Terminhinweis: Heute abend bei Maybrit Illner – Spion im eigenen Land – können wir den USA noch trauen?

Nach Lanz vor einer Woche bin ich diese Woche – Donnerstag, 17.07.2014, 22:15 Uhr –  zu Gast bei Maybrit Illner im ZDF. Es geht wieder einmal um den Überwachungsskandal – wie immer stehen dabei die USA im Vordergrund.
** UPDATE – HINWEIS: weiter unten habe ich Pressestimmen und meine eigene Einschätzung zur Sendung am Tag danach ergänzt sowie ein sehr umfangreich geratenes storify der Tweets zur Sendung. **
Der Titel der Sendung:

Der Spion in unserem Land

Können wir den USA noch trauen?

Man könnte das kurz beantworten mit „Nein, kann man nicht“. Siehe dazu auch einen Zusammenschnitt einer früheren Talkshow, bei der ich zum gleichen Thema schon einmal sprach, ich benutzte damals den Begriff „notorische Lügenregierung“. Er gilt heute mehr als je zuvor. Mit Klick auf das Video kann man das auf YouTube ansehen:
24.10.2013 - Maybrit Illner Talkshow zum Überwachungsskandal, Schnitt von Bananenrepublik
Inzwischen ist zwar viel passiert, aber wenig Gutes. Ich habe das in meinem Blogpost zur Lanz-Sendung ja schon einmal zusammengefaßt.
Ich sehe insbesondere nach wie vor kein erkennbares Interesse der Bundesregierung an umfassender Aufklärung, mal sehen, was Kanzleramtsminister Altmaier da heute abend zu sagen hat. Ich hoffe sehr, dass der Titel nicht bedeutet, dass wir wieder nur mit dem Finger auf die USA zeigen, denn mir ist vor allem die Rolle der Deutschen Geheimdienste wichtig und wie auch unsere Dienste sich aktiv an anlassloser Massenüberwachung beteiligen.
Und das ist die Gästeliste für heute abend:

  • Peter Altmaier, Kanzleramtsminister, CDU
  • Konstantin von Notz, MdB, Mitglied des NSA UA, B90G
  • John Kornblum, früherer US-Botschafter in Berlin
  • Horst Teltschik, früherer außenpolitischer Berater von Helmut Kohl, ehemaliger Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz
  • Erich Schmidt-Eenboom, Buchautor („Gegen Freund und Feind,  die Geschichte des BND“) und Geheimdienstexperte, Forschungsinstitut für  Friedenspolitik in Weilheim
  • und ich („Netzaktivistin“, „Piratenpartei“)

Sehr schön fand ich die Ankündigung dazu von der Piratenpartei, die blitzschnell ein Banner dazu gebaut hat, Merci an @DerSchnappi!

Foto Mike Herbst, CC BY

Foto Mike Herbst, CC BY NC 2.0

Einen 16 Min. Zusammenschnitt der Lanz-Sendung gibt es im übrigen vom Rumfunk auf YouTube, wer das sehen möchte, kann das HIER tun.
UPDATE 18.07.2014
Pressestimmen zur Sendung:
Berliner Zeitung:

Nur Netz-Aktivistin Anke Domscheit-Berg konnte mit einigen bedenkenswerten Fakten aufwarten: Dass die Amerikaner die Nutzer des verschlüsselten Servers „Tor“ als Extremisten bewerten etwa, und dass der BND jüngst 300 Millionen Euro bekommen habe für verbesserte Analyse – sprich Ausspionieren – von sozialen Netzwerken. Domscheit-Berg forderte noch einmal nachdrücklich, Edward Snowden einzuladen, was die Regierung fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, auch wenn Altmair beteuerte, das entscheide ja der Untersuchungsausschuss (was er aber natürlich  nicht tut).

Der Freitag:

Business as usual! Konstantin von Notz und Anke Domscheit-Berg taten, was sie konnten, um für Asyl für Snowden zu werben. Als Zeuge braucht er ein Umfeld, in dem er Aussagen kann, ohne sein aktuelles Asyl zu gefährden. Die Fraktion der „alten Männer“ erzählte von früher, will keine Empörung und stützt die Positionen der Regierung: bloß nichts tun.

