"Spitzenbäume" in Himmelpfort – Schneekristalle aus Textil werden zu "Kunst am Baum"

Heute, am 12.12.2013, war es soweit – ich habe mit der Hilfe vieler großartiger Menschen zum ersten Mal Bäume in ein Spitzenkleid gehüllt!
Und so sieht mein erster „Spitzenbaum“ aus – eine Linde, die direkt vor dem Weihnachtspostamt in Himmelpfort steht:
1. Spitzenbaum vor dem Weihnachtspostamt Himmelpfort
 
Der Weihnachtsmann war auch dabei
Das gelbe Fahrrad im Bild gehört übrigens dem Weihnachtsmann…, er kam uns auch besuchen, genau wie ein Engel und Frau Holle. Hier ist der Fotobeweis (vorerst nur für den Weihnachtsmann):
ADB und Weihnachtsmann am SpitzenbaumDer Weihnachtsmann half sogar, die Bommeln im Baum zu befestigen, die textilen Schneekristalle schienen ihm sehr zu gefallen :-). Es war etwas neblig in der ersten Tageshälfte und so dauerte es nicht allzu lang, bis mir die Finger klamm wurden, aber mit Handschuhen klappte das Nadelhalten einfach nicht. Wenigstens hielt mich die Skihose warm.
1. Spitzenbaum DetailTrotz umfangreicher Vorarbeiten (zum Prozess siehe weiter unten) war das sorgfältige Befestigen zeitaufwändiger als gedacht – gegen 13Uhr war ich erst mit Baum Nummer Eins fertig. In der letzten Stunde hatte ich aber nur noch Kleinigkeiten perfektioniert, so dass wir wie geplant um 12:00 Uhr die Übergabe mit Ortsvorsteher Lothar Pietsch und dem Weihnachtsmann – mit Fototermin für die Presse – machen konnten (hier wird noch ein Foto nachgereicht, ich muss es mir erst noch von meinen Helfer*innen besorgen).
Ich war froh über die zahlreichen Begleiter, die aus Himmelpfort, Berlin und Erkner gekommen waren. Vom Haus des Gastes bekamen wir Tee und Kaffee und eine wunderschöne Aufwärmgelegenheit im Weihnachtsmannhaus an einem eisernen Herd mit loderndem Feuer, die wir zum „Auftauen“ genossen, bevor wir uns am frühen Nachmittag dem zweiten Baum auf der Festwiese widmeten.
2. Spitzenbaum - ZwischenstandUnd so sieht der zweite Baum aus – als „Work in Progress“ – denn fertig ist er noch nicht, es fing an zu nieseln und wurde langsam dunkel, daher mußten wir abbrechen. Am Sonntag, den 15.12.2013 Samstag, den 14.12.2013, werde ich den zweiten Baum fertig stellen. Geplant ist, noch einige der unteren Äste einzukleiden und auch noch ein Stück Stamm oberhalb des ersten Astwirbels. Eine ganze Reihe weißer Bommeln haben wir aber schon im Baum verteilt – sie verstärken den winterlich-märchenhaften Eindruck, den die Schneekristallspitzen erzeugen.
Das Ergebnis hat uns schon jetzt alle begeistert. Beide Bäume sind Hingucker und die vielen großen und kleinen Besucher von Himmelpfort, die auch unter der Woche das Weihnachtspostamt besuchten, waren sichtlich angetan. Viele Male wurde ich gefragt, warum ich das mache, die Antwort „weil ich es schön finde und möchte, das viele Menschen sich daran freuen können“, hat bisher allen genügt (ausführlichere Argumente finden sich am Ende meines Ankündigungsblogposts zur Aktion HIER).
Wie entsteht ein Spitzenbaum?
Aufmaß BaumDer Prozess ist gar nicht so kompliziert. Zuerst sucht man sich einen geeigneten Baum und nimmt Maß, denn vieles kann man zuhause vorbereiten – aber nur dann, wenn man eine genauer Vorstellung davon hat, was man braucht – man mißt also den Umfang von Stamm und Ästen und die Abstände zwischen den Stellen, die sich im Umfang stark unterscheiden. Ich mache das in einem kleinen Büchlein, dann fliegen mir die Zettel nicht herum.
Für große Flächen – etwa den bedeckenden Stamm – klebe ich mir die benötigten Ausmaße mit Kreppklebeband auf den Boden (siehe Bild – das wurde das Kleid für den zweiten Spitzenbaum, die Fichte).
Ausgelegte Spitzen
Vorarbeit im Trocknen und Warmen
Dort lege ich die vorhandenen Spitzendeckchen (am besten auf ebay eingekauft oder im Bekanntenkreis eingesammelt) so aus, dass sie von Form und Muster schön zu einander passen, stecke sie mit Nadeln fest und nähe sie dann nach und nach zusammen. Das ist schon etwas mühsam – für die Stämme beider Bäume habe ich ca. 30-40 Stunden Vorbereitungszeit gebraucht. Einzelne Teile kann man auch auf einem Tisch zusammennähen, am Ende eignet sich der Boden aber am besten. Gegen wunde Knie helfen Kissen, manchmal habe ich auf dem Bauch liegend gearbeitet.
Vorbereitung 1. Baum
Damit man beim Nähen nicht vor Langeweile stirbt, kann man wunderbar nebenbei Hörbücher hören oder Filme am Laptop schauen. Ich habe z.B. nebenbei diverse Vorträge auf YouTube angehört, um mich auf die Talkshow bei Anne Will zum Thema „Tötet der Kapitalismus?“ vorzubereiten. Das Bild oben zeigt das Kleid für den ersten Spitzenbaum, die Linde, das praktischerweise die Maße eines meiner Teppiche hatte. Rechts und links hatte ich die Spitzendeckchen nach Größe (klein, mittel, groß) und Format (rund, eckig, rautenförmig) sortiert bereit gelegt. Alle Deckchen habe ich vorher gebügelt, damit sie schön glatt liegen.
1. Spitzenbaum - Beginn
Am Baum wird es spannend – paßt das Kleid?
Das fertige Kleid im Rechteckformat habe ich dann vorsichtig zusammengelegt, in ein Stück Stoff eingeschlagen und am Baum auf einer Leiter stehend und mit Hilfe anderer wieder ausgerollt und sofort am oberen Rand mit Stecknadeln und einem Hammer erst einmal provisorisch befestigt.
Screenshot - 12-12-13
Auf Sorgfalt kommt es an – und Fingerspitzengefühl
Danach strafft man das Ganze in jede Richtung – die Spitzen müssen sehr stramm sitzen, denn beim ersten Regen werden sie schlaffer und sie sollen ja dann keine traurigen Falten werfen. Damit das Spitzenkleid an der gewünschten Stelle bleibt, kann man viele weitere Stecknadeln zum Festpinnen nutzen. Nur nicht tief in die Rinde treiben – das tut dem Baum weh. Dort, wo die Längskanten des Spitzenkleides aneinander treffen, wird sorgfältig zugenäht, auch alle sonstigen Stellen, wo einzelne Teile der Spitzendeckchen etwas unförmig herumhängen, werden mit Nadel und Faden fixiert. Alle dann nicht mehr notwendigen Stecknadeln werden wieder herausgezogen. Da, wo ich ein einzelnes Deckchen z.B. in der Baumkrone befestigen wollte, habe ich das nur mit Stecknadeln getan. Für ein paar Wochen wird das halten.
1. Spitzenbaum - Detail
Sorgfältiges Arbeiten ist wichtig, denn Spitzen leben von Akkuratesse – nicht nur der Muster selbst, die ihren Reiz ausmachen, sondern auch ihrer Form. Das Ergebnis lohnt die Mühe. Ich bin jedenfalls stolz auf mein Werk und hoffe, dass es vielen Menschen Freude macht und vielleicht sogar Lust auf Handarbeiten weckt. Ich danke allen, die mir heute geholfen haben und freue mich über Nachahmer*innen (und über Fotos davon!). Es ist sehr entspannend, mal etwas ganz Anderes zu machen als (in meinem Fall) Politik, Ehrenamt und sonstige Arbeit. Ich hatte großen Spaß bei der Aktion! Wenn es Berichte irgendwo über meine Spitzenbäume gibt, schickt mir die Links, dann kann ich sie hier einstellen. Das eine oder andere Bild werde ich auch noch ergänzen.
Gefallen Euch die Spitzenbäume? Über Feedback freue ich mich – nutzt einfach das Kommentarfeld dafür.
Update – Presselinks

Weitere Blogposts zum gleichen Thema:

  • Ankündigung der Aktion

Bäume in ein Kleid aus Spitzen hüllen? Am 12.12. mach ich das in Himmelpfort! (Termin neu wegen Xaver!)

****** TERMINÄNDERUNG: der ursprüngliche Termin – 6. Dezember 2013 – wird sturmbedingt (Xaver…) verlegt auf den 12.12.13 ******

beim Guerillastricken eines Fliederbaums im Januar 2012 (bei ca 20 Minusgraden)

beim Guerillastricken eines Fliederbaums im Januar 2012 (bei ca 20 Minusgraden)


Von mir ist schon bekannt, dass ich hier und da Dinge einstricke, die sonst eher ohne wollige Verschönerung zu finden sind: Bäume, Panzer, Flugzeuge, Straßenlaternen, Mülleimer, Bänke oder die Pfosten von Verkehrszeichen. Ich mache das immer wieder, überall auf der Welt, z.B. in Warschau, Belgrad, Wien, Helsiniki, Berlin und an allen vielen anderen Orten. Ich mache das oft unter meinem Künstlerinnennamen Anna Maria Nitthaeck (auf Twitter @Nitthaeck). Anna Maria schreibt noch seltener für ihren Blog, aber ein paar Texte (leider nur auf englisch) gibt es dort doch, man findet sie unter www.randomactsofknitting.wordpress.com.
Aber jetzt habe ich etwas Anderes vor, denn mich erreichte eine Inspiration aus Wien von S.M.Steinitz von einem Baum in Wien, der wunderschön in Spitze gehüllt war. Die Anregung kam mit diesem Tweet:
Quelle: https://twitter.com/smsteinitz/status/403140947640586240

Quelle: https://twitter.com/smsteinitz/status/403140947640586240


Solche Bäume habe ich im Internet hier und da schon gefunden, sie sind selten und jeder etwas anders aber alle sind Augenweiden.
Lacetrees - Spitzenbäume
Mein erster Gedanke war: So etwas will ich auch mal machen! Vom ersten Gedanken bis zum ersten Plan dauerte es nur ein paar Stunden…noch in der gleichen Nacht suchte ich das Internet ab nach Spitzendeckchen 🙂
Und das ist mein Plan:
Am Nikolaus, dem 6. 12. Dezember 2013 möchte ich Bäume in Himmelpfort verschönen, dem Ort, der Heimat des Weihnachtsmannes und des Weihnachtspostamtes ist und wo Jahr für Jahr Hunderttausende Briefe aus aller Welt an den Weihnachtsmann von seinen fleißigen Gehilf*innen beantwortet werden. Von meiner Idee habe ich dem Fürstenberger Bürgermeister Herrn Robert Philipp erzählt, zu dessen (und auch meiner) Gemeinde der Ortsteil Himmelpfort gehört. Er war schnell für die Idee gewonnen und stellte einen Kontakt zur Deutschen Post her, denn mir schwebte die Verschönerung des Baums vor dem Weihnachtspostamt vor. Auch bei der Deutschen Post rannte ich offene Scheunentore ein und traf auf große Unterstützung. Die Spitzendeckchen bekam ich teils geschenkt, einige sind aus eigenen Beständen, den überwiegenden Teil erstand ich im Internet (es werden wohl ca. 200 Stück in allen Größen sein am Ende). Eigentlich wollte ich ja auch nur einen Baum in einen Spitzenbaum verwandeln, aber nach einer Ortsbegehung habe ich mich für zwei Bäume entschieden (ich hoffe, die Spitzen reichen!).
Der Erste Baum…
…steht genau vor dem Weihnachtspostamt. Es ist eine Linde, deren Krone man zu einem rundem Knubbel zurechtgestutzt hat und die daher einen schönen, geraden und gleichmäßigen Stamm hat aber keine weiteren Äste, die sich oben verzweigen. Die Krone wird aus vielen kleinen Zweigen gebildet, die gemeinsam eine Art Kugel bilden. Der Stamm hat einen Umfang von 1,50m bis 1,85m und ist über 2m hoch. Da paßt eine ganze Menge Spitze ran…
SpitzenteppichEin Teppich in meinem Haus hat ungefähr die Maße des Baumstamms auseinandergeklappt – das ist sehr praktisch, dort habe ich bereits über 80 Deckchen ausgelegt, passende Strukturen einander zugeordnet und begonnen, die Deckchen zusammenzunähen (das ist viel mehr Arbeit als ich dachte, in einer sehr ungesunden Haltung – meine armen Knie!). Das alles erst am 6.12. direkt am Baum zu machen, würde viel zu lange dauern und schwerkraftbedingt auch viel komplizierter sein. Der gerade und glatte Stamm macht das Vorarbeiten zum Glück möglich. Und so sieht der mit Spitzendeckchen belegte Teppich aus – am 6.12. werden alle diese Spitzen den Baum vor dem Weihnachtspostamt schmücken und ihn in eine Säule aus Schneekristallen verwandeln!
Der zweite Baum…
…steht auf dem Mittelalter-Weihnachtsmarkt (er ist für einen Besuch sehr zu empfehlen!), der direkt hinter der Weihnachtspost beginnt und sich bis zum See von Himmelpfort erstreckt.
Die Klosterruine von Himmelpfort im Sommer (Bildquelle: Website Himmelpfort -http://www.himmelpfort.net/galerie.html)

Die Klosterruine von Himmelpfort im Sommer (Bildquelle: Website Himmelpfort -http://www.himmelpfort.net/galerie.html)


Das Gelände ist wie geschaffen für einen romantischen Markt, denn links und rechts wird es von mit Grün berankten Ruinen aus Backstein begrenzt. Der Baum steht in der Mitte einer schönen, großen Wiese und erhebt sich hoch und mit majestätischer Krone (hier wird später ein Foto ergänzt). Mit Spitzen umgarnt, muss er einfach faszinierend aussehen! Aber die Umsetzung wird zur Herausforderung: der Untergrund ist uneben, der Stamm viel höher und viel dicker und auch nicht gerade regelmäßig. Sein Umfang mißt stattliche 2,50m am unteren Ende, nur etwa 60cm weniger an den schmaleren Stellen. Da müssen auf jeden Fall die größeren Spitzendecken her.  Der Stamm teilt sich nach ca. 1,85m in einige starke Äste, die geradezu danach schreien, ebenfalls verschönt zu werden. Aber das ist schon recht hoch (die Äste wachsen ja wenig überraschend Richtung Himmel) und die Wiese ist um den Baum herum leider nicht eben. Ob das daher alles so klappt mit den Leitern und dem Befestigen, werde ich erst am 6.12.12. sehen.
Update vom 12.12.2013: ich habe mich kurzfristig für einen anderen Baum entschieden, eine kurz dahinter stehende Fichte. Details gibts im Bericht zur Aktion!
Unterstützer und Helferinnen
Helfen werden mir die Betreiber des “Haus des Gastes” vor Ort, vor allem mit Leitern – ohne die geht gar nix. Unterstützung kommt auch von den Frauen, die sich schon seit etlichen Jahren in Fürstenberg/Havel regelmäßig treffen, um für einen guten Zweck zu stricken. Sie wollen weiße Bommeln beisteuern, die wir in den Baum hängen werden. Auch aus Berlin kommt Hilfe :-),  von der Mühle Himmelpfort und aus Erkner.
Der Zeitplan – von Nikolaus bis Neujahr
Am 5.12. treffen sich die strickenden Frauen von Fürstenberg/Havel um 13:30 Uhr zu einem Vorbereitungstreffen bei mir im havel:lab in Fürstenberg.
Am 12.12. werde ich ab 9:30 Uhr (vielleicht wirds auch 10:00) in Himmelpfort eintreffen und vorraussichtlich mit dem Baum vor dem Weihnachtspostamt beginnen. Ich habe keinen Schimmer, wie lange das dauert, aber da die Deckchen größtenteils bereits zusammengenäht sind, bin ich vielleicht schon in einer Stunde fertig.
Am 12.12. vorr. ab 11:00 Uhr werde ich den zweiten Baum in Angriff nehmen und hoffe, ich scheitere mit dem Vorhaben nicht, da die Rahmenbedingungen doch schon etwas kompliziert sind. Wir werden es sehen… Unterhaltsam wird es ganz bestimmt, dabei zuzuschauen, wie ich um den Baum klettere und versuche, Spitzendeckchen um den Baum zu befestigen. Ich hoffe nur, es regnet und schneit nicht, denn dann wird es fast unmöglich.
Am 12.12. um 12:00 Uhr ist die offizielle Übergabe an den Ortsvorsteher Lothar Kliesch durch mich und den Weihnachtsmann. Ja, der Weihnachtsmann wird höchst selbst mein Geschenk an Himmelpfort und seine Besucher*innen mit überreichen. Die Übergabe ist natürlich symbolischen Charakters und eigentlich ist es ja auch eher eine Leihgabe…
Anfang Januar werde ich die Spitzen dann wieder abmachen, die bis dahin hoffentlich von Vandalen noch unbeeinträchtigt sind. Vielleicht lasse ich aber auch einen Teil dran – das entscheide ich wenn es soweit ist.
“Warum macht sie das?! Warum Spitzendeckchen?!”
Falls sich jemand die ganze Zeit fragt, warum zur Hölle ich Bäume in Spitzengewänder stecke – hier ein paar Antworten:

  • Guerillastricken/-häkeln bedeutet, die Umwelt mit textilem Material zu verschönern, da wo sie besonders häßlich ist (Bauzäune, Militärflugzeuge, Panzer und dergleichen) oder da, wo sie besonders schön ist (Bäume, Brücken…).
  • Die ungewöhnliche Kombination aus Schneekristall-Spitzen an einem Baum verändert die Sicht auf beides – die Spitzendecken und den Baum. Diese Kombination ist pure Ästhetik, die sich jedem Betrachter erschließt. Baum und Spitzen vereinen sich zu einem Kunstwerk, das nicht im Museum eingesperrt und nur für Geld anschaubar ist, sondern das genau dort ist, wo auch die Menschen täglich vorbeigehen, die das Kunstwerk nicht nur sehen, sondern auch anfassen können.
  • Himmelpfort ist ein romantischer kleiner Ort in meiner neuen Heimat, der auch in der Weihnachtszeit ein beliebtes Ausflugziel ist. Dort flanieren sehr viele Menschen im Advent und ihnen allen möchte ich den Baumschmuck zum Geschenk machen. Mögen sie sich daran erfreuen, möge er ihren Alltag verschönern, sie etwas zum Staunen bringen und allen zeigen, was man für großartige Dinge nur mit Nadel und Faden zustande bringen kann.
  • Die Verwendung der Spitzendeckchen ist keineswegs eine Mißachtung der darin investierten Handarbeit sondern Anerkennung durch Ausstellung und Verarbeitung in einem öffentlichen Kunstwerk. Es ist für die Schöpfer*innen dieser textilen Schneekristalle sicher eine befriedigendere Vorstellung, täglich Menschen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, als in einer Schublade unbenutzt und unbeachtet vor sich hin zu modern.
  • Jeder Baum wird zur Ausstellung und zum Hohelied auf die Handwerkskunst vor allem von Frauen, die mit Nadel und etwas Garn aus dem Nichts filigrane Kunstwerke schufen. Die Vielfalt der Muster, Handwerkstechniken und die Feinheit der Details beeindrucken sicher jeden, der vor einem dieser Spitzenbäume stehen wird. Mich haben sie auf jeden Fall sehr beeindruckt, zum Beispiel als ich die ca. 200 Deckchen mit Andacht bügelte.
  • Ich liebe selbst textiles Handarbeiten, seit meinem 10. Lebensjahr habe ich nie aufgehört, mich damit zu beschäftigen. Vor allem alte Techniken haben es mir angetan, viele brachte ich mir mit einem uralten Buch – dem Klassiker seiner Zeit am Ende des 19. Jahrhunderts – selbst bei.
    Solche Schneesterne fertige ich für den Weihnachtsbaum - mit diesem kleinen Metallschiffchen, daher nennt man die Technik "Schiffchenspitze" (oder Occhi - italienisch für Augen - wegen der kleinen Ösen)

    Solche Schneesterne fertige ich für den Weihnachtsbaum – mit diesem kleinen Metallschiffchen


    Ich habe geklöppelt, Reticella-Spitzen mit der Nadel gezaubert, Occhi-Spitzen (auch Schiffchenspitzen) mache ich noch heute; ich flocht Fäden durch schmale Streifen Tüll, um dadurch Spitze im Meter entstehen zu lassen, habe Nadelmalereien gestickt und etliches andere. Natürlich habe ich auch gehäkelt (selbst mit den winzigsten Nadeln) und gestrickt. Mich faszinieren diese Techniken und so habe ich noch zu DDR Zeiten freie Textilkunst studiert, Schwerpunkt Stickerei und sowohl mit der Hand als auch mit einer alten Handstickmaschine (Kurbelmaschine) Stickereien entworfen und umgesetzt. Diese Spitzenbäume sind eine Hommage an das textile Handwerk und für mich auch Erinnerung an die Zeiten, in denen ich besonders viel solcher Dinge selbst gemacht habe – die Achziger Jahre.

Spitzendeckchen-Spenden gesucht!
Mein Vorrat wird vielleicht nicht ganz dafür reichen, deshalb freue ich mich weiterhin über Spenden von Spitzendecken, gehäkelt, gestrickt, geklöppelt – ganz egal, auch kleine Fehler oder Fleckchen sind kein Problem, das kann ich verstecken oder reparieren. Jede Größe ist verwendbar, vom Minideckchen mit 5cm Durchmesser bis zur großen Decke. Ich nehme auch nach dem 12.12. noch gern welche an, dann kann ich den Baum an den folgenden Tagen noch weiter verschönern oder sogar einen weiteren Baum in Angriff nehmen. Wer etwas spenden möchte – am besten das Kontaktformular auf dieser Website ausfüllen! Wer mit seiner Spende genannt werden möchte – einfach Bescheid sagen. Vielleicht hat ja jemand noch in einer Schublade die Deckchen von Oma liegen und sowieso keine Verwendung mehr dafür. In Himmelpfort würden sie viele Menschen wochenlang erfreuen und bestimmt auf vielen Bildern wieder auftauchen und so noch ein wenig berühmt werden auf ihre alten Tage. Sie werden Teil eines Kunstwerkes – á la “Kunst am Baum”.
Anreise
Wer am 12.12. oder irgendwann danach die Spitzenbäume in Augenschein nehmen und vielleicht dabei auch den Weihnachtsmarkt besuchen will, der findet Himmelpfort im Landkreis Oberhavel, ca. 80km nördlich von Berlin (Kartenlink). Der nächste Bahnhof ist in Fürstenberg/Havel, wenige Kilometer entfernt. Fürstenberg ist von Berlin mit der Regionalbahn im stündlichen Takt in 55min zu erreichen.
Feedback?
Ich freue mich über Feedback zur Aktion, vor allem auch über Links zu Berichten, die irgendwo darüber erschienen sind 🙂
Update 12.12.2013 – einen Bericht zur Aktion gibt es HIER.

The Fifth Estate – das komische Gefühl, sich in einem Hollywoodfilm wieder zu finden

Cover Inside WikiLeaksEs ist kein Geheimnis, dass ich mit Daniel Domscheit-Berg verheiratet bin und auch nicht, dass er drei Jahre lang als Nummer zwei von WikiLeaks gemeinsam mit Julian Assange WikiLeaks aufgebaut hat. Über diese Zeit schrieb mein Mann sich das Buch „Inside WikiLeaks“ von der Seele und eben jenes Buch floss (neben etlichen anderen Quellen) in das Drehbuch für einen Film von Dreamworks ein. Der Film heißt im Original „The Fifth Estate“, in Deutschland kommt er mit dem Titel „Inside WikiLeaks – die Fünfte Gewalt“ über Constantin Film in die Kinos. Er thematisiert am Beispiel der frühen Geschichte von WikiLeaks die Macht des Internets, als neue Kraft neben Legislative, Exekutive und Judikative sowie den Medien als der vierten Gewalt. (Wikipediaeintrag zum Film).

mein Guerillaknitting beim 28C3 Kongress in Berlin - fast an der gleichen Stelle, wie am Filmset :-)

mein Guerillaknitting beim 28C3 Kongress in Berlin – fast an der gleichen Stelle, wie am Filmset 🙂


In diesem Film wird mein Mann von Daniel Brühl, einem meiner Lieblingsschauspieler gespielt, gerade läuft mit ihm in der Hauptrolle als Niki Lauda auch der Film Rush in den Kinos. Julian Assange wird dargestellt durch Benedict Cumberbatch, bekannt u.a. als Sherlock. Ich war schon bei den Dreharbeiten in Berlin beeindruckt, wie authentisch er erschien – in Gestik, Mimik und Dialekt – bis hin zum Aussehen (man muss den Film daher eigentlich unbedingt in der Originalfassung sehen!). Als Statistin habe ich in Berlin an drei Drehtagen mitgespielt als Kongressteilnehmerin der CCC Kongresse von 2008 und 2009, übriggeblieben ist eine halbe Sekunde im Film, wo ich im Auditorium des großen Saales im BCC sitze (mal sehen, wer mich entdeckt ;-)). Es war faszinierend, mal so einen Dreh mitzuerleben, das ganze lief hochprofessionell ab, die Kulisse fand ich nah dran an den „richtigen“ CCC Kongressen. Ich hab sogar ein wenig Guerillaknitting in das Set geschmuggelt, das ist auch authentisch, denn die gleichen Strickstücke waren schon auf richtigen CCC Kongressen im Einsatz (siehe Bild).

Im Film kommt aber auch eine Figur vor, die meinen Namen trägt und von Alicia Vikander gespielt wird. Leider hatte sie in Berlin keinen Auftritt, ich bin ihr also nicht begegnet, mein Schauspieler Alter-Ego hätte ich schon gern kennengelernt.

Screenshot Alicia Vikander YT onset Intervidw

onset Interview Alicia Vikander beim The Fifth Estate Dreh (YouTube)

Ich fand es extrem schräg, eine fremde, super junge und bildschöne Frau mich darstellen zu sehen. Sie trug meinen eigenen Schmuck (den hat meine Schwester eine begnadete Goldschmiedin mit Werkstatt in Kiel geschaffen) und rote Strumpfhosen, so wie ich oft. Bei den Dreharbeiten bekam ich extra ein Verbot, rote oder orangene Sachen zu tragen, damit ich als kleine Statistin nicht den Farbcode von Alicia Vikander dopple. Die Ansage war: „You can wear whatever you want, as long as it does not look like typical you“ – das ist gar nicht so einfach… Alicia hat in einem on set Interview ein paar Fragen zum Film beantwortet. Erst dort ist mir aufgefallen, dass sie sogar meinen Zickzackscheitel trägt :-). HIER kann man es nachhören (oder Klick auf das Bild oben).

Der Film ist an vielen Stellen nah an den wahren Begebenheiten dran, aber er erfindet auch Sachen, läßt andere weg, stellt Vieles vereinfacht dar oder anders als es war. Das betrifft die Rahmenhandlung und konkrete Aktivitäten einzelner Protagonisten, Schauplätze des Geschehens oder auch Zeiträume, in denen etwas passierte. Ich kann und will keine Liste aller Details erstellen, in denen sich der Spielfilm von der Realität entfernt hat. Aber ein paar Punkte, die mich selbst betreffen, will ich doch erwähnen, das erspart mir vielleicht ein paar Fragen danach, ob irgendein Umstand denn nun wirklich so war.
Meine Position zu den Grenzen der Transparenz: Richtig ist, dass ich die Veröffentlichung der privaten Mitgliederadressen einer britischen Rechtsradikalenpartei nicht in Ordnung fand, weil ich der Meinung war (und bin), dass damit Menschen gefährdet werden, auch Unbeteiligte wie Familienangehörige und Kinder. Bei aller Ablehnung von rechtsradikalem Gedankengut, die ich uneingeschränkt teile, diese Art der Veröffentlichung ist in meinen Augen einfach keine geeignete Maßnahme, um dagegen vorzugehen. Ich vertrat aus gleichem Grund früh die Meinung, dass Transparenz nicht um ihrer selbst Willen einen Wert hat und nicht in jedem Fall mehr Transparenz grundsätzlich besser ist. Es gibt diesen schmalen Grat zwischen notwendiger Transparenz aus öffentlichem Interesse auf der einen Seite und Verletzung der Privatsphäre einzelner – bishin zu ihrer persönlichen Gefährdung auf der anderen. Diese Linie ist nicht einfach zu ziehen, aber sie muss gezogen werden. Assange sprach zwar von schadensbegrenzenden Maßnahmen, faktisch fanden aber so gut wie nie welche statt. WikiLeaks stand und steht immer noch für radikale Vollveröffentlichung – um jeden Preis. Ich halte das für verantwortungslos – unabhängig davon, dass ich Whistleblowing und Leaking für unabdingbar halte – als Korrektive in Demokratien, die keineswegs immun gegen extreme Fehlentwicklungen sind, Fehlentwicklungen, die die Demokratie sogar selbst im Kern erschüttern können. Am NSA Skandal haben wir genau das erlebt. Wir können aber gerade an der Art und Weise der Veröffentlichung der NSA Leaks auch sehen, wie Edward Snowden bewußt diese Grenze ziehen wollte und eben nicht einfach alles veröffentlichte, was er auf seiner Festplatte hatte.
Mein Verhältnis zu Julian: Nein, Julian hat uns nie bei einem intimen Beisammensein gestört. Genau genommen, ist mir Julian nie begegnet. Ich habe Daniel erst später kennengelernt, im Februar 2010, kurz vor der Veröffentlichung des Collateral Murder Videos durch WikiLeaks. Was stimmt: Auch wenn der Tweettext im Wortlaut anders war (sehr viel wortreicher) ich entdecke den Tweet, in dem Assange mich mit dem CIA und meinen Mann mit dem FBI assoziierte und war ganz im realen Leben entrüstet. Ich habe unzählige Male hinter meinem Mann gestanden und die Chats der beiden verfolgt, in denen Assange meinem Mann die wüstesten Unterstellungen schrieb. Nein, ich war kein Fan des Kommunikationsstils von Assange. Seine permanenten Unterstellungen, mich und meinen Mann betreffend, Drohungen diverser Art, immer wieder falsche Behauptungen – das nervt auf die Dauer, vor allem, wenn Dritte diese Dinge weiterverbreiten, ohne sie zu hinterfragen. Das ganze hat zum Glück abgenommen, es gibt doch nicht mehr so viele, die alles für bare Münze nehmen, was Julian kommuniziert. Es hat sich inzwischen wohl zu oft wiederholt, dass er Mitstreiter diskreditiert, die es wagen, Kritik zu äußern. Zuletzt hatten das Unterstützer der WikiLeaks Partei in Australien ja erleben dürfen, die nach großen innerparteilichen Defiziten in Transparenz und demokratischen Grundprinzipien die Partei verließen.
Meine Rolle als Freundin von Daniel: ich bin 20 Jahre älter als mein schauspielendes Alter Ego – eine Frau, die 10 Jahre älter ist, paßte wohl nicht in Hollywood Clichés, sie mußte daher 10 Jahre jünger sein als mein Mann. Offenbar nicht so schlimm, denn beim Getogether nach der deutschen Premiere hielt mich ein Journalist für Alicia Vikander :-). Apropos Stereotype – Immerhin wurde eine frühere Drehbuchfassung noch einmal geändert, denn da hätte ich in Frauenzeitschriften blätternd neben einem erkaltenden Candlelightdinner mit Kaminfeuer stundenlang auf Daniel gewartet – die typische Heimchenfrau. Jeder, der mich auch nur ansatzweise kennt, hätte sich darüber totgelacht. Im tatsächlichen Film warte ich zwar immer noch und das Essen wurde tatsächlich kalt, aber die Kerzen und das Kaminfeuer sind wenigstens verschwunden und die Frauenzeitschriften durch einen Laptop ersetzt (mit Piratenparteiaufkleber!). Immerhin. Im realen Leben habe ich damals gar keine Braten gekocht, wir holten uns öfter Nudeln vom Lieblingsitaliener und die wurden nie kalt. Im realen Leben hat sich damals Daniel aber tatsächlich kaum von seinem Laptop entfernt. Einen Tag-Nacht-Rhytmus gab es nicht. Oft schlief ich ein während Daniel im Bett neben mir saß, den Laptop auf dem Schoß und noch mit WikiLeaks beschäftigt war – die halbe Nacht. Ich fand seine Arbeit wichtig, also war das auch okay.

2. Gov20 Barcamp (2010), credit: Henning Schacht

Open Government Keynote beim 2. Gov20 Barcamp (2010), credit: Henning Schacht


Als Berufstätige und Aktivistin: ich habe nie bei EDS gearbeitet, war also auch nie Arbeitskollegin von Daniel. Ich habe allerdings bei ähnlichen Firmen gearbeitet, u.a. 9 Jahre bei Accenture, einem EDS Wettbewerber. Etwa zu der Zeit, als Daniel erstmalig zu WikiLeaks stieß – also mehr als 2 Jahre bevor wir uns trafen, begann ich, mich intensiv mit demokratischen Fragen und der Transparenz von Verwaltung zu befassen. Als ich Daniel kennenlernte, war ich schon lange selbst zu Open Government aktiv, hatte das Government 2.0 Netzwerk Deutschland mitgegründet, das Open Government Barcamp in Deutschland initiiert u.a.. Alles das kommt im Film nicht vor. Es ging dort allerdings auch nicht um meine Person sondern um WikiLeaks, also ist das schon okay. Aber es ist für einen selbst trotzdem seltsam sich in einer Rolle gespielt zu sehen, die fast nichts von dem hat, von dem man denkt, dass es einen besonders ausmacht.
Das sind so die Sachen, die mir jetzt noch einfallen. Man könnte sich darüber aufregen, ebenso wie über andere Abweichungen vom realen Leben, aber das wäre unpassend, denn dieser Film ist kein Dokumentarfilm sondern ein Hollywoodspielfilm (zum Beispiel glaubt hoffentlich kein Mensch, das WikiLeaks Team hätte JEMALS Skype verwendet…).
Da waren sie noch ein Team: Julian Assange und Daniel Domscheit-Berg, by Jacob Appelbaum

Da waren sie noch ein Team: Julian Assange und Daniel Domscheit-Berg, by Jacob Appelbaum


Der Film hatte die fast unmögliche Aufgabe zu bewältigen, das komplexe Spannungsfeld von Weltpolitik, Untergrund und zwischenmenschlichen Konflikten widerzuspiegeln, in dem sich mein Mann, Julian Assange und andere Beteiligte befanden, darunter der anonym gebliebene „Architekt“. Im Film heißt er „Markus“ und wird hervorragend gespielt von Moritz Bleibtreu. „Markus“ hatte die Software für die neue Submission Plattform programmiert und beim Weggang von WikiLeaks an sich genommen, weil er das von ihm geschaffene Werkzeug Julian nicht länger überlassen wollte. Das ist auch einer der Momente, der im Film ganz anders rüberkommt, da sieht es so aus, als würde mein Mann die Submission Plattform zerstören. Nun ja.
Birgitta JonsdottirAuch Birgitta Jonsdottir spielt im Film eine Rolle, sie ist Aktivistin und Parlamentarierin in Island, Vorkämpferin für IMMI – die Icelandic Modern Media Initiative und jetzt Vorsitzende der Piratenpartei in Island. In 2011 habe ich sie für das Government 2.0 Barcamp interviewed – wer das lesen will: HIER. Birgitta ist ein großartiger Mensch und personifiziert die gesellschaftlichen Veränderungsmöglichkeiten durch ein einzelnes Individuum. Sie hat in Island vieles verändern können und ist immer noch dabei.
Die Geschichte von WikiLeaks ist nicht einfach erzählt, es gibt kein schwarz-weiß dabei, obwohl so viele diese Interpretation gern versuchen. Kann ein Hollywoodfilm es schaffen, diese Komplexität fair und differenzierend abzubilden? Ich habe auch nach zweimaligem Ansehen des Films keine abschließende Antwort darauf, aber ich teile die Bewertung einiger, es sei ein Anti-Assange Film, überhaupt nicht. Ich finde, dass der Film nichts beschönigt aber er wertet auch nichts von den großartigen Beiträgen sowohl der Person Julian Assange als auch der Organisation WikiLeaks ab. Leaking ist erst durch WikiLeaks zu einer Art „Kulturtechnik“ der digitalen Gesellschaft geworden, ein Akt der Selbstverteidigung, wenn grundlegende Werte und Rechte verletzt werden.
Durch den Film werden nun hoffentlich viele wichtige Leaks bekannter, die in unseren Medien eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielten (Steuerschiebereien der Superreichen, staatliche Korruption in Kenia, Scientology Machenschaften, u.v.a.). Es ist ja nicht wahr, dass WikiLeaks sich vor allem auf US Leaks fokussiert hat – jedenfalls für die ersten Jahre stimmt das nicht. Aber auch die großen Leaks zu US-militärischen Einsätzen in Afghanistan und Irak haben Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in bis dahin unbekannten Maßstäben erkennbar gemacht. Alles das zeigt der Film und diese Botschaften sind wichtig. Wichtig ist aber auch die Erkenntnis, dass Macht und Publicity korrumpierbar machen und Menschen Gefahr laufen, ihren eigenen Werten zuwider zu handeln. Das zu verhindern, braucht es gute Strukturen, die auf Transparenz und demokratischen Prinzipien auch im Inneren der Organisation aufbauen. Was passiert, wenn zu schneller und vielleicht auch zu großer Erfolg einer einst sehr kleinen Plattform in Kombination mit der Dominanz ihres Gründers das Entstehen solcher Strukturen verhindert, kann man an WikiLeaks sehen. Diese Botschaft ist eine Warnung an NGOs und Initiativen, die sich ähnlichen Herausforderungen ausgesetzt sehen, man kann sehr viel daraus lernen.
Ein breiteres Publikum als je zuvor kann sich durch den Film mit diesen wichtigen Themen der Gegenwart auseinandersetzen – der Rolle von Whistleblowing, Transparenz und Journalismus. Aber auch der Verantwortung jedes Menschen, der Wind bekommt von miesen Machenschaften und in dessen Hand es liegt, etwas zur Beseitigung dieses Mißstandes zu unternehmen. Das betrifft uns alle und unsere eigene Rolle als potenzielle Veränderer in einer digitalen Gesellschaft, in der wir alle viel mehr Macht haben (können) als das je zuvor möglich war.
Seine Weltpremiere hatte der Film als Auftakt beim Filmfestival in Toronto Anfang September, in Deutschland war gestern, am 21.10.13 Premiere in Berlin, ab 31. Oktober kommt er in unsere Kinos. Der Trailer ist schon zu sehen, Insider werden das Tacheles und einige andere Orte in Berlin erkennen (Video abspielen durch Klick auf das Bild). Ich hoffe, Zuschauer nehmen den Film als das was er ist – ein spannender Hollywood Film rund um ein hochaktuelles Thema, der auf Tatsachen aufbaut aber KEIN Dokumentarfilm oder Tatsachenbericht ist. Vor allem aber sollte er ein Appell sein an uns alle, uns für die Verteidigung demokratischer Grundrechte und gegen alle Arten Mißstände auch ganz persönlich einzusetzen.
Im Trailer spricht Julian Assange zum Schluss:

„Du willst die Wahrheit wissen? Finde sie selbst heraus. Davor haben sie Angst. Vor DIR.“ –

Du bist die Fünfte Gewalt. Das ist für mich die wichtigste Botschaft des Films. Deshalb sollten ihn viele Menschen sehen, um genau das zu verstehen und um es nie mehr zu vergessen.
Screenshot Trailer The Fifth Estate
Noch ein Wort zur Premiere:
Ich fand es großartig, Familie und so viele gute Freunde und Wegbegleiter dort zu sehen – Ihr habt uns den Abend leichter gemacht! Dieser ganze Kram mit Rotem Teppich, Blitzlichtgewitter, Interviewmarathon und dem Gefühl, auf dem Silbertablett serviertes Freiwild für jeden zu sein, der schon immer mal eine wie auch immer geartete Meinung über einen äußern wollte, das war alles schwer zu ertragen. Was die nächsten Wochen für uns bringen, wissen wir nicht. Aber wir wissen Euch an unserer Seite und das hilft 🙂 Danke!

Red Carpet - Inside WikiLeaks Premiere Berlin

Vorn von links nach rechts: Bruno Kramm, ich, Cornelia Otto, Christiane Schinkel – und ganz rechts im Bild mein Vater :-), in der zweiten Reihe Daniel


 
Update 1: 
Fast drei Jahre nach Erscheinen des Buches „Inside WikiLeaks“ – das eine der Grundlagen für das Drehbuch zum Film wurde – kam eine interessante Hintergrundgeschichte ans Licht. Offensichtlich hatte Julian Assange im Januar 2011 David House, einen Unterstützer aus dem engsten Kreis von Chelsea Manning, nach Berlin in unsere Wohnung geschickt, um dort das Manuskript des Buches zu stehlen. David House selbst hat dem US Magazin Wired diese Geschichte erzählt. Im Januar 2011 stand er tatsächlich unangemeldet vor unserer Tür, kam rein und unterhielt sich eine ganze Weile beim Tee mit uns. Er verhielt sich damals beunruhigend merkwürdig. So fing er an, ungefragt und schnell in unserer Wohnung von Raum zu Raum zu wandern, während mein Mann kurz auf Toilette war. Als er auch das Arbeitszimmer meines Mannes betreten wollte, habe ich mich ihm in den Weg gestellt und die Tür geschlossen. Schließlich kannte ich ihn überhaupt nicht persönlich und zu Führungen in der Wohnung möchte ich immer noch selbst einladen. David H. stellte auch komische Fragen, z.B. ob wir einen Hund hätten und solche Sachen. Das alles hatte mich sehr irritiert, aber irgendwann denkt man nicht weiter dran. Bis man dann die Geschichte im Wired liest – drei Jahre später und sich keine weiteren Fragen mehr stellt…
Update 2: Ein paar Berichte zum Film verlinkt:

Internet überwindet 28 Jahre und 7.200km – eine wahre Geschichte (1985 DDR – 2013 Internet)

ArshaAm 18. August 2013 erhielt ich auf Facebook eine seltsame Nachricht:

„Hi… My father Shaji Z. had a penfriend named Anke Domscheit from Germany 25 years back.. I saw the letters few days back, got interested about it and just searched fb and saw your profile… I would like to know whether it was you…. She was 18 in the year 1985-86 when they were writing letters.. Kindly give me a reply…..“

Ja, es stimmte. Ich hatte einen indischen Brieffreund, damals, vor über einem Vierteljahrhundert. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir uns schrieben, vielleicht ein Jahr. Seit diesem 18. August schreibe ich mich mit der Tochter meines damaligen Brieffreundes, einer Studentin der Bauingenieurswissenschaften, Arsha Shaji. Ich bin immer noch völlig fasziniert davon, wie soziale Netze heute Raum und Zeit überwinden und Kontakte ermöglichen, die früher undenkbar waren. Ich möchte die Geschichte aber von vorn erzählen.
Im Oktober 1985 hatte ich gerade die 12. Klasse begonnen, ich war 18 Jahre alt und besuchte die Erweiterte Oberschule hinter dem eisernen Vorhang in Strausberg, östlich von Berlin. Ich liebte Fremdsprachen und Kontakte zu Menschen aus anderen Kulturen. Für einen Ossi war das kein einfaches Hobby, denn Reisen waren nur eingeschränkt möglich und damit auch Kontakte ins Ausland. Aber ich war kreativ und stöberte auf dem jährlichen Solidaritätsbasar der DDR-Medien auf dem Alexanderplatz in den dort für Briefmarkensammler angebotenen Leserbriefumschlägen aus aller Welt. Ich ignorierte die Briefmarken und suchte die spannendsten Absender. Solche Umschläge erstand ich und schrieb dann Briefe an mir völlig unbekannte Menschen, irgendwo auf der Welt. Einer dieser Adressaten war ein 24jähriger junger Mann aus Kerala in Indien, Shaji Z., der Vater von Arsha. Und er antwortete mir!

Arsha hat mir einen Scan von meinem ersten Brief gemailt.

Arsha hat mir einen Scan von meinem ersten Brief gemailt.


Die Erinnerung an diese Brieffreundschaft aus längst vergangenen Zeiten kam zurück. Ich antwortete Arsha bald:

Hi, this is a really funny story! Yes this was me and I do remember. What a wonder that he did not throw those letters away. Its so long ago! The internet can do magic in finding remote people, remote in a geographical sense but also remote in terms of time. This seems like from another life… I was still caught behind the iron curtain, locked into a country. Only 3 years later the Berlin Wall fell forever and I could travel around. I was also in India, in 2010, visiting Bunker Roy in the barefoot college in Tilonia, not too far from Jaipur. My best regards for your father. It seems he got a happy life! I got lucky too, with the best husband in the world and a great son, who is 13 years old. best wishes from Germany! Anke

Arsha schrieb mir, dass ihr Vater 1992 heiratete. Sie ist die ältere von zwei Töchtern und 20 Jahre alt, ihre kleine Schwester ist genauso alt wie mein Sohn. In einem Jahr wird sie ihr Studium als Bauingenieurin abgeschlossen haben. Ihr Vater hatte zwar öfter davon erzählt, dass er früher eine deutsche Brieffreundin hatte, aber es hieß immer für die Kinder, diese Briefe existieren nicht mehr. Erst in diesem Sommer hat er den Töchtern den Inhalt einer alten Kiste gezeigt – darin waren meine Briefe.

2. Brief von mir, Seite 1

2. Brief von mir, Seite 1


Arsha hatte gleich die Idee, auf Facebook nach mir zu suchen. Ihr Vater hielt das für eine zweifelhaftes Unterfangen, es ist ja so lange her und bestimmt hätte ich einen anderen Namen. Aber mein Name ist noch der gleiche und Arsha fand mich in ein paar Minuten 🙂
der 2. Brief von mir, Seite 2

der 2. Brief von mir, Seite 2


Ich war sehr neugierig, was ich denn so vor 28 Jahren schrieb und bat Arsha, mit doch mal einen Brief von damals einzuscannen. So erhielt ich meine ersten beiden Briefe per email. Was für eine Reise in die eigene Vergangenheit! Was für ein lustiges Englisch habe ich damals nur geschrieben! Und was für naive Inhalte…
mein 2. Brief - Seite 3

mein 2. Brief – Seite 3


mein 2. Brief, Seite 4

mein 2. Brief, Seite 4


Mit Arsha schreibe ich heute über andere Dinge als damals mit ihrem Vater. Wir tauschen uns aus zum Thema Geschlechtergerechtigkeit auf der Welt – in Indien und bei uns in Deutschland, über Politik und unser Leben. Ich schrieb ihr, wie es seit damals weiter ging, dass ich tatsächlich Textilkunst studierte aber auch wie der Fall der Mauer alles veränderte, wie mein berufliches Leben ein paar Zick-Zacks erfuhr und wie ich heute so lebe und arbeite. Arsha übersetzte sich meine Blogtexte (hoffentlich hat Google Translate sie nicht allzu sehr verunstaltet) und erfuhr etwas über den Wahlkampf der Piratenpartei in Deutschland :-). Zur Zeit ist Arsha im Prüfungsstress und ich drücke ihr die Daumen. Ich hoffe sehr, wir lernen uns einmal persönlich kennen. Vielleicht kann sie ja sogar in Deutschland einen Masters machen (Tipps v.a. für englischsprachige Studiengänge, die irgendwie mit Civil Engineering zu tun haben, gern an mich!).
Arsha-with-Friends

Arsha mit ihren Freundinnen


Ich habe Arsha natürlich gefragt, ob ich alles das schreiben kann, auch mit ihrem Namen und Fotos – sie war einverstanden. Mir bedeutet diese kleine Geschichte sehr viel. Sie ist für mich exemplarisch für die Grenzenlosigkeit des Internets und wie sich Menschen, die sich nie begegnet sind, einander näher kommen können. Sie zeigt, über welche Ecken wir alle mit anderen Verbindungen haben oder haben könn(t)en. Wie klein die Welt ist und wie wichtig es daher ist, sich nicht so stark an Nationalismen zu orientieren. Das Internet kennt solche Grenzen einfach nicht. Es zeigt uns im Gegenteil, wie einfach sich selbst Barrieren wie Jahrzehnte Zeit und Tausende von Kilometern überwinden lassen und wie solche Bindungen – oder Abkömmlinge dieser Bindungen – selbst den Untergang eines Gesellschaftssystems überleben können. Ich bin immer noch fasziniert und danke Arsha sehr dafür, dass sie mich einfach so kontaktierte. Ich bin so um eine Freundschaft reicher geworden.
Berlin-Kerala 7.200 km Luftlinie

Berlin-Kerala 7.200 km Luftlinie