"Auch Du wirst überwacht" – Eine Aktion zu #Merkelphone am Kanzleramt

Am 24.10.2013 haben mein Mann und ich dem Kanzleramt einen Besuch abgestattet. Mein Mann hatte dort ein Geschenk für die Kanzlerin abzugeben. Die Geschichte dahinter steht hier im Blogpost. Alle Bilder stammen von der Aktion.

Piratenwahlplakat der Bundestagswahl 2013 - upcycled für die Kanzlerin, mit Widmung von Daniel Domscheit-Berg

Piratenwahlplakat der Bundestagswahl 2013 – upcycled für die Kanzlerin, mit Widmung von Daniel Domscheit-Berg


Endlich regt sich unsere Kanzlerin auf über den NSA Überwachungsskandal. Hat ja auch lange gedauert. 80 Millionen überwachte Staatsbürger*innen haben dazu nicht gereicht – jedenfalls nicht, so lange Kanzlerin Merkel seltsamerweise davon ausging, nicht Teil dieser 80 Millionen zu sein. Aber nun ist es raus, auch ihr Handy wurde von amerikanischen Geheimdiensten überwacht. SKANDAL! Weltweit sollen mindestens 35 Staatsmänner und -frauen betroffen sein, warum also sollte die „mächtigste Frau Europas“ davon ausgenommen sein?
Ach so, die Antwort kennen wir ja schon. Weil Freund Barack seiner Freundin Angela ja versichert hatte, dass sie natürlich nicht auspioniert wird und weil doch Freunde einander die Wahrheit sagen. So oder so ähnlich hat Frau Merkel wohl gedacht, also sie auf sein charmantes Lächeln hereinfiel – oder auf die Beteuerungen ihres großartigen Innenministers Friedrich („7, ähm, 5, ähm 2, ähm 0 Terroranschläge wurden verhindert“) oder des Kanzleramtssprechers Pofalla („Millionenfache Überwachung? Gibts nicht, alles geklärt, ich beende daher diese vermeintliche Affaire“).
Ankunft am Hauptbahnhof Berlin - unterwegs zum Kanzleramt

Ankunft am Hauptbahnhof Berlin – unterwegs zum Kanzleramt


An Naivität und Gutgläubigkeit ist das kaum noch zu überbieten. Ich würde so gern unsere Kanzlerin einmal fragen, warum in Gottes Namen sie ausgerechnet einer Regierung glaubt, deren Repräsentanten nachweislich in dieser Angelegenheit lügen und nationales sowie internationales Recht gebrochen haben? Das US Parlament wurde angelogen von NSA Vertretern. UN Diplomaten wurden völkerrechtswidrig bespitzelt, EU Einrichtungen verwanzt und damit ganz offiziell Spionage betrieben. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht? Das soll für alle Grundschulkinder gelten aber offenbar nicht für Regierungen, die Atomwaffen besitzen, Kriege auf Basis erfundener Behauptungen führen, Kinder und Zivilisten neben sogenannten „Targets“ mit ferngesteuerten Drohnen ermorden – ohne, dass irgendjemand irgendeine Chance hat, einen Rechtsweg zu beschreiten, seine oder ihre Unschuld zu beweisen. Ich nenne das Mord. Mit Rechtsstaat hat das nicht mehr viel zu tun. Und so einer Regierung glaubt Angela Merkel? Wegen dem Friedensnobelpreis vielleicht?
Bahnhofsvorplatz - das Kanzleramt ist schon in Sicht

Bahnhofsvorplatz – das Kanzleramt ist schon in Sicht


Angela Merkel hat neben einem fahrlässig hohen Grad an Naivität offenbar die längste Leitung dieser Welt und neigt zum Vergessen offensichtlicher Tatsachen. Aus diesem Grund haben wir, mein Mann und ich, beschlossen, ein wenig Unterstützung von Piratenseite zu leisten. Die Idee kam von Pirat Raimond aus dem Havelland am Mittwoch – 23.10.2013 – dem ersten Abend der Merkelphone-Affaire als er ein paar ausgemusterte Wahlplakate abholen wollte. Aus der Idee wurde in einer nächtlichen Aktion ein konkreter Plan.
Unterwegs zum Kanzleramt - die Brücke vor dem Hauptbahnhof

Unterwegs zum Kanzleramt – die Brücke vor dem Hauptbahnhof


Bei uns stehen noch viele Wahlplakate von der Bundestagswahl herum, darunter welche mit dem passenden Slogan „Auch Du wirst überwacht“ und dem Konterfei meines Mannes Daniel. Neben dem Parteilogo stand darunter „Piraten wählen“ – das paßt zwar immer, denn nach der Wahl ist vor der Wahl – aber wir änderten es für Frau Merkel in „Piraten zuhören“. Auf den freien Hintergrund schrieb Daniel eine persönliche Widmung:

Bitte nicht nochmal vergessen! Daniel“

Dazu schrieb er noch einen persönlichen Brief. Ich nutzte so um Mitternacht Twitter, um per DM das Interesse von ARD und ZDF über unsere für den nächsten Tag geplante Aktion zu wecken und war begeistert, dass das klappte.

Wir sind angekommen :-)

Wir sind angekommen 🙂


Am folgenden Donnerstag morgen machten wir uns nach kurzer Nacht auf den Weg zum Kanzleramt, um unsere großen „gelben Merkzettel“ an Frau Merkel zu übergeben. Natürlich war uns klar, dass Merkel selbst natürlich keine Zeit und Lust haben wird, unser Geschenk entgegenzunehmen. Aber abgeben – das geht natürlich. Vorher beantwortete Daniel den Sendern noch ein paar Fragen zur Aktion und zur Merkelphone-Affaire mit dem Kanzleramt als imposanter Kulisse, dann ging es zum Pförtnerhäuschen.
Erster Kontakt: Der Pförtner vom Kanzleramt

Erster Kontakt: Der Pförtner vom Kanzleramt


Der Pförtner bat Daniel zu warten. Wenigen Minuten später erschien eine Dame von der Sicherheit, die mit einem lustigen Gerät Brief und Plakat auf verdächtige Spuren scannte, nichts fand und wieder verschwand.
Zweiter Kontakt: Untersuchung von Brief und Plakat auf Gefährliches

Zweiter Kontakt: Untersuchung von Brief und Plakat auf Gefährliches


Wir warten noch ein paar Minuten. Ein Herr, zur Abwechslung ohne Uniform, tauchte auf und stellte sich als Vertreter der Poststelle vor. Auch er unterhielt sich mit Daniel, der ihm erzählte, warum er der Kanzlerin diese Gedächtnisstütze als praktische Erinnerung an den Umstand, dass wir ALLE überwacht werden, schenken möchte. Die Wahlplakate seien ja bei uns übrig und die Piraten hätten diese Erkenntnis ja auch schon lange und daher die Erinnerung daran auch nicht mehr so nötig, wie die Kanzlerin.
Dritter Kontakt: Die Übergabe an den Vertreter der Poststelle

Dritter Kontakt: Die Übergabe an den Vertreter der Poststelle


Der Mann von der Poststelle konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Neben ARD und ZDF, die das alles zwar mit Ton und Bild aufgezeichnet aber meines Wissens nicht veröffentlicht hatten, hat auch Piratin Cornelia Otto mit dem Smartphone die Übergabe gefilmt, die Technik gab leider unter diesen Rahmenbedingungen keine Audioaufzeichnung her – aber es gibt ja noch Fotos :-).

Screenshot YT Tikkachu Video Merkelphone Plakatübergabe

Den kleinen Film von Cornelia – auf Twitter als @Tikkachu bekannt – gibt es auch HIER. Der Mensch von der Poststelle ließ uns alle etwas rätselnd zurück, denn er ging nicht nach links in Richtung Kanzleramt sondern nach rechts in Richtung einer Art Tiefgarage.

Der Mann von der Poststelle - unterwegs - ja, wohin?

Der Mann von der Poststelle – unterwegs – ja, wohin?


Wir spekulierten alle miteinander, ob es denkbar wäre, dass er das Plakat samt Brief für die Kanzlerin einfach in einen Müllcontainer stopft… Wenn jemand weiß, was sich in den Katakomben rechts vom Pförtnerhäuschen des Kanzleramtes befindet, laßt es mich wissen. Ich bin immer noch neugierig.
...kurz danach biegt er nach rechts statt nach links ab. Wohin ging der Postmann von Merkel?

…kurz danach biegt er nach rechts statt nach links ab. Wohin ging der Postmann von Merkel?


Etliche Bürger*innen haben das ganze interessiert verfolgt und uns schon im Vorfeld Fragen dazu gestellt. Jeder schien verwundert über das seltsam späte und bigotte Aufwachen unserer Kanzlerin. Etwas enttäuscht bin ich von den Medien, die uns begleitet haben – was eine großartige Sache war, gerade wegen der extremen Kurzfristigkeit – aber keines hat davon etwas verwendet (oder ich habe es einfach nicht mitbekommen, her mit einem Hinweis, wenn ich falsch liege!). Von allen möglichen Parteien wurden Statements veröffentlicht – wenigstens online, aber nicht von der Piratenpartei. Verstehen kann ich das nicht, denn das ist und war schon immer UNSER Thema, es war unser Schwerpunkt im Bundestagswahlkampf, der ja erst ultrakurz zurückliegt. Falls jemand den Piraten mal wieder vorwerfen möchte, wir machten politisch oder in der Öffentlichkeitsarbeit nichts daraus, der sollte sich stattdessen fragen, was wir noch machen sollen, um es in die Medien hinein zu schaffen mit unseren Positionen.
Interviews mit ARD und ZDF vor dem Kanzleramt

Interviews mit ARD und ZDF vor dem Kanzleramt


Also machen wir weiter das mit der Medienarbeit von unten – hier gibts die Geschichte und hier gibts die Bilder und immerhin ein Video, wenn auch ohne Ton. Vielleicht schaffen es ja die Öffentlich-Rechtlichen doch noch, das Material online und damit zur Verfügung zu stellen. Ich würde mich sehr darüber freuen.
Daniel beantwortet Fragen zum Überwachungsskandal rund um Merkels Telefon.

Daniel beantwortet Fragen zum Überwachungsskandal rund um Merkels Telefon.


Um fair zu sein – Aufmerksamkeit in den Medien gibt es natürlich trotzdem, so wurde ich kurz vor Beginn der Aktion am Kanzleramt von der Redaktion Maybrit Illner angerufen und für die thematisch neu geplante Sendung für den gleichen Abend eingeladen. Wer eine Stunde Zeit hat, kann sich die vollständige Debatte bei Illner HIER ansehen (der US Amerikaner ist erschütternd makaber in seinen Äußerungen, SPD Oppermann windet sich in der Frage der Vorratsdatenspeicherung – seine Aussagen darf man getrost interpretieren als „ja klar, wir die SPD tragen die VDS in einer Rot-Schwarz-Koalition mit, Hauptsache, es wird – wie vom Bundesverfassungsgericht eh vorgeschrieben –  eine Art Lightversion“ – die natürlich ebenso gefährlich wie überflüssig ist).
Screenshot Illner Zusammenschnitt

Kurzfassung (7Min) der Illner Runde zu #Merkelphone (Danke an @Bananenrepublik!)


Wer nur ein paar Minuten hat, hier gibts einen Zusammenschnitt, eine Art Trailer von 7 Minuten (Danke @bananenrepublik!). Es gab auch viele Radiointerviews zum Thema für meinen Mann und mich, und einige Fernsehgeschichten sind auch noch geplant, u.a. werde ich mich vorr. am 29.10.13 auf nTV in der Sendung „Das Duell“ mit einem Vertreter der CDU zum Thema Überwachung auseinandersetzen. Auch im britischen Guardian wurde ich mit einem Statement zitiert (HIER). Lesenswert ist auch ein Interview mit Daniel im Handelsblatt, in dem es neben dem Film InsideWikiLeaks auch um die Merkelphone-Affaire geht.
Aus gegebenem Anlaß verlinke ich hier noch einmal ein Fragenkatalog des parlamentarischen Kontrollgremiums aus dem Sommer an die Bundesregierung – es sind 18 Seiten voll brennender Fragen. Wenn jemand den Antwortkatalog dazu kennt – her damit. Meines Wissens sind die meisten dieser Fragen immer noch offen. Aber auch der Umstand, dass es offene Fragen in der Sache gibt, ist ja Angela Merkel erst jetzt wieder eingefallen. Wem spricht sie wohl zuerst ihr nächstes vollstes Vertrauen aus? Pofalla oder Friedrich? Und schade eigentlich, dass diese Superpower des „vollsten Vertrauens“ nicht auch über den Atlantik hinweg funktioniert. Und schade auch, dass die Bundesregierung nach wie vor nicht verstehen kann, dass man Freunde nicht nur über den Ozean hinweg nicht überwacht sondern schon gar nicht im eigenen Land. Tut man das doch, wie die 25 Überwachungs- und Sicherheitsgesetze zeigen, die mit Merkel als Kanzlerin verabschiedet worden sind, dann betrachtet man wohl sämtliche 80 Mio Einwohner pauschal als Feinde, Verbrecher und Terroristen. Willkommen im Boot, Frau Merkel.

Massenüberwachung heute erzeugt Ängste, Selbstzensur und Unfreiheit – wie bei der Stasi

An ENGLISH version is HERE.
Der nachfolgende Text ist meine Rede, die ich bei der Kundgebung gegen Massenüberwachungsprogramme wie PRISM und für Whistleblowerschutz anläßlich des Obama Besuchs in Berlin am 19.06.2013 am Großen Stern gehalten habe. Von der Rede gibt es auch eine Aufzeichnung bei YouTube. Lesen kann man sie nun auch hier.
ADB Rede Prism Kundgebung „Meine Name ist Anke Domscheit-Berg. Ich war 21 Jahre alt als die Mauer fiel. Im November 1989 stand ich mit meiner Mutter auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor und feierte mit Tausenden anderen die Freiheit. Wir waren das Volk. Wir hatten Widerstand geleistet, gegen das Eingesperrtsein, gegen die Einschränkungen der Meinungsfreiheit, gegen Überwachung und Bevormundung. Wir waren das Volk. Wir sind auf die Strasse gegangen und wir haben uns gewehrt. Damals – es ist erst 24 Jahre her, feierten wir unseren Sieg und fühlten uns grenzenlos frei.
Zur Zeit der Wende war ich Kunst-Studentin im Süden der DDR. Wir waren „oppositionelles Gesindel“, wie man damals diejenigen nannte, die keine Lust mehr hatten, auf Überwachung und Unfreiheit. Nächtelang schrieb ich Aufrufe ab, vom Neuen Forum und anderen Reform-Gruppen, die sich damals bildeten. Meine Briefe im Studentenwohnheim kamen häufig geöffnet an. Die Stasi machte sich nicht einmal die Mühe, die Überwachung geheim zu halten. Wenn es im Telefon knackte, dann dachten wir immer, die STASI hört mit, dabei war es manchmal bestimmt nur eine schlechte Leitung. Aber wir achteten auf unsere Wortwahl und benutzten jede Menge Umschreibungen. Wir wurden Meister in einer Kommunikation, die von Andeutungen und Anspielungen lebte, ohne so konkret zu werden, dass es vielleicht böse Konsequenzen haben konnte.
Bevor wir politische Witze erzählten, überlegten wir, wer uns hören konnte, und wie vertrauenswürdig diejenigen waren. Und manchmal gingen wir auf Nummer sicher und verkniffen uns einen Witz. Wenn uns jemand mal zu lange ansah oder scheinbar auffällig und sinnlos irgendwo herumstand oder in unseren Augen verdächtig nach STASI aussehende Kleidung trug, waren wir verunsichert. Wir bekamen Angst und fühlten uns verfolgt – und manchmal war das auch so aber oft waren es bestimmt völlig unbeteiligte Menschen, die wir verdächtigten, offiziell oder inoffiziell für die Stasi zu arbeiten. Ich habe hundertmal in meiner Kindheit und Jugend den Satz gehört: „sag das bloß nicht in der Schule“ oder „sag das bloß nicht woanders, Du redest Dich um Kopf und Kragen“. Meinem Vater wurde geraten, weniger Kritik zu üben, weil die Tochter doch Abitur machen und studieren wollte. Das alles macht etwas mit einem. Man verändert sich. Man übt Selbstzensur. Man überwacht sich selbst.

Das Wissen um potenzielle Überwachung allein, beschränkt schon unsere Freiheiten!

Als ich im Wohnheim an der Schreibmaschine meines Großvaters diese Aufrufe oder Gedächtnisprotokolle polizeilicher Übergriffe aus der Wendezeit abschrieb, habe ich bei jeder Rückkehr in mein Zimmer zuerst die Schreibmaschine und meine versteckten Papiere untersucht. Ich sah an verstellten Farbbändern, dass jemand in meinem Zimmer war. Ich bekam anonyme Briefe, die mich warnten, vorsichtiger zu sein. Man informierte mich darüber, dass in meinem hunderte Kilometer entfernten Heimatort fremde Männer nach mir fragten, um Auskünfte über mich zu erhalten. Ich hatte keine Privatsphäre mehr. Genauso wenig wie Millionen anderer Ostdeutscher.

Dieses schreckliche Gefühl, auf einem Präsentierteller zu leben, das habe ich gehaßt. Und dieses beklemmende Gefühl – es kommt jetzt langsam zu mir zurück. Je mehr wir erfahren über inländische und ausländische Überwachungen, um so mehr kommt es zurück und macht mir Angst.

In DDR gab es auch eine Verfassung und in der stand auch was von Briefgeheimnis. Aber niemand nahm die DDR Verfassung für voll. Sie war ein Stück wertloses Papier, wunderbare Texte darin, aber leider nicht real. Jetzt lebe ich in einer Demokratie, in der das Grundgesetz etwas bedeutet. Aber dennoch gibt es jetzt mehr denn je den Trend, das Grundgesetz auszuhöhlen, durch andere Gesetze immer breiter auszulegen – zum Nachteil unserer Privatsphäre – oder es einfach zu ignorieren und uns ohne gesetzliche Grundlage zu überwachen und Daten über uns zu sammeln, z.B. weil wir gegen Nazis auf die Strasse gehen. Was hilft es denn, Jahre später vor einem Gericht Recht zu bekommen, wenn das Kind längst im Brunnen liegt?
Ich bekomme scharfe Kritik, wenn ich die Überwachungsstrategien heute mit denen der STASI vergleiche, aber ehrlich gesagt, waren die Möglichkeiten der STASI Kinderkram gegen das, was heute nicht nur möglich ist, sondern auch gemacht wird. Ein häufiges Argument ist dabei, dass man doch eine Demokratie nicht mit einem Unrechtsstaat vergleichen kann. Aber ich vergleiche nicht die gesellschaftlichen Systeme als Ganzes, ich vergleiche die Eingriffe in die Privatsphäre. Und da kann ich nur sagen: 37 Millionen Emails 2010 durch den BND ausgewertet – das wäre der feuchte Traum der STASI gewesen.

Aber wollen wir in unserem demokratischen System denn mit Methoden operieren, die denen eines Überwachungsstaates gleichen? Müßten wir uns nicht gerade in diesem Punkt viel mehr unterscheiden?

Ein weiteres Argument, dass ich oft zu hören bekomme ist: „in der DDR, da waren doch Tausende IMs am spitzeln, das ist doch viel schlimmer, wenn einen Freunde, Bekannte und Kollegen aushorchen“. Ich höre auch: „damals gings doch um Gesinnung, heute geht’s um Kinderschänder und Terrorismus, aber ich hab nichts zu verbergen, ich breche keine Gesetze, also können sie meine Daten ruhig alle angucken, wenn es der Sache dient“.
Aber wie wurde denn aus einem Freund, Bekannten oder Kollegen ein IM – ein informeller Mitarbeiter der STASI? Und haben wir alle wirklich nichts zu verbergen? Gibt es nichts in unserem Leben, das wir nicht unbedingt bekannt machen möchten, das einfach niemanden etwas angeht? Ein Seitensprung? Etwas ausgefallenere sexuelle Präferenzen? Der LSD Trip auf dem Festival vor  20 Jahren? Die Google Suche nach der nächstgelegenen Gruppe Anonymer Alkoholiker oder der Selbsthilfegruppe von Angehörigen HIV Infizierter? Gibt es keine Fotos auf unseren Festplatten, die peinlich oder einfach nur sehr privat sind? Von uns oder von anderen? Ich muss den Menschen noch treffen, der auf diese Fragen wirklich mit Nein antwortet. Denn es ist menschlich, Geheimnisse zu haben und ein Interesse an Privatheit. Aber wie war das jetzt mit den IMs?
Viele IMs begannen nicht zu spitzeln, weil sie es toll fanden, für die Staatssicherheit zu arbeiten, auch nicht aus glühender Überzeugung. Viele wurden erpresst oder mit Versprechungen gelockt. Dieses Vorgehen war überaus erfolgreich, denn die STASI hat sich vorher die potenziellen IMs genau angeguckt: Welche Schwächen und Laster hat der Mensch? Welche Leidenschaften und Begierden? Wovon träumt er und wovor hat er Angst? Mit diesen zutiefst privaten und individuellen Erkenntnissen wurde dann auch sehr individuell das Anwerbegespräch geführt. Man hat gedroht, private Geheimnisse dem Arbeitgeber, dem Ehemann oder der Ehefrau zu verraten, man hat Versprechungen gemacht für Belohnungen und Gefälligkeiten, die sonst schwer zu bekommen waren und die genau den Schwächen und Leidenschaften dieser Menschen entsprachen. Kaum einer davon hat irgendetwas illegales getan. Es war ihr eigenes, unschuldiges Privatleben, das man gegen sie verwendet hat. Ich finde es schlimm, dass sich so viele IMs haben anwerben lassen, denn ohne sie hätte das System STASI nicht funktioniert. Aber diese Arbeitsweise zeigt uns auch heute noch, dass zu viel Wissen über einen Menschen in den falschen Händen Macht verleiht und Macht kann immer auch mißbraucht werden.

Informationen über uns – je vollständiger das Profil umso besser, macht uns manipulierbar, erpressbar, durchschaubar und das alles macht uns unfrei. Es verletzt unsere Würde und unsere Privatsphäre und damit Grundrechte der deutschen Verfassung.

Wir sollten unserem Wunsch laut und deutlich Ausdruck verleihen, dass wir unsere Verfassung wieder buchstabengetreu gelebt sehen möchten. Dass wir keinen Bundestag wollen, der immer wieder neue Überwachungsgesetze verabschiedet, die das Verfassungsgericht kassiert. Dass wir höhere Hürden wollen für den Zugriff auf Daten über uns durch staatliche Stellen und härtere Sanktionen, wenn diese Hürden verletzt werden. Dass wir mehr Transparenz wollen über die Tätigkeiten und Befugnisse aller staatlichen Stellen, die Daten über uns sammeln!
Das ist ein Problem, das wir hier zu hause in Deutschland haben. Der Auslandsgeheimdienst kommt zusätzlich dazu. Es gibt also viele Stellen, von denen ich nichts weiß, die alles was ich kommuniziere, fotographiere, schreibe, meine Bewegungen von A nach B und meine Beziehungen zu X und Y aufzeichnen, speichern und auswerten können. Mit einem Ehemann, der ein paar Jahre bei Wikileaks gearbeitet hat, ist es nicht einmal unwahrscheinlich, dass genau das vielleicht auch tatsächlich passiert. Dabei verstoße ich gegen gar kein Gesetz. Ich habe nichts verbrochen. Genauso wenig wie mein Mann gegen irgendein deutsches Gesetz verstoßen hat.
Es ist ein Märchen,  zu denken, wer halbwegs gesetzestreu lebt, hat keine Überwachung zu befürchten. Gestern riet Rainer Wendt, der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft, Zuschauern im Fernsehen auf die Frage, wie sie sich schützen können vor Überwachung, dass sie keine Bombenanleitungen sondern Kochrezepte aus dem Internet herunterladen sollten. Denkt mal alle darüber nach, woher der Staat wissen will, wer wann eine Bombenanleitung heruntergeladen hat, ohne den gesamten Datenverkehr anzuschauen mit allen Kochrezepten, Katzenvideos und Nacktfotos von x-beliebigen Menschen?
Ich möchte nie wieder in einem Überwachungsstaat leben, deshalb kämpfe ich für mehr Transparenz im Staat und gegen einen gläsernen Bürger. Ich möchte aber auch nicht aus dem Ausland bespitzelt werden, weil es letztlich egal ist, wer mich überwacht, denn beides verletzt meine Privatsphäre. Deshalb habe ich am Wochenende eine Petition bei Change.org gestartet, die bereits mehr als 37.000 Menschen in diesen paar Tagen unterschrieben haben.
Ich möchte unsere Bitte hier kurz vorlesen:

An Bundeskanzlerin Angela Merkel
Das Brandenburger Tor steht für die Freiheit Deutschlands. Die Bilder vom Fall der Berliner Mauer, mit Tausenden Menschen die auf der Mauer tanzten, um die neue Freiheit zu feiern, gehören zum historischen Gedächtnis der Welt.
Es ist eine bittere Ironie, dass genau an diesem geschichtsträchtigen Ort Barack Obama eine Rede halten soll: Der US Präsident, der mehr als jeder Präsident vor ihm Whistleblower verfolgt und unter dessen Amtsführung mit PRISM die umfassendste Überwachung der Kommunikation und Internetnutzung von Staatsbürgern der USA und anderer Länder erfolgt – auch von uns in Deutschland.
Am Brandenburger Tor, das 1989 zum Symbol für das Ende eines Überwachungsstaates wurde, einen Strategen der globalen Überwachungskultur reden zu lassen, zeugt von mangelnder Sensibilität.
Wir fordern, dass Sie die Gelegenheit nutzen, um Barack Obama am Brandenburger Tor ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass Deutschland die Überwachung durch Programme wie PRISM nicht toleriert und dass die deutsche Bundesregierung sich klar gegen eine Strafverfolgung des PRISM-Whistleblowers Edward Snowden ausspricht.
Mit freundlichen Grüßen
37.000 Bürgerinnen und Bürger

Ich hoffe sehr, dass Angela Merkel diese vielen Stimmen nicht ignoriert und unsere Rechte gegenüber Barack Obama verteidigt.
Vielen Dank.“
There is an English language version of this speech HERE.