Das Handelsblatt:

Die eloquente Piratin Anke Domscheit-Berg belebte die Diskussion mit konkreten Beispielen, etwa den rund 300 Millionen Euro teuren BND-Plänen, soziale Netzwerke in Echtzeit auszuforschen. Da nehme sich der deutsche Dienst amerikanische Aktivitäten als „Blaupause“, anstatt sich von ihnen abzugrenzen.So gewann die Diskussion, obwohl Illner der erwartbaren Dramaturgie folgte (und etwa Domscheit-Bergs Zweifeln, ob das Parlamentarische Kontrollgremium die deutschen Geheimdienste überhaupt kontrollieren kann, nicht nachging) allmählich an Schärfe.

Spiegel Online

Aber so, wie es bei ihm klang, meinte der frühere Deutschland-Botschafter John Kornblum es vermutlich sogar ganz ernst, als er konstatierte, eigentlich sei er froh, dass es zum Hinauswurf des Berliner CIA-Mannes und der Enttarnung des Maulwurfs gekommen sei – ein Vorgang im Sinne der Klärung und Aufklärung.
Da konnte ihm selbst Konstantin von Notz beipflichten, der für die Grünen im NSA-Untersuchungsausschuss sitzt und in dieser Illner-Runde zusammen mit der Netzaktivistin und Piratin Anke Domscheit-Berg so etwas wie das oppositionelle deutsche Unbehagen in seiner härteren Variante verkörperte.

Berliner Morgenpost:

Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg forderte, Whistleblower Edward Snowden müsse vor den Untersuchungsausschuss geladen werden.

Weitere Berichte in

Die ganze Sendung gibt es bereits auf YouTube zu sehen, allerdings offenbar ohne Einspieler. Ich werde einen besseren Link nachliefern, sowie es eine andere Version online gibt.
Ein paar Eindrücke von der Sendung selbst:
Ich war erschüttert (das ist keine verbale Übertreibung), welche Plattitüden und Unwahrheiten Kanzleramtschef Altmaier von sich gab. Unter anderem sprach er sinngemäß die folgenden Sätze…
Altmaier bei Illner:

Die Freiheit der Deutschen wird am Hindukusch in Afghanistan verteidigt. Der BND schützt dort unsere Soldaten.

Kontext: Ich hatte thematisiert, dass der BND gleiche Praktiken wie die NSA anwendet und massenhafte Überwachung in Afghanistan betreibt und Millionen von Daten an die NSA weitergibt. Dazu eine treffende Antwort auf Twitter:
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Der Generalbundesanwalt ist unabhängig, er ist Teil der Justiz und entscheidet allein. Da kann die Bundesregierung keinen Einfluss auf die Ermittlungen nehmen. Im übrigen zeigen die bestehenden Ermittlungsverfahren, dass die Justiz in Deutschland wunderbar funktioniert“

Kontext: Konstantin von Notz warf der Bundesregierung vor, sich nur über Merkels Handy aufzuregen, aber nichts gegen die Überwachung von 80Mio Deutschen zu tun. Altmaier stritt das ab – die Bundesregierung hätte Aufklärungsinteresse. Ich warf daraufhin ein, dass dies nicht stimme, denn auch über ein Jahr nach Bekanntwerden des Überwachungsskandals hätte der Generalbundesanwalt nur 3 Verfahren eröffnet – eines wegen Merkels Handy und zwei wegen der frisch aufgeflogenen Spione. Aber KEIN EINZIGES wegen der Massenüberwachung. Die oben zitierte Behauptung von Altmaier ist schlicht falsch. Denn wie man HIER nachlesen kann, ist der Generalbundesanwalt NICHT Teil der Judikative, also der unabhängigen Justiz, sondern ein politischer Beamter, der der Exekutive angehört und über den der Justizminister höchstpersönlich die Dienstaufsicht ausübt. Selbstverständlich kann daher die Bundesregierung ihrem Generalbundesanwalt nahe legen, ein Verfahren zu eröffnen, denn an einem „Anfangsverdacht“ zur Massenüberwachung mangelt es schon lange nicht mehr.
Dazu zwei Zitate von der Website des Generalbundesanwaltes:
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Snowden braucht nicht persönlich im NSA Untersuchungsausschuss angehört werden, er kann ganz einfach in Russland angehört werden, z.B. per Video, denn die Russen würden sich garantiert nicht aufregen, wenn er auf russischem Boden seine Aussagen macht. Es gibt keinen Mehrwert einer Anhörung in Deutschland. Und überhaupt entscheidet das der Untersuchungsausschuss.

Nun, da „irrt“ sich der Kanzleramtsminister wieder einmal gewaltig, denn wie praktisch ALLE Medien in Deutschland unisono berichteten, erhielt Edward Snowden für ein Jahr Asyl in Russland unter einer Bedingung – und die ist ein Maulkorb. Als Beispiel siehe diesen Auszug aus Spiegel Online vom 01.07.2013:
Screen Shot 2014-07-18 at 19.31.32Es dürfte sonnenscheinklar sein, wie diese Ansage von Putin zu interpretieren ist – Snowden darf NICHT frei reden. Das hat Snowden selbst auch schon oft genug bestätigt. Seine Anwälte haben Sicherheitsbedenken, sollte er die Abmachung mit Putin brechen. Man konnte das u.a. in der ZEIT nachlesen.

Altmaier redet - und ich höre ihm entgeistert zu...

Altmaier redet – und ich höre ihm entgeistert zu…


Aber es ging noch weiter:

Ob Snowden abgeschoben würde oder nicht weiß man nicht, auch nicht, ob ein Asylverfahren überhaupt Erfolg hätte, denn die Justiz in Deutschland entscheidet das und die ist unabhängig.

Mit meinen Worten formuliert, sagte Altmaier also „Kann man machen nix“ – als Bundesregierung. Aber auch das ist falsch. Denn es gibt zwei aktuelle Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, die aufzeigen, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, Edward Snowden einen sicheren Aufenthalt in Deutschland zu gewähren. Das Asylrecht ist eine davon, aber nicht die einzige. Es gibt Spielräume, die die Bundesregierung komplett unabhängig von einem Asylverfahren hat, das ja in der Tat durch unabhängige Gerichte abzuwickeln wäre (zum Glück, möchte man in diesem Fall hinzufügen). Die Bundesregierung kann ihm aus politischem Eigeninteresse und humanitären Gründen sofort und jederzeit ein Aufenthaltsrecht in Deutschland anbieten – wenn sie das will. Sie will allerdings nicht. Das ist nach den Aussagen von Altmaier mehr als deutlich geworden.
Auch Ex-Botschafter Kornblum und Kohls Ex-Sicherheitsberater Teltschik haben jede Menge Erschütterndes von sich gegeben. Ich kann mir das jetzt aber nicht auch noch antun, deren Aussagen auseinander zu nehmen. Nur eins vielleicht sei kurz erwähnt: Kornblum meint allen Ernstes, Snowden solle wie Martin Luther King doch für seine Überzeugungen ins Gefängnis gehen. Das wäre mal was Anständiges. Ja klar. Genauso anständig, wie es zu Zeiten von MLK war, ihn für seine Überzeugungen mehrfach in den Knast zu schicken. W.T.F.
UPDATE – 26.07.2014: Ich habe ein Storify mit Tweets zur Sendung erstellt, thematisch sortiert nach Schwerpunkten der Debatte. Die Sympathien schienen nach den ca. 1000 Tweets zum Hashtag #illner oder #maybritillner zur Sendung, aus denen die storify Auswahl erfolgte, jedoch recht einseitig zu ungunsten der Regierung und USA Repräsentanten verteilt. Die Lektüre ist recht lustig und gibt einen lesbaren Eindruck von der Talkshow, auch ohne sie zu sehen.
 
 

Terminhinweis: am 09.07.2014 – debattiere ich mit meinem Mann bei Markus Lanz zum Überwachungsskandal

Auch mehr als ein Jahr nach Beginn des NSA-Überwachungsskandals vergeht kein Tag, ohne das die Medien neue Enthüllungen daraus veröffentlichen. Ständig werden wir mit weiteren erschreckenden Details überrascht – wobei, eigentlich überrascht einen ja inzwischen nichts mehr, nicht einmal ein BND Mitarbeiter, der für den CIA den NSA-Untersuchungsausschuss gegen Geld ausspioniert und sich dann per Googlemail (!!!) dem russischen Geheimdienst anbietet, natürlich auch für Geld.

Ausschnitt aus Spiegel Online " Spionage-Affäre beim BND: Alle Spuren führen in die USA", Matthias Gebauer, 06.07.2014

Ausschnitt aus Spiegel Online “ Spionage-Affäre beim BND: Alle Spuren führen in die USA“, Matthias Gebauer, 06.07.2014


Fast könnte man wieder Hoffnung bekommen, bei soviel Inkompetenz in unseren Geheimdiensten. Aber das war jetzt Sarkasmus und  nicht ernst gemeint. Wir können uns gar nicht genug Sorgen machen um den Zustand unserer Demokratie.
Bundestagspräsident trägt Überwachung „mit Fassung“, Bundestag applaudiert
Der NSA Untersuchungsausschuss wird aktiv von der Bundesregierung an der Aufklärung behindert, indem die Anhörung des wichtigsten Zeugen, Edward Snowden, verhindert wird. Der Bundestagspräsident Lammert trägt die vollständige Überwachung aller Bundesbürger – sich eingeschlossen – mit Fassung, eine Mehrheit im Bundestag lacht dazu und findet das witzig, klatscht auch noch Beifall, statt vor Entsetzen aufzustehen und Protestrufe zu skandieren.
YouTube: Schlagabtausch Gysi - Lammert am 25.06.2014 im Bundestag

YouTube: Schlagabtausch Gysi – Lammert am 25.06.2014 im Bundestag


Wie wenig kann eine Volksvertretung denn noch das Volk vertreten? Wie falsch kann eine Regierung die Prioritäten denn noch definieren? Wie sehr kann sie sich noch den USA anbiedern und die Interessen der eigenen Wählerinnen und Wähler verraten? Was muss noch passieren, damit das Volk zu Hunderttausenden auf die Straße geht, um die Regierung vor sich her zu treiben und endlich zum Handeln zu zwingen? Wie kommt es, dass die meisten Menschen es offenbar nicht empört, dass ihre Bundeskanzlerin in China einen Sack Reis umschubst, statt harte Regierungsarbeit zu machen und ihre Aufgabe als oberste Kontrolleurin der deutschen Geheimdienste zur Abwechslung einmal ernst zu nehmen und ganz hoch auf die politische Agenda zu setzen – da wo sie seit mehr als einem Jahr hingehört?
Es gibt kein räumliches Entrinnen mehr in einem globalen Überwachungsstaat

Markus Lanz - Logo Um diese und noch viel mehr Fragen wird es gehen bei der Markus Lanz Sendung vom Mittwoch, 09.07.2014, Ausstrahlung um 23:45 Uhr im ZDF, zu der mein Mann Daniel und ich gemeinsam eingeladen sind. Ich bin froh über jede Plattform mit Reichweite, die man nutzen kann, um die Dinge beim Namen zu nennen, der Bundesregierung ihren heuchlerischen Schleier vom Gesicht zu ziehen und ihre wahre Fratze zu zeigen: eine Fratze, die mit Integrität wenig zu tun hat, der man ansieht, dass es letztlich nur um Machterhalt und die Möglichkeit zur Manipulation der Massen geht, für die demokratische Grundrechte und die Interessen der Bürgerinnen und Bürger einfach so gar keine Rolle spielen. Diese Wahrheit wird immer noch viel zu selten benannt und von viel zu wenigen verstanden. Ich rede mir zumindest ein, dass die immer noch vorherrschende Lethargie in der Zivilgesellschaft nur am „nicht ausreichend verstanden“ liegt, denn die Alternative: „die Menschen haben das wohl verstanden, aber es juckt sie nicht sonderlich“, ist für mich zu schrecklich, um sie für wahrscheinlich zu halten. Es gäbe nicht einmal einen Ort, an den ich in einem solchen Fall auswandern wollen würde – oder könnte. Es gibt ja kein räumliches Entrinnen mehr in einem globalen Überwachungsstaat der digitalen Gesellschaft, den wir unweigerlich bekommen werden, wenn wir uns nicht gemeinschaftlich dagegen wehren.
Nein, ich bin Optimistin, ich glaube an die Aufklärung und daran, dass wir rechtzeitig und massenhaft aufstehen werden, um den Untergang der Demokratie zu verhindern. Ich glaube daran, weil ich die alternative Hoffnungslosigkeit nicht ertragen könnte und weil ich seit dem Mauerfall 1989 auch die unwahrscheinlichsten und größten gesellschaftlichen Veränderungen für möglich halte.
Ich hoffe, die Lanz Sendung ist eine gute Gelegenheit für diese Art von Aufklärung, so wie sie das früher auch schon war, als etwa mein Mann dort zu diesem Thema schon einmal zu Gast war. Ein Ausschnitt jener Lanz-Sendung vom 02.07.2013 zeigt, dass wir genau ein Jahr später immer noch die gleichen Fragen diskutieren müssen.
Daniel Domscheit-Berg bei Markus Lanz am 02.07.2013 zur Massenüberwachung (Ausschnitt)

Daniel Domscheit-Berg bei Markus Lanz am 02.07.2013 zur Massenüberwachung (Ausschnitt)


Im übrigen bin ich der Meinung, dass die deutsche Bundesregierung dem Whistleblower Edward Snowden politisches Asyl gewähren muss.
UPDATE (17.07.2014):
Im Rumfunk Kanal auf YouTube gibt es einen 16Min Zusammenschnitt der Lanz-Sendung mit Fokus auf das Überwachungsthema (es gab auch Fußball, Schönheits-OPs und Biographisches von Schauspielerinnen). Hier kann man ihn sich anschauen:
Zusammenschnitt Lanz-Sendung vom 9.7.2014 von Rumfunk - auf YouTube

Zusammenschnitt Lanz-Sendung vom 9.7.2014 von Rumfunk – auf YouTube


 Und noch ein Nachtrag: die Sendung wurde offenbar viel länger aufgezeichnet, als es Sendezeit gab. Ich habe das gar nicht bemerkt. Aber beim Anschauen der Sendung viel mir auf, wie viele Dinge herausgeschnitten wurden, die ich besonders wichtig fand. Es fehlen ca. 20 Minuten.
Am bedauerlichsten fand ich den Wegfall von zwei Themen:

  1. Wie Daniel den Mißbrauch von „Big Data“ im Dritten Reich beschrieb und die Beiträge, die IT Unternehmen wie IBM – Hollerith dazu leisteten, denn deren Technologie machte die verhängnisvolle Nutzung der Volkszählungsdaten für die Jugenverfolgung erst möglich. Wir könnten nicht nur, wir müssen auch aus der Geschichte lernen – tun wir aber bisher nicht.
  2. Wie ich das Argument „Überwachung ist wichtig, weil sie uns vor Terrorismus schützt“ widerlege und als Ammenmärchen der Regierungen entlarve. Wie Sascha Lobo so treffend beschrieb, handelt es sich bei Geheimdiensten und deren Regierungen um Überwachungsfanatiker, mithin selbst um Extremisten und um Sicherheitsesotheriker. Deren Lieblingsausrede (Terrorbekämpfung) ist hinreichend und wissenschaftlich ad absurdum geführt worden. Schade, dass diese Beiträge dem Schnitt zum Opfer fielen.

In Memoriam Frank Schirrmacher – † 12.06.2014

Frank Schirrmacher, Januar 2014

Frank Schirrmacher, Januar 2014, Foto: Dr. Wolfgang Domscheit


Noch bin ich in dem Zustand, wo man einen harten Fakt einfach nicht begreifen kann. Wo der Verstand sich verweigert, weil das Gefühl sagt, dass etwas einfach nicht wahr sein kann, weil es schlicht nicht wahr sein darf.
Es kann doch nicht wahr sein, dass vorgestern, am 12.06.2014, Frank Schirrmacher gestorben ist. Weil es doch nicht sein kann, dass ich nie wieder neue kluge Worte von ihm lesen werde. Weil es doch nicht sein kann, dass ich mich nie wieder mit ihm unterhalten werde, um Feedback bitten kann oder Feedback gebe. Weil es doch einfach nicht wahr sein kann, dass der einzige Mensch, der die Alte und die Neue Welt, das analoge und das digitale Zeitalter so wunderbar verband, weil er sie beide verstehen konnte, weil er von Verfechtern beider Welten respektiert und gehört wurde, dass dieser Mensch einfach so von einem Tag zum anderen nicht mehr da ist.
Wir werden seine noch nicht gedachten, noch nicht formulierten ganz sicher unzähligen und wichtigen Visionen, Ideen, Warnungen nie hören oder lesen können. Es gibt immer auch andere, die Ähnliches tun. Dennoch, selbst am 11.6. – vor seinem überraschenden Tod – hätte ich frei vom Verdacht posthumer Lobhudelei gesagt, dass es niemand so gut konnte, wie er.
Es war außergewöhnlich, wie gut er in die Glaskugeln der Zukunft für unsere Gesellschaft schauen konnte. Wie genau seine Visionen insbesondere für die revolutionären Potenziale einer digitalen Gesellschaft waren – aber eben auch für die extremen Bedrohungen für unsere Freiheit und die Demokratie, die von außer Kontrolle geratenen Geheimdiensten in Verbindung mit dem industriellen Komplex ausgehen, wenn sie die technischen Möglichkeiten so schamlos mißbrauchen, wie es jetzt schon der Fall ist. Nein, ich habe ihn nicht als finster in seinen Visionen erlebt sondern als jemanden, der die möglichen Wegscheiden frühzeitig sehen konnte, an denen wir uns als Gesellschaft entscheiden müssen, wohin die Reise gehen soll. Er sah immer die unterschiedlichen Optionen und weil er wie eine Kassandra auch die schrecklichen Bilder sah, hat er davor gewarnt. Aber nicht als jemand, der glaubt, dass es nur so und nicht anders kommen kann, sondern als jemand, der uns zu Wachsamkeit und Aktion aufrütteln wollte. Denn als vernunftbegabte Wesen können wir doch mitbestimmen, wohin wir als Gesellschaft gehen wollen. Ich habe Frank Schirrmacher daher erlebt als einen Menschen, der uns beide Optionen plastisch beschreiben konnte, weil er sie beide vor sich sah – aber vor allem, weil er dazu beitragen wollte, dass wir gemeinsam den besseren Weg wählen und da wir schon falsch abgebogen sind, dass wir umkehren auf den rechten Pfad. Er war ein Aufrüttler und Mahner, ein Warner – der uns jetzt fehlen wird, denn seine Stimme war ungleich gewichtiger als so viele andere, die das gleiche versuchen. Jemand schrieb in einem Nachruf, dass sein Tod keine Lücke riß, sondern einen Abgrund. Das unterschreibe ich sofort.
Jedes der Gespräche, die ich vor allem am Rande von Konferenzen, auf denen wir beide sprachen, mit ihm führte, hat mich bereichert. Ungelogen, jedes einzelne. Von wie vielen Gesprächspartnern kann man das sagen?
Ohne Frank Schirrmacher, wäre mein Buch vielleicht nicht entstanden, oder mindestens nicht in der vorliegenden Form. Es gibt mehr als einen Verbindungspunkt  zwischen Frank Schirrmacher und meinem Buch „Mauern einreißen“.
Der erste: Im Oktober 2012 strahlte die ARD die zweiteilige Verfilmung des Romans von Uwe Tellkamp „Der Turm“ aus, die vor allem in der Zeit der DDR Wende spielt. Vieles an dem Film erinnerte mich an meine eigene Kindheit und Jugend, an meine Familie, an eigene Erlebnisse.

Ein Film schafft etwas Besonderes, wenn er Emotionen weckt und darüber hinaus eine Beziehung ermöglicht zum eigenen Erfahrungshorizont und zum kollektiven Gedächtnis. Bei „Der Turm“ habe ich das so intensiv erlebt, dass ich zwar einen Film am Bildschirm sah, aber parallel viele andere Filme in meinem Kopfkino. Das war emotional so anstrengend, dass ich nach dem zweiten Teil vom wieder ausgeschütteten Adrenalin, vom Wechselbad aus Tränen und Glücksgefühlen völlig erschöpft war. (aus „Filmreise in die eigene Vergangenheit“, FAZ, 13.10.2012)

Der Film bewegte mich im Innersten und ich twitterte darüber. Es entspann sich ein Dialog auf Twitter mit @dieKadda (Kathrin Rönicke) und @mh120480 (Marco Herack) sowie mit Frank Schirrmacher. Auslöser war nicht nur der Film sondern der Text „Die süße Krankheit gestern“ von Kathrin und Marco, (die übrigens auch den Wost-Kinder-Blog auf faz.net schreiben,) der ihre Sicht auf den Film darstellte und auf faz.net erschienen war.
Tweet Kadda Stasi Der Turm
 
Frank Schirrmacher folgte mir seinerzeit schon auf Twitter, las diese Tweets und schickte mir dann eine DM, in der er mich fragte, ob ich nicht für die FAZ einen Artikel zum Film Der Turm schreiben möchte, mit den auf Twitter erwähnten autobiographischen Bezügen.
tweet ADB zu Artikel Der Turm
Ich zögerte kurz und sagte dann zu. Zum ersten Mal hatte ich in diesem Artikel über die Zeit der Wende auf eine mich so persönlich betreffende Weise geschrieben. Ich empfand das damals auch als Risiko, denn immer dann, wenn man Persönliches, besonders emotionales über sich selbst und die eigene Familiengeschichte preis gibt, macht man sich angreifbarer als Mensch. Man setzt sich Kommentaren aus – potenziell – die verletzend oder beleidigend sind, man stößt vielleicht öffentliche Debatten über die eigene Biographie an, die man gar nicht unbedingt haben möchte.
ADB-Schirrmacher-Köpfe
Ohne Frank Schirrmacher hätte ich das damals nie gemacht. Und wenn die Resonanz auf meinen FAZ-Artikel „Filmreise in die eigene Vergangenheit“ nicht eine so überaus positive gewesen wäre, dann hätte Teil Eins meines später erschienenen Buches, in dem es ebenfalls um die Zeit der Wende in der DDR geht, sicher anders ausgesehen. Ich hätte nicht gewagt, so offen über mein Leben in jener Zeit des Umbruchs, davor und danach zu schreiben. Im Nachhinein halte ich das für einen Glücksfall, ich bin Frank Schirrmacher dankbar dafür, dass er mir die Gelegenheit gab, eine innere Barriere zu überwinden. Seither habe ich nicht nur über diese Zeit geschrieben sondern auch oft darüber geredet, in unzähligen Wahlkampf- und Medienterminen, vor allem in den letzten 12 Monaten, in denen die öffentliche Debatte von den Enthüllungen von Edward Snowden geprägt waren und in denen ich wie seinerzeit beim Schauen des Films Der Turm viele Déjà vu erlebte. Da war es wieder – das Gefühl bedrohlicher, allumfassender Überwachung durch Geheimdienste.

Die lähmende Ohnmacht war plötzlich wieder da, die Resignation und Hoffnungslosigkeit, wenn die Spitzel es nicht mal mehr für nötig hielten, ihre Tätigkeiten zu verbergen und Briefe im Studentenwohnheim einfach offen in das Postfach legten. Das Empfinden der ständigen Beobachtung, das allgegenwärtige Misstrauen– wir haben damals bei jedem Knacken in der Telefonleitung damit gerechnet, dass Dritte mithörten, manchmal haben wir sie sogar angesprochen: „Hallo Horch und Guck, viel Spaß beim Zuhören!“ (aus „Filmreise in die eigene Vergangenheit“, FAZ, 13.10.2012)

Gerade weil Frank Schirrmacher auf diese Weise indirekten Einfluss auf die Entstehung meines Buches hatte, lag mir viel an seinem Feedback zum Manuskript. Er war der erste Mensch – abgesehen von Lektoren, der das fertige Manuskript noch in einer rohen Fassung als Fahnen zu lesen bekam. Ich schwitzte Blut und Wasser, wartend auf seine Reaktion. Wir hatten vereinbart, dass er mir ein Zitat für den Buchdeckel schreibt, sofern er mit dem Buch etwas anfangen kann… Das war seine Antwort (der vorgeschlagene Zitattext wurde später noch für den Druck gekürzt):
Mail Schirrmacher zum BuchMeine Sorge war offenbar unbegründet gewesen. Sein Urteil bedeutete mir so viel! In meiner Antwort schrieb ich:
Mail ADB an Schirrmacher wg Zitat
Ja, er wollte eine gemeinsame Debatte zu meinem Buch und der Anlass war der beste, den ich mir vorstellen konnte: die Buchpremiere selbst.

Buchbox Ankündigung Buchpremiere

Ankündigung der Buchpremiere zu „Mauern einreißen“ auf der Website von Buchbox

Ich war keine Anfängerin in der öffentlichen Rede, aber ich hatte noch nie zuvor eine Buchpremiere gehabt. Ich war grenzenlos aufgeregt, hatte wirklich Panik, irgendetwas könnte schief gehen. Aber der Umstand, dass der von mir so hoch respektierte Frank Schirrmacher das Buch einerