Hinweis: Es gibt 2 Updates am Ende des Beitrages – vom 3. Januar und vom 5. März 2017.
Am 28. November 2016 nahm ich zum ersten Mal in meinem Leben an einem Gerichtsverfahren teil. Das war am Strafgericht Berlin Moabit und ich war die Angeklagte. Die Vorwürfe – zwei Körperverletzungen gegen Polizist*innen:
- einer Polizistin, die mir meinen Blumenstrauß entreißen wollte, soll ich beim „Tauziehen“ mit dem Blumenstrauß nebenbei eine kleine Kratzwunde am vorderen Glied ihres Zeigefingers zugefügt haben
- einem Polizisten soll ich mit einem umgedrehten Blumenstrauß mit dessen Stielen voran unter das Visir in sein Gesicht gestochen haben – dabei soll ich ihn an der Wange verletzt haben, oder doch am Kinn, oder am Hals, oder an der Nase – das ist nach seiner schriftlichen und mündlichen Aussage etwas unklar.
Beides habe ich jedoch nicht getan. Im übrigen soll ich einen dritten Polizisten mit einem hochgehaltenen Blumenstrauß beim Filmen der Demonstranten behindert haben. Zum Ablauf des Verfahrens werde ich ausführlicher nach dem Verfahrensabschluss berichten. Wer wissen will, wie schräg es dabei zu ging, kann den Artikel im Neuen Deutschland darüber lesen, der nach Verhandlungstag 1 erschien. Der Text trägt den zutreffenden Titel:
„Polizist weiß nicht mehr, wie Domscheit-Berg ihn verletzte“
Einen Eindruck vom Verfahren geben auch die Live Tweets des Zentrums für Politische Schönheit, die jemanden zur Prozessbeobachtung geschickt hatten. Ich habe sie mit einigen anderen Tweets über das Gerichtsverfahren in einem storify zum Nachlesen gesammelt. Neben etlichen Journalist*innen war auch MdB Norbert Müller vor Ort und schüttelte seinerseits den Kopf über das Verfahren bzw. die Aussagen der Zeugen der Anklage.
Hat Rainer Wendt schon Blumenschutzausrüstung für die Berliner Polizei gefordert? – überschrieb Metronaut seine Berichterstattung.
Am 15.12.2016 soll es weiter gehen, ab 14:15 Uhr im Kriminalgericht Berlin Moabit, Turmstrasse 91, Raum 572. Mit etwas Glück ist die Sache dann ausgestanden. Ich rechne mit einem Freispruch – aufgrund der Beweislage – aber man kennt das ja, vor Gericht und auf hoher See…, also drückt ruhig Eure Daumen, man weiß ja nicht.
Nachfolgend meine Stellungnahme, wie ich sie am 28.11.2016 zum Auftakt des Verfahrens vorgelesen habe (Bilder für diesen Blog ergänzt):
Am Samstag, dem 20. Juni 2015, war Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen, der seit 2001 begangen wird. In jenem Jahr hatte die Anzahl von Menschen auf der Flucht eine Rekordmarke seit dem 2. WK erreicht. Fast 60 Millionen Menschen hatte ihre Heimat aufgrund von Konflikten, Kriegen und Verfolgung verlassen müssen. Davon zählen nach Genfer Flüchtlingskonvention knapp 20 Millionen Menschen als Flüchtlinge. Noch nie hatte das UNHCR mehr Geflüchtete verzeichnet. Die meisten Menschen flohen nicht nach Europa, sondern in die Türkei, nach Pakistan, Libanon, in den Iran, nach Äthiopien oder Jordanien. Ein Großteil Geflüchteter blieb auf der Flucht im eigenen Land. Aber für viele blieb nur die Flucht in die Ferne. Viele zog es nach Europa, wo es Frieden gibt und eine Chance auf Zukunft. Aber legale Wege gibt es nicht in die EU einzureisen, um in der EU das Grundrecht auf Asyl oder Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention zu beantragen.
Für 100€ gibt es Flugtickets von der Türkei nach Deutschland, wo viele der Geflohenen z.B. aus Syrien zuerst Schutz suchten. Aber die Türkei ist nicht erst seit ein paar Monaten ein undemokratisches Land. Geflüchtete wurden in unmenschlichen Arbeitsverhältnissen ausgebeutet, Kindern der Zugang zu Bildung verwehrt, Kranke bekamen Hilfe nur gegen Geld. Seit dem letzten Sommer habe ich mit sehr vielen Geflüchteten gesprochen, von denen über 30 im Laufe des vergangenen Jahres in meinem Haus vorübergehend Obdach fanden und die mir erzählten, warum sie erst in die Türkei und dann von dort weiter geflohen sind. „Fragt uns nicht, warum wir gekommen sind, fragt uns warum wir nicht in unserer Heimat bleiben konnten“ hat mir vor wenigen Tagen bei der Denkfabrik der Welthungerhilfe eine Migrantin gesagt. Ich habe selbst schon oft gefragt und höre immer wieder Geschichten, wie die von Kamal aus Nordsyrien, der genau in jenem Sommer 2015 den Entschluss fasste, den gefährlichen Weg über das Mittelmeer zu wagen. Er tat es, um das Leben seiner Frau und seiner 4 kleinen Kinder zu retten, eines davon war 2 Jahre alt und hat die Glasknochenkrankheit. Medizinische Betreuung gab es nicht mehr in seiner Heimat, für den kleinen Jungen war diese Situation auch ohne Bomben schon lebensgefährlich. Der junge Vater hat sein Leben auf dem Meer für die Zukunft seiner Kinder riskiert. Er hat überlebt und es zusammen mit seinem Bruder nach Griechenland und von dort bis nach Deutschland geschafft. Der Agraringenieur lebt in meiner Kleinstadt im Norden von Brandenburg, er spricht inzwischen fließend deutsch. Vor wenigen Wochen hat er endlich seine Frau und die 4 Kinder in Berlin Tegel abholen können und ist in eine Wohnung gezogen. Über eine Familienzusammenführung konnten sie den sichereren Weg nehmen und einfach in ein Flugzeug steigen.
Kamal und seine Familie hatten Glück. Aber viele andere nicht. Die meisten können sich die horrenden Kosten für die illegale Flucht gar nicht erst leisten, sie harren in Lagern mit menschenfeindlichen Lebensbedingungen ohne jede Perspektive aus. Andere verkaufen ihre Eheringe und alles, was sie haben, um den Schleppern in der Türkei einen Sitzplatz in einem hoffnungslos überfüllten Schlauchboot abzuringen.
Wenn sie Pech hatten, versagte der Motor auf hoher See, kippten Wellen das Boot und waren die Schwimmwesten gefälschte Ware, ohne lebensrettende Wirkung. Das passiert jeden Tag im Mittelmeer, im Sommer und im Winter, auch heute. Jeden Tag wird das Meer zu einem nassen Grab, in dem Geflüchtete in der Hoffnung auf ein Leben mit Zukunft jämmerlich ertrinken.
Ihren Namen kennt in den meisten Fällen niemand. Männer, Frauen, Kinder, Babies – versinken in den Fluten, wenn kein rettendes Schiff in der Nähe ist – laut Ärzte ohne Grenzen waren es in diesem Jahr im Durchschnitt 14 Menschen, jeden einzelnen Tag, die auf diese Weise starben. Ich bin in der DDR aufgewachsen. Ich habe mich als Kind entsetzt, wenn es zu Todesfällen an der deutsch-deutschen Grenze gekommen war. Mit meinem Menschenbild und einer humanitären Grundeinstellung ist nicht vereinbar, dass wir jedes Jahr den Tod Tausender verzweifelter Menschen billigend in Kauf nehmen, obwohl sie bei uns ein Bleiberecht nach der Verfassung und nach der Genfer Flüchtlingskonvention hätten.
Unsere europäischen Grenzen, die Grenzen der EU, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden ist, sind zur tödlichsten Grenze der ganzen Welt geworden. Diese Praxis ist schlicht menschenverachtend.
Aus diesem Grund bin ich vor einem Jahr dem Aufruf des Zentrums für Politische Schönheit gefolgt, mich an dem Marsch der Entschlossenen zu beteiligen, mit dem die Toten aus dem Mittelmeer symbolisch von der europäischen Außengrenze in das Herz Europas, mitten nach Berlin gebracht werden sollten. Das ZPS hat sich erhofft, dass wenn wir schon die verzweifelten Schreie der Lebenden nicht hören, dass wir vielleicht wenigstens die stumme Klage der Toten vernehmen können. Deshalb führte der Marsch der Entschlossenen auch in das politische Zentrum unserer Hauptstadt, Richtung Kanzleramt und Bundestag, damit wir stellvertretend für die Toten unsere Stimme erheben, so dass sie gehört werden von denen, die einen Einfluss darauf haben. Das ist für mich der Sinn einer Demokratie und der unmittelbare Zweck des Demonstrationsrechts.
Gemeinsam mit 5000 anderen Demonstranten wollte ich außerdem den an den EU-Außengrenzen Gestorbenen ihre Würde zurückgeben, ihrer wenigstens einmal öffentlich still und in unserer Mitte gedenken, ihnen einen Gedenkraum schaffen, wie wir ihn für unsere Toten auf einem Friedhof jederzeit finden können. Wenigstens temporär sollte es für die namenlosen Toten einen Ort der Trauer und des Gedenkens geben.
Ihre Angehörigen erfahren nie von ihrem Schicksal, es gibt für sie kein Grab, kein gemeinsames Erweisen von Respekt, keine Rede, keine Blumen, keine Kranzniederlegung und keinen Grabstein. Wenn ihre Leichen überhaupt je an ein Ufer gespült wurden, hat man sie in Mülltüten gestopft, in Kühlkammern wochenlang übereinander gestapelt und am Ende irgendwo in einem Massengrab verscharrt. Ihrer Menschenwürde sind sie beraubt selbst im Tod. In unserer Verfassung steht aber, die Würde des Menschen ist unantastbar. In unserer Verfassung steht nichts davon, dass nur die Würde deutscher Menschen oder von Staatsbürgern der EU unantastbar ist. Diese Verfassung ist auch meine Verfassung und ihr Leitgedanke ist auch der meine.
Deshalb haben mein Mann und ich im Juni 2015 beim Gärtner in unserer Stadt einen großen Kranz mit roten Rosen bestellt und auf die Seidenfahnen unser Gedenken an die ertrunkenen Geflüchteten im Mittelmeer geschrieben. Wir haben Blumensträuße gekauft, aus schmalen flachen Brettern kleine Kreuze gebaut und „Grenzen töten“ auf die Brettchen geschrieben. In einen kleinen Sack haben wir Erde aus unserem Garten eingefüllt und alles das am 21. Juni 2015 auf einem kleinen Rollwagen nach Berlin zur Demonstration mitgenommen. Für uns war das eine Beerdigungsfeier, also hat mein Mann seinen schwarzen Hochzeitsanzug angezogen und ich ein schwarzes Kleid und einen schwarzen Mantel darüber. Wir zogen mit der Demonstration durch die Innenstadt Berlins, friedlich und still. Kurz vor dem Kanzleramt hielt der große Zug an, wir standen im vorderen Drittel, in der Mitte des Zuges, als sich nach einigen Reden die Menge wieder in Bewegung setzte und rechts auf die Wiese des Platz der Republik abbog.
Wir sind dem Strom der Demonstranten gefolgt. Ich habe das Umwerfen eines Zaunes später auf Videos gesehen und kann mich nicht daran erinnern, ob wir über einen Zaun gelaufen sind oder für uns der Zugang frei war , das ist nichts, was ich mir besonders merken würde, weil in Berlin ja ohnehin viel herum liegt und ich einfach in einer größeren Menschenmenge gelaufen bin. Vor Ort habe ich auf der Wiese selbst einen Zaun Richtung Hauptbahnhof bzw. Paul-Löbe Haus und einen in Richtung Reichstagsgebäude wahrgenommen, das machte für mich auch einen gewissen Sinn, da man vielleicht vorsichtig war und den Schutz des Parlaments erhöhen wollte. Auf dieser Wiese habe ich schon oft demonstriert, es ist für mich neben dem Pariser Platz einer der häufigsten Orte für Kundgebungen und Demonstrationen. Ich habe dort vielfach gegen Überwachung demonstriert aber auch für die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen. Es ist ein natürlicher Ort direkt vor dem Parlamentsgebäude seine Meinung als Bürgerin zu äußern, auf dem „Dem deutschen Volke“ in Stein gemeißelt steht. Auch wenn ich vom Pariser Platz kommend zum Hauptbahnhof laufen wollte, bin ich zig Mal über diese Wiese gelaufen, ich kenne sie als frei zugänglichen öffentlichen Ort.
Neben uns her liefen viele Polizisten, alle in Richtung Reichstagsgebäude. Niemand von ihnen hat uns aufgefordert, stehen zu bleiben. Noch ein ganzes Stück vom Zaun vor dem Reichstagsgebäude entfernt, blieben mein Mann und ich stehen. Wir wollten ein symbolisches Grab anlegen, als temporäre Gedenkstelle und damit den anonymen Ertrunkenen eine letzte Ehre erweisen.
Über das daraufhin folgende Ausmaß völlig unbegründeter, willkürlicher Polizeigewalt war ich entsetzt und erschrocken. Ich hatte bisher persönlich keinerlei negativen Erfahrungen mit Polizisten gesammelt und war umso mehr erschüttert.
Ich wurde ohne Vorwarnung mehrfach von Polizisten getreten und geschubst. Dabei ging es auch immer wieder um meine Blumen. Polizisten schlugen immer wieder meinen Arm herunter und versuchten, mir den Blumenstrauß zu entreißen. Diese Blumen waren für mich längst zum Symbol geworden. Ein Symbol für die Ehrerbietung gegenüber den Toten, für die Trauer um die Toten und gegen die Gewalt, die von der Polizei ausgeübt wurde. Ich habe sie immer wieder verzweifelt hochgehalten, selbstverständlich nicht, um jemanden damit zu verletzen oder zu behindern, sondern als klares und deutliches Zeichen der Würde und Gewaltfreiheit.
Ich habe schon vor wenigen Jahren etwa Teile eines Panzers, der das KZ Ravensbrück befreit hat, in den Friedensfarben des Regenbogens eingestrickt und mit gehäkelten Blüten geschmückt. In die Mündung des Kanonenrohres steckte ich Blumen. In der Tradition der Flower Power Bewegung der 60er und 70er Jahre wollte ich damit dem Militärischen etwas zutiefst Friedliches und Harmloses entgegensetzen. Aus dem gleichen Grund habe ich ebenfalls vor einigen Jahren ein altes Militärflugzeug eingestrickt und ebenfalls mit vielen textilen Blumen besetzt. Ich habe selbst einmal Angewandte Kunst studiert und setze künstlerische Methoden ein, um mit symbolischen Mitteln meinen Überzeugungen wie in diesem Fall dem Pazifismus Ausdruck zu verleihen. Ich bin dabei nie auf Widerstand oder Ablehnung gestoßen. Fotos von meiner Strickaktion am Ravensbrücker Panzer sind inzwischen Teil der Dauerausstellung der Gedenkstätte Ravensbrück als moderne Form des Gedenkens.
Ich bin ein friedliebender Mensch, der zwar für seine Überzeugungen öffentlich eintritt, auch mit originelleren Aktionen, der aber nie Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung für sich akzeptiert hat.
Ich habe als friedliche Demonstrantin in feierlicher Kleidung, weithin erkennbar an meinem roten Hut an der Demonstration „Die Toten Kommen“ teilgenommen. Ich habe dort für mich völlig überraschend Polizeigewalt erlebt und meiner Erschütterung darüber in mehreren Interviews noch vor Ort auf der Wiese gegenüber verschiedenen Medien Ausdruck verliehen. Ich habe etwa 10 Minuten nach diesen Übergriffen um 15:53 Uhr folgenden Tweet von der Wiese getwittert: „ Polizisten haben erst hart zugegriffen, mich geschlagen, obwohl ich ‚keine Gewalt’ rief und nur Blumen in die Höhe hielt“. Mehrere Stunden später war ich auf dem Heimweg und twitterte: „liege auf einer Bahnsteigbank, warte auf die Bahn. Mein Rücken schmerzt elend, vielleicht eine Folge der Polizeischläge“. Ich habe damals überlegt, ob ich Anzeige gegen die übergriffigen Polizisten erstatte, aber ich hatte zu oft in der Zeitung gelesen, dass solche Anzeigen zu nichts führen, so dass ich das gelassen habe.
Nach meinem persönlichen Erleben während der gesamten Demonstration und nachfolgenden Aktion auf dem Gelände der Wiese des Platz der Republik ging jede Eskalation ausschließlich von der Polizei aus. Sowie die Polizei mit Eskalationsverhalten aufhörte, war die Menge absolut friedlich, klatschte und sang. Sie legten unbehelligt über 100 symbolische Gräber mit ihren nackten Händen an, die am Ende doch noch das beabsichtigte Ziel erreichten – einen würdigen Gedenkort in Form eines Friedhofes für die Toten im Mittelmeer im Herzen Berlins zu errichten. Die Toten waren also doch noch gekommen und ruhten symbolisch unter dem Platz, der für Deutschland die höchste politische Bedeutung trägt, sichtbar für alle Abgeordneten des Bundestages, die beim Überqueren der Wiese zumindest über symbolische Gräber und Leichen hätten gehen müssen.
Eines dieser Gräber haben auch mein Mann und ich noch angelegt, wir haben die mitgebrachte Erde aus unserem Garten zu einem kleinen Hügel aufgeschüttet, um die Wiese darunter nicht zu beschädigen und haben den mitgebrachten Trauerkranz mit roten Rosen sowie einen Blumenstrauß auf dieses Grab gelegt.
Nach den für mich schockierenden Erfahrungen während dieser friedlichen und doch so kreativen Aktion hat es mich besonders überrascht, über ein Jahr später vom Ermittlungsverfahren gegen mich in Kenntnis gesetzt zu werden. Die Vorwürfe darin sind an Absurdität kaum zu überbieten. Ich soll u.a. einen meiner Blumensträuße umgedreht und mit den Stielen einen Polizisten im Gesicht verletzt haben! Man könnte das fast lustig finden, so seltsam ist dieser Vorwurf. Aber ich finde es nicht lustig, der Körperverletzung eines Polizisten beschuldigt zu werden. Ich habe in diesem Jahr ein Start Up gegründet und ich kandidiere für die Bundestagswahl 2017. Es ist daher nicht nur ehrabschneidend sondern auch geschäftsschädigend und wahlbeeinflussend, mir eine Straftat anzuhängen, die ich nicht begangen habe. Zur Anklage gab es bereits eine dpa Meldung, die in vielen Medien Verbreitung fand. Eine Mitarbeiterin von RTL verlinkte eine solche Meldung und twitterte dazu: „2017 im Bundestag mit r2g?“
Andere Tweets lauteten „Qualifikation für den Bundestag: Anke Domscheit-Berg soll Polizisten angegriffen haben“. Auch über meine Nominierung als Listenkandidatin der Linke vor zwei Tagen haben nach einer entsprechenden DPA Meldung viele Medien nur im Zusammenhang mit dieser Anklage berichtet, wie z.B. die Berliner Zeitung, die schreibt: „Auf Platz drei kam die Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg, die sich an diesem Montag vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten verantworten muss. Ihr wird vorsätzliche Körperverletzung von Polizisten vorgeworfen.“ Auf RBB Online musste ich gestern einen ganzen Artikel unter der Überschrift „Anke Domscheit-Berg wegen Körperverletzung vor Gericht“ lesen, in dessen Kurzfassung steht„Die Politaktivistin Anke Domscheit-Berg muss sich ab Montag vor Gericht verantworten. Ihr wird vorsätzliche Körperverletzung vorgeworfen, weil sie bei einer Mahnwache im vergangenen Jahr drei Polizisten angegriffen haben soll.
Diese Tweets und Artikel machen erkennbar, dass bereits die falsche Unterstellung für mich öffentliche Nachteile brachte. In Vorbereitung dieses Gerichtsverfahrens habe ich viele Videos der fraglichen Situationen wieder und wieder angeschaut, immer wieder habe ich mir ansehen müssen, wie die Polizei mich grundlos und unverhältnismäßig überfallen hat. Immer wieder habe ich mich genauso schrecklich gefühlt wie damals.
Ich möchte es in aller Klarheit sagen: ich habe auf dieser Veranstaltung zu keinem Zeitpunkt jemanden verletzt oder getreten, geschubst oder gekratzt. Ich bin Pazifistin nicht nur in der Theorie sondern auch im praktischen Leben.
*** Ende meiner Stellungnahme vor Gericht ***
Den Überfall der Polizei auf mich kann man u.a. auf einem Video von Streetperspectives sehen – ab 08:50 min beginnt diese Szene. Direkt im Anschluss sollen sich die dem Verfahren zugrunde liegenden Taten ereignet haben…
Ich vertraue auf den Rechtsstaat, denn ich habe mir nichts vorzuwerfen.
Ich bin Publizistin. Ich wehre mich mit Worten.
Update vom 3. Januar 2017
Am 15.12.2016 fand der zweite Verhandlungstag statt. Ein geladener Zeuge auf Polizeiseite sollte erklären, wie die Unterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher Zeugenaussage zustande kamen. Der geladene Zeuge war derjenige, der die Zeugenaussagen der beiden „Opfer“ schriftlich aufgenommen hatte. Sie standen mehrfach im Widerspruch zu den vor Gericht getätigten Aussagen der Opfer, z.B. hinsichtlich des Ortes und der Art der Verletzung, des angeblichen Tathergangs etc. Die Widersprüche blieben unaufgeklärt. Am Ende der Verhandlung forderte der Staatsanwalt absurderweise bei völliger Abwesenheit von Beweisen auf seiner Seite weiterhin 60 Tagessätze und verdoppelte die anzusetzende Summe, die seinerzeit dafür im Strafbefehl stand auf 1.800 Euro. In ihrem Plädoyer nahm meine Anwältin noch einmal sämtliche Aussagen der Zeug*innen auseinander, belegt durch von uns vorgelegte Beweise, wie Videos und Fotos. Man könnte meinen, es handelte sich um einen sonnenscheinklaren Fall von Freispruch. Aber die Richterin war dazu offenbar nicht bereit. Deshalb haben wir einen Beweisantrag auf Anhörung einer Entlastungszeugin gestellt. Dafür ist nun ein dritter Termin erforderlich, er findet am 5. Januar 2017 um 14:15 Uhr erneut im Landgericht Moabit im Raum 672 statt. Prozessbeobachter*innen sind natürlich wieder willkommen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass bei dieser Verhandlung das Urteil gesprochen wird.
Update vom 5. März 2017
Am 05. Januar 2017 fand der 3. Verhandlungstag zu diesem Verfahren statt. Dort wurde ich zu 20 Tagessätzen verurteilt. Das Urteil war ein klares Fehlurteil und ich verstehe immer noch nicht, wie es bei so klarer Beweislage überhaupt zu einer Verurteilung kommen konnte. Selbstverständlich habe ich Berufung eingelegt und warte seither auf den Berufungstermin. Im Rechtsstaat Deutschland gilt der Grundsatz, im Zweifel für den Angeklagten. Nicht einmal dieser Grundsatz wurde berücksichtigt.
Hier die Fakten:
Immerhin: der Vorwurf, ich hätte einem Polizisten mit einem umgedrehten Blumenstrauß durchs Visir gestochen und ihn ihm Gesicht verletzt, wurde aufgrund der erheblichen Unglaubwürdigkeit des vermeintlichen Opfers fallen gelassen. Er hatte mehrfach verschiedene Angaben zu Verletzungen getätigt, völlig falsche Aussagen zur Sachlage vor Ort gemacht (die durch Videos und Fotos widerlegt wurden), es gab keine einzige Aussage dritter Personen, die seine Darstellungen stützten, er hatte „vergessen“ Fotos von der Verletzung zu machen und auch der Polizist, der seine schriftliche Aussage kurz nach dem „Vorfall“ aufgenommen hatte, erinnerte sich an keinerlei sichtbare Verletzungen und hat auch nichts dergleichen in der schriftlichen Aussage festgehalten. Den Vorwurf, eine weitere Polizistin am obersten Zeigefingerglied leicht gekratzt zu haben (nach eigener Aussage der Polizistin eine „lächerliche Lappalie“) wurde jedoch als glaubwürdig bewertet und nur auf diesen Vorwurf bezieht sich die Verurteilung. Der Staatsanwalt blieb im übrigen bei seiner Forderung nach 60 Tagessätzen, obwohl der weitaus schwerwiegendere Tatvorwurf als unbegründet fallen gelassen worden war.
Hier der Sachstand, wie er der dem Gericht vorlag, und den die Richterin ignoriert hat, denn obwohl jeder dieser Umstände für sich alleine genommen für einen Freispruch gereicht hätte, hat die Richterin darin nicht einmal einen Grund für Zweifel an meiner Schuld gesehen (das muss man nicht verstehen):
- An einer Nachstellung des behaupteten Tatgeschehens (zwei Personen reißen an beiden Enden eines Blumenstraußes – durch Papierrolle ersetzt) habe ich nachgewiesen, dass es technisch UNMÖGLICH ist, mit der gleichen Hand, mit der man an einem Blumenstrauß zieht, jemand anderen zu kratzen, der am anderen Ende des Straußes zieht. Man kann nicht loslassen, ohne sich ruckartig nach hinten zu bewegen (bzw. zu fallen). Mann kann nicht kratzen, ohne Loszulassen.
- Am 3. Verhandlungstag wurde eine Entlastungs-Augenzeugin befragt, die zum vermeintlichen Tatgeschehen direkt neben mir stand (das konnte ich anhand von Bilddokumentationen dritter Personen nachweisen, außerdem hat sie zeitweise von dort selbst Aufnahmen gemacht). Es handelt sich um eine Fotojournalistin, die ausgesagt hat, dass sie die fragliche Situation von Anfang bis Ende mit eigenen Augen deutlich gesehen hat und dass sie ausschließen kann, dass ich a) den Strauß losgelassen habe und b) dass ich jemanden gekratzt habe. Die Zeugin wurde von der Richterin zwar als glaubwürdig bewertet, die Richterin glaubt nur trotzdem nicht, dass ihre Aussage stimmt (Häh? Ja genau. Häh.)
- Die Polistizin (das „Opfer“) wiederum behauptete, es sei ausgeschlossen, dass eine andere Person als „Kratzer“ in Frage kommt, weil nur meine Hand zum fraglichen Zeitpunkt in der Nähe ihrer Hand gewesen sei. Ich konnte anhand von Fotos und Videos nachweisen (inklusive Polizeivideo!), dass mehrfach diverse Hände in jener fraglichen Minute am Strauß waren, ALLE anderen Hände waren dichter an der Hand der Polizistin als meine, denn ihre und meine Hand befanden sich an den entgegengesetzten Enden des Straußes, die anderen Hände dazwischen. Ich konnte sogar ein Foto vorlegen, das deutlich zeigte, dass die Hand eines (unbekannten) Polizisten genau so AUF ihrer Hand drauf lag, dass seine Fingernägel in der Nähe der beschriebenen Kratzwunde lagen. Vermutlich ist hier der Moment der Verletzung fotografisch festgehalten. Aber ein Polizist als Verursacher der Kratzwunde war wohl nicht opportun.
In ihrer Urteilsbegründung hat die Richterin im übrigen diverse falsche Dinge hineingeschrieben, von Nebensächlichkeiten wie, die Anwältin hätte meine Stellungnahme verlesen (nein, das war ich selbst) bis hin zu der schwererwiegenden Behauptung, ich hätte mich geweigert, Fragen zur Sache zu beantworten. Das ist nicht richtig. Fakt ist, dass es keine einzige Frage von der Richterin gab, die ich nicht beantwortet habe. Ich habe sogar proaktiv Stellung genommen, selbst viele Fragen an die Zeug*innen gestellt und ganz offensichtlich einen Willen zur Kooperation gezeigt. Ich hatte nur gesagt, dass ich keine Befragung VOR der Befragung der übrigen Zeugen wünsche.
Den Glauben an den Rechtsstaat habe ich zwar noch nicht verloren, aber ich muss zugeben, er ist etwas angekratzt. Es ist nicht lustig, am nächsten Tag in der Bildzeitung zu lesen, dass man wegen „Mißhandlung von Polizisten“ verurteilt wurde und dass die Anklage auf Stechen unter ein Polizeivisir lautete. Kein Wort davon, dass gerade dieser Vorwurf als unglaubwürdig abgewiesen wurde. Mir bleibt also nichts, als auf die Berufungsverhandlung zu warten und dort einen Freispruch zu erkämpfen. Ich habe niemanden verletzt. Punkt.