landesgrenzen gewährt. Nationales Recht bietet keinen ausreichenden Schutz mehr in einer grenzüberschreitenden, digitalen Gesellschaft.
Allerdings hat Ed Snowden manchmal auch mehr Fragen als Antworten. Etwa wenn es darum geht, warum von staatlicher Seite so wenig gegen die ausufernde Überwachung passiert. Snowdens Kernaussage: Wenn wir mächtige politische Entscheider nicht für ihren Machtmißbrauch verantwortlich machen (können), enden wir in einer Gesellschaft, wo solches Verhalten NACH den Wahlen belohnt wird:

One of the biggest problems in governance today is the difficulty faced by citizens looking to hold officials to account when they cross the line. We can develop new tools and traditions to protect our rights, and we can do our best to elect new and better representatives, but if we cannot enforce consequences on powerful officials for abusive behavior, we end up in a system where the incentives reward bad behavior post-election.
That’s how we end up with candidates who say one thing but, once in power, do something radically different. How do you fix that? Good question.
Ich kann hier natürlich nicht das ganze, sehr umfangreiche AMA wiedergeben, aber eine gute Frage plus Antwort müssen hier noch rein. Nutzer kingshav wollte wissen:

Mr Snowden, do you feel that your worst fear is being realized, that most people don’t care about their privacy?

Diese Frage stellen wir uns ja alle, auch in Deutschland und oft können wir in Medien lesen: ja, die Überwachung interessiert kein Schwein mehr. Edward Snowden sieht das anders, es ist den Menschen nicht egal, aber sie tun momentan nichts, weil sie sich ohnmächtig fühlen. Aber er sieht Licht am Horizont und eine fundamentale Veränderung kommen. Folgerichtig ist auch seine Bewertung der Gesamtlage eine andere. Sie ist erstaunlich optimistisch und unterscheidet sich daher nennenswert von den vielen pessimistischen Untergangszenarien, die für unsere Freiheit bereits allenhalben beschrieben werden. Sie ist ein gutes Ende für diesen Blogpost, denn auch ich glaube an die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, Freiheit und Privatsphäre auch in einer digitalen Gesellschaft erfolgreich zu verteidigen bzw. zurückzuerobern. Hier seine Antwort im Wortlaut:

To answer the question, I don’t. Poll after poll is confirming that, contrary to what we tend to think, people not only care, they care a lot. The problem is we feel disempowered. We feel like we can’t do anything about it, so we may as well not try.
It’s going to be a long process, but that’s starting to change. The technical community (and a special shoutout to every underpaid and overworked student out there working on this — you are the noble Atlas lifting up the globe in our wildly inequitable current system) is in a lot of way left holding the bag on this one by virtue of the nature of the problems, but that’s not all bad. 2013, for a lot of engineers and researchers, was a kind of atomic moment for computer science. Much like physics post-Manhattan project, an entire field of research that was broadly apolitical realized that work intended to improve the human condition could also be subverted to degrade it.
Politicians and the powerful have indeed got a hell of a head start on us, but equality of awareness is a powerful equalizer. In almost every jurisdiction you see officials scrambling to grab for new surveillance powers now not because they think they’re necessary — even government reports say mass surveillance doesn’t work — but because they think it’s their last chance.
Maybe I’m an idealist, but I think they’re right. In twenty years‘ time, the paradigm of digital communications will have changed entirely, and so too with the norms of mass surveillance.
Laßt uns alle Idealisten sein und daran glauben, denn nur wenn man eine mögliche Vision vor dem inneren Auge sehen kann, findet man die Kraft für sie zu kämpfen. Wer jedoch keine Hoffnung mehr hat, wird auch nicht kämpfen, und wer nicht kämpft, hat bekanntlich schon verloren. Es ist noch nicht zu spät, etwas dafür zu tun, dass unser aller Zukunft keine schwarze wird.

Buchpremiere "Ein bisschen gleich ist nicht genug…" – 09.März 2015, Berlin

Buchcover "Ein bisschen gleich ist nicht genug..." 7.März 2015, Heyne

Buchcover „Ein bisschen gleich ist nicht genug…“


Endlich ist es soweit! Mein zweites Buch kommt am 7.3.2015 in den Handel und natürlich gibt es auch eine Premierenveranstaltung dazu 🙂

*** Buchpremiere ***

Wann: 09. März 2015, 20:30 Uhr
Wo: Buchhändlerkeller, Carmerstrasse 1, Berlin-Charlottenburg (U-Bahn Reuterplatz, S-Bahn Zoologischer Garten sind nah, Bus gibts auch)
Was: Lesung aus meinem Buch „Ein bisschen gleich ist nicht genug! Warum wir von Geschlechtergerechtigkeit noch weit entfernt sind“
anschließend:
Debatte mit Isabell Welpe, Lehrstuhlleiterin BWL-Strategie und Organisation der TU München (Wikipediaeintrag) und Tatjana Turanskyj, Filmregisseurin, Filmproduzentin, Drehbuchautorin und Schauspielerin sowie Mitgründerin von Pro-Quote Regie (Wikipediaeintrag, Blog). Die Debatte wird moderiert von Ulrike Demmer, stellvertretende Leiterin des FOCUS-Hauptstadtbüros, Henry Nannen Preisträgerin und Co-Autorin beim faz Blog Ich. Heute. 10 vor 8.
Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, Fragen zu stellen, Feedback zu geben und ein signiertes Buch zu erwerben :-). Die Teilnahme an der Veranstaltung ist kostenfrei. Der Hashtag für Twitterfreund*innen ist #bisschengleich.

  • Kurzinformationen zum Buch findet Ihr HIER.
  • Die Verlagsankündigung mit Bezugsmöglichkeiten und Leseprobe gibt es HIER.
  • Pünktlich zum Buchstart gibts HIER eine Seite mit jeder Menge Links zu Hintergrundinformationen.
  • Medienreaktionen gibt es HIER.

Ich freue mich auf viele Besucher*innen!
PS: Wer es nicht nach Berlin schafft, aber vielleicht bei der Buchmesse in Leipzig ist, der/die kann mich dort auch hören:
Buchmesse Leipzig, 13.03.2015:

  • 13.30 – 14 Uhr, Literaturforum Halle 3 “buch aktuell”
  • 16.30 – 17 Uhr, LVZ-Arena
  • 21 Uhr, Stadtbibliothek Leipzig

Weitere Termine, wie Lesungen und dergleichen, finden sich wie gewohnt auf meiner Terminübersichts-Seite. Für Anfragen einfach die Kontaktseite nutzen.

Jahresrückblick – für mich selbst

Immer wenn es wieder einmal Dezember wird, frage ich mich, wie ein Jahr denn schon wieder so schnell vergehen konnte und was ich denn so damit angestellt habe. Dieser Jahresrückblick ist daher keine Auswertung dessen, was in der übrigen Welt so passiert ist, sondern mein ganz persönlicher Rückblick auf dieses 2014 und meine Arbeit in dieser Zeit.
Ich habe viel geschrieben, zum Beispiel ein Buch.
Im Januar 2014 kam mein erstes Buch in die Welt: „Mauern einreißen! Weil ich glaube, dass wir die Welt verändern können.“ Es erschien bei Heyne, hatte Vorabdrucke in Die ZEIT und der FAZ, wurde in vielen Medien freundlich besprochen (siehe HIER für einen Überblick) und bescherte mir Lesungen in der ganzen Republik, die stets von lebendigen Debatten gefolgt wurden. Meine gelernte Erfahrung: ich kann gut vorlesen und sowohl ich als auch das Publikum haben etwas davon. In dem Buch geht es um diverse einzureißende Mauern, es kommt auch die deutsch-deutsche Mauer darin vor, die ich noch als Studentin in der DDR erlebt habe. Weil durch die Kombination aus Überwachungsskandal (NSA, BND und so weiter) und Mauerfall-Jubiläum das Interesse an den „Alten Zeiten“ hoch war, habe ich auch viele originale Unterlagen aus der Wende in der DDR hochgeladen.
Ich habe auch vor einem Vierteljahrhundert schon viel geschrieben – Tagebücher, Resolutionen, Manifeste…
Im Oktober / November 2014 habe ich meine alten Tagebuchnotizen des heißen Herbst 1989 veröffentlicht.  Aufgrund des hohen internationalen Interesses habe ich sie auch ins englische übersetzt. Diese Reihe an Veröffentlichungen hatte 7 Teile, sie sind alle im ersten Beitrag dazu verlinkt – deutsche Fassung HIER und englische Fassung HIER.
Obwohl ich das Buchschreiben als insgesamt anstrengenden Prozess empfunden habe (das Schreiben geht schnell, aber das Kürzen und Überarbeiten ist die Hölle!), habe ich es nicht lassen können und gleich ein zweites Buch  hinterher geschrieben. Das hat mich den ganzen Sommer und Herbst 2014 beschäftigt. Mein zweites Buch heißt „Ein bisschen gleich ist nicht genug. Warum wir von Geschlechtergerechtigkeit noch weit entfernt sind.“ und wird Anfang März 2015 ebenfalls bei Heyne erscheinen. Ich glaube, jetzt brauche ich aber doch eine Pause vom Bücher-schreiben.
Man nennt mich jetzt häufiger Publizistin, wohl weil ich öfter mal was schreibe, was man dann veröffentlicht lesen kann, hier einige Artikel, die in 2014 erschienen:

Als unverbesserliche Missionarin ihrer Ideen und Überzeugungen schreibe ich nicht nur, ich rede und debattiere auch viel, im Radio, auf Konferenzen, in Talkshows, hier ein kleiner Überblick über ein paar Termine aus 2014 (Aufzeichnungen finden sich in der Regel auf YouTube):

  • Markus Lanz (09.07.2014) – Thema Überwachung, Freiheit versus Sicherheit, gemeinsam mit meinem Mann Daniel
  • Maybrit Illner (17.07.2014) – Thema Überwachung, NSA, BND, u.a. mit Altmaier und Konstantin v. Notz
  • Maybrit Illner (11.09.2014) – Thema Shareconomy, Internet – u.a. mit Jeremy Rifkin
  • Münchner Runde (04.11.2014) – Thema 25 Jahre Mauerfall
  • Anne Will (05.11.2014) – Thema Bodo Ramelow und Thüringen – ein Linker MP – ist Deutschland schon so weit? (offenbar JA)

Gefühlt habe ich eine zillion Interviews gegeben, zu allen möglichen Themen, hier und da erschienen auch Portraits von mir, hier mal eine Auswahl:

Auch international gab es viel Nachfrage, vor allem rund um das Mauerfalljubiläum, hier ein paar davon:

Das Mauerfall-Jubiläum hat mich emotional sehr aufgewühlt, so viele Erinnerungen kamen hoch (siehe die Tagebücher und Originaldokumente). Gleichzeitig wurde durch das allgemeine und positive Gedenken an den Mauerfall die Widersprüchlichkeit noch krasser zwischen der Glorifizierung von „Fluchthelfern“ in der DDR Zeit und der Kriminalisierung von „Schleusern“, die in der Gegenwart Menschen auf der Flucht dabei helfen, die kranken Grenzanlagen rund um Europa (sie kosten Milliarden Euro!) zu überwinden. Ich habe mir dazu etwas von der Seele geschrieben, als mein Mann an einer Aktion des Zentrums für politische Schönheit teilnahm, um die Europäischen Außengrenzen einzureißen.
Ja und dann gab es noch die Piraten… kurz vor dem 04. Januar 2014 ließ ich mich dazu überreden, mich als Kandidatin der Piratenpartei für die Europawahlen anzubieten – auf dem Aufstellungsparteitag am 4.1. in Bochum wurde ich dann auf Platz 3 der Piraten-Europaliste gewählt. Es folgten wilde Wahlkampfmonate. Eigentlich war ich vom Bundestagswahlkampf noch ganz platt, da war ich erst ein paar Monate vorher auf Listenplatz 2 in Brandenburg als Kandidatin angetreten. Ich war außerdem Landesvorsitzende der Piratenpartei in Brandenburg, was auch eine Menge Arbeit bedeutete. Am 23.5.2014 war dann auch nicht nur die Europawahl sondern auch Kommunalwahl in Brandenburg. Der Wahlkampf war aufregend, ausbrennend, gleichzeitig er- und entmutigend. Ich kam überall in Deutschland herum, hatte auch beim Flauschwahlplakat-Guerillastricken an all meinen Wahlkampforten viel Spaß, lernte jede Menge großartiger Pirat*innen kennen aber auch Widerstand, Angriffe, #keinhandschlag Vertreter*innen und anderes, das mich sehr frustrierte. Die Wahlen waren leider nicht sehr erfolgreich, aber immerhin zog mit Julia Reda eine Piratin in das Europaparlament, die dort schon jetzt einen beeindruckenden Job macht. Für sie hat sich jede Minute Wahlkampfstress schon gelohnt.  Dennoch entwickelte sich die Piratenpartei als Ganzes in Deutschland in eine für mich nicht mehr erträgliche Richtung, deshalb bin ich im September 2014 ausgetreten und habe 2,5 Jahre Piratendasein für mich beendet. Meine Gründe habe ich HIER erklärt.
Das war mein Jahr im Schnelldurchlauf. Ich habe ganz sicher viel vergessen, für Bilder reicht die Zeit jetzt auch nicht mehr (vielleicht füge ich sie später ein), denn ich bin auf dem Sprung zum letzten Highlight in diesem Jahr – dem 31. Kongress des Chaos Computer Clubs: #31C3. Auf dem weltgrößten Hackerkongress werden sich dieses Jahr über 8.000 Menschen treffen, über Überwachung, Selbstschutz, 3D Drucker, Copyright, Informationsfreiheit, TTIP und vieles andere diskutieren. Ich freue mich darauf, dort wieder Freunde von überall her zu treffen und dort auch wieder eine Guerillastrickaktion zu machen, zum 4. mal in Folge (HIER kann man ein paar Bilder vom 29C3 sehen).
Ach ja, die Kunst – auch dieses Jahr habe ich wieder Umwelt verschönert, nach dem Spitzenbaum in Himmelpfort gab es dieses Jahr einen Spitzenbaum in Fürstenberg/Havel. Dazu folgt ganz bestimmt bald ein Bild!
 

Erster Europäischer Mauerfall – das würdigste Gedenken zum 25. Mauerfall-Jahrestag

Das Zentrum für Politische Schönheit wird am 9. November 2014 den Ersten Europäischen Mauerfall inszenieren, als Kunstaktion an der „größten Bühne der Welt“ – an den europäischen Außengrenzen.

„Während in Berlin Ballons in die Luft steigen und nostalgisch-sedierende Reden gehalten werden, wird die deutsche Zivilgesellschaft in einem Akt politischer Schönheit die europäischen Außenmauern zu Fall bringen.“ (Zentrum für Politische Schönheit)

Was haben denn deutsche Mauertote, die beim Verlassen eines Landes (der DDR) getötet wurden, zu tun mit Menschen, die beim Betreten einer Landesgrenze in die andere Richtung zu Tode kommen? Sterben beim Ausreisen ist doch überhaupt nicht vergleichbar mit Sterben beim Einreisen! Ü.B.E.R.H.A.U.P.T. N.I.C.H.T. Sagen jedenfalls ganz viele und, dass ein Vergleich der mehr als 23.000 Toten an Europas Grenzen in den letzten 14 Jahren mit den vermutlich mindestens 138  Maueropfern, (andere Quellen nennen über 1000 Tote), die in den 28 Jahren der deutsch-deutschen Mauer ums Leben kamen, sich verbietet – weil es das Gedenken an die letzteren verunglimpft, oder DDR Unrecht verharmlost.

Mein Mann Daniel Domscheit-Berg kurz vor dem Aufbruch zum Ersten Europäischen Mauerfall am Gorki-Theater Berlin, 7.11.2014

Mein Mann Daniel Domscheit-Berg kurz vor dem Aufbruch zum Ersten Europäischen Mauerfall am Gorki-Theater Berlin, 7.11.2014


Ich kann mit dieser Kritik nichts anfangen. Die Argumentation ist mir schleierhaft. Welchen Unterschied macht es für einen Menschen, wenn er oder sie beim Ein- oder Ausreisen an einer Grenze stirbt? Welchen Unterschied macht es für die Hinterbliebenen? Ist nicht in beiden Fällen eine Einschränkung der Reisefreiheit ursächlich für das Lebensrisiko beim Grenzüberschreiten? Ist nicht in beiden Fällen der Wunsch nach einem besseren Leben (nach in allen Fällen sehr individueller Interpretation dessen, was das jeweils bedeutet) die Motivation für den Mut, es trotz Lebensgefahr einfach zu versuchen?
Natürlich weiß ich, dass die Berliner Mauer ein perfides Konstrukt war, um die Bevölkerung einzusperren. Ich war eine der Eingesperrten und ich finde nichts daran verharmlosungswürdig. Aber für mich gibt es keine mehr oder weniger wichtigen Grenztoten. Ich finde JEDEN Tod an einer Grenze nicht nur unnötig sondern zutiefst unmenschlich und absolut unvereinbar mit dem Artikel 1 unseres Grundgesetzes, das sich bekanntlich nicht nur auf deutsche Staatsangehörige bezieht. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jedes Menschen. Die Art und Weise, wie die europäischen Außengrenzen „gesichert“ werden, ist eine extreme Verletzung der Würde von Menschen, die aus unhaltbaren Zuständen fliehen, um woanders ein würdevolleres Leben führen zu können. Hunger, Krieg und bittere Armut verjagen sie aus ihrer Heimat. Zustände, an denen der Reichtum der westlichen Teil einen sehr großen Teil zu verantworten hat. Unsere Antwort darauf ist eine Grenzkonstruktion, die durch ihr Design und das verwendete Material nicht nur Unüberwindbarkeit als Ziel hat, sondern offenbar auch schwere Verletzungen bis hin zum Tod – um abzuschrecken.
Ein Stück Natostacheldraht am Gorki-Theater, vor dem Start der Busse zum Europäischen Mauerfall

Ein Stück Natostacheldraht am Gorki-Theater, vor dem Start der Busse zum Europäischen Mauerfall


Mit Verlaub, ich finde das widerlich. Ich schäme mich dafür, wieder in einem Land – als Teil der Europäischen Union – zu leben, in dem man ganz bewußt in Kauf nimmt, das Menschen, die aus Not von woanders her fliehen, an unseren Grenzen sterben. Ich könnte kotzen bei der Vorstellung. Leider ist das aber tägliche Realität. Ja, jeden Tag sterben Menschen an unseren Grenzen – WEGEN dieser Grenzen. Während der Lektüre dieses Textes ist vielleicht jemand im Mittelmeer ertrunken, weil das Fluchtboot nur eine Nußschale war oder ein Grenzbewacher mit Gummigeschossen auf Flüchtlinge schoss. Oder es stürzte jemand an der spanischen Außengrenze beim Versuch den 7 meter hohen Zaun zu überklettern in den Nato-Stacheldraht, der mit geschliffenen Metallschneiden besetzt ist,  oder auf die andere Seite in ein Drahtgeflecht, wo zusätzlich reizende Flüssigkeiten aus automatischen Spritzanlagen am danach stehenden, fast 6 meter hohen Zaun in die offenen Wunden dringt. Das ist keine Fantasie. Solche haarsträubenden Zustände herrschen wirklich an den Außengrenzen unserer demokratischen Europäischen Union. Wir investieren sogar Millionen in den Ausbau dieser tödlichen Konstrukte.
schematische Darstellung der "Grenzsicherungsanlagen" bei Melilla, Spanien. Quelle: Zentrum für Politische Schönheit

schematische Darstellung der „Grenzsicherungsanlagen“ bei Melilla, Spanien. Quelle: Zentrum für Politische Schönheit


Ich finde es daher völlig angemessen und eine besonders gute Art des Mauerfall-Gedenkens vom Zentrum für Politische Schönheit, sich nicht nur der Nostalgie hinzugeben und davon zu schwärmen, wie großartig es war, durch Widerstand der Massen und diverse glückliche Umstände für 16 Mio DDR Bürger*innen die Freiheit zu erringen und die Mauer einzureißen sondern aus der Geschichte für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen und das Gelernte auf das Leben zu übertragen.

Eine solche Lektion heißt: tödliche Grenzen sind unmenschlich und mit demokratischen Grundwerten nicht vereinbar, sie gehören eingerissen.

Erster Europäischer Mauerfall - YouTube Film des Zentrums für Politische Schönheit (with engl. subtitles)

Erster Europäischer Mauerfall – YouTube Film des Zentrums für Politische Schönheit (with engl. subtitles)


Das Argument: „aber dann kommen doch Abermillionen Afrikaner*innen!!!EinsElf!! und was machen wir dann?!“ kann ich nicht gelten lassen, denn wie schon zitiert, die Würde des Menschen ist unantastbar. Immer. Man tötet einfach nicht. Niemanden. Nicht direkt aber auch nicht indirekt. Wenn wir dazu beitragen, dass woanders das Leben nicht mehr lebenswert ist, und Menschen deshalb Strapazen auf sich nehmen, um ihre Heimat zu verlassen, dann sollten wir uns endlich einmal aufrichtig fragen, wie wir das ändern können. Wir wir unser Leben so leben können, dass nicht unseretwegen woanders Not und Armut herrschen anstatt immer noch tötlichere Grenzanlagen zu bauen, damit auch ja die Ärmeren alle draußen bleiben.
Die westliche Welt verursacht den größten Anteil des Klimawandels, aber die dadurch ausgelösten Katastrophen haben vorwiegend Menschen in anderen, ärmeren Ländern zu ertragen. Wir exportieren die Waffen, mit denen in allen Kriegs- und Konfliktgebieten dieser Welt Menschen getötet werden. Wir kaufen die Billigjeans, die in Bangladesh in brüchigen Fabriken unter finstersten Bedingungen genäht werden. Wir verschenken die Blumen, die in Lateinamerika mit soviel Gift gezüchtet werden, dass dort die Schwangeren ihre Babies verlieren. Wir tanken den Biosprit, für den Ackerflächen gebraucht werden, auf denen früher Nahrungsmittel wuchsen, die jetzt andernorts fehlen. Wir tragen goldene Ringe und telefonieren mit Handies, an denen das Blut von Kindern klebt, die die dafür notwendigen Rohstoffe aus der Erde kratzen. Diese Liste ist leider beliebig lang fortsetzbar.
Eindringliche, wunderschöne Musik gabs am Gorki-Theater zum Start der Aktion Europäischer Mauerfall, der auch Start des Festivals Voicing Resistance war

Eindringliche, wunderschöne Musik gabs am Gorki-Theater zum Start der Aktion Europäischer Mauerfall, der auch Start des Festivals Voicing Resistance war


Wir sind ohne eigenes Zutun an der günstigeren Stelle der Welt geboren worden und meinen daraus ableiten zu können, dass wir mehr Wert sind und einen höheren, gewissermaßen naturgegebenen Anspruch auf die Reichtümer dieser Welt haben. Aber so ein Denkansatz ist purer Egoismus, er führt in gerader Linie zu den Grenzanlagen der EU-Außengrenzen. Wer von Euch würde einem Hungernden die Schale Essen wegnehmen oder einer Verdurstenden die Flasche Wasser aus der Hand schlagen? Wer würde ein Kind zurück in die Schußlinie zwischen verfeindeten Rebellen schubsen? Niemand mit Herz würde das fertig bringen. Aber diese Grenzanlagen haben das gleiche Ergebnis. Mit dem komfortablen Nebeneffekt, dass wir die Not nicht mehr sehen müssen und unsere Hände in Unschuld baden können. Dass wir nachts schön in unseren weichen und sauberen Betten schlafen können, weil uns nicht die Bilder der Hungernden, Durstenden und Traumatisierten verfolgen, die wir ausgestoßen und sich selbst überlassen haben. Wir schließen wie kleine Kinder die Augen und denken, dann ist das Problem nicht mehr da. Aber wir sind groß und wissen, dass das Unsinn ist. Das Problem ist da. Es einfach aussperren führt leider nie zu einer Lösung.
Kein Mensch ist illegal... Aufnahme vom Start zum Ersten Europäischen Mauerfall am Gorki-Theater Berlin, 7.11.2014

Kein Mensch ist illegal… Aufnahme vom Start zum Ersten Europäischen Mauerfall am Gorki-Theater Berlin, 7.11.2014


Wir müssen endlich kreativer werden, unsere enormen Ressourcen diesen Problemlösungen widmen und uns endlich daran erinnern, dass wir ALLE Menschen sind, die etwas verbindet, eine globale Empathie, ein Band aus Menschlichkeit. Würden wir gemeinsam an den Problemen dieser Welt arbeiten, wir hätten sie längst gelöst oder wären ihrer Lösung schon sehr nahe gekommen. Hunger ist kein Naturgesetz. Krieg auch nicht. Auch nicht Ebola.
Daran möchte ich an diesem 9. November, 25 Jahre nach dem Mauerfall gern erinnern. An die Notwendigkeit von Menschlichkeit, von Reisefreiheit und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Ich bin stolz auf alle, die die Idee mit dem Europäischen Mauerfall hatten und ihre Umsetzung durch Spenden ermöglichten (Spenden geht immer noch!)  und vor allem auf die, die die Risiken und Strapazen auf sich nahmen, mit zwei Bussen Tausende von Kilometern zurückzulegen, um mit Bolzenschneidern in einer Zweiten Friedlichen Revolution dem unmenschlichen Bollwerk zuleibe zu rücken. Mein Mann ist einer dieser Reisenden. Ich hoffe, er und alle anderen kommt unbehelligt zurück.
Ausschnitt ZDF Aspekte vom 7.11.2014

Ausschnitt ZDF Aspekte vom 7.11.2014 – im Bild einer der beiden Reisebusse, noch bewacht von Polizei, sowie Teilnehmende der Aktion Europäischer Mauerfall


Neben den neuen Mauern an Europas Außengrenzen gibt es noch viele andere Grenzen, an denen Menschen sterben. Egal ob in Mexiko, Israel oder Nordkorea: sie alle müssen weg.
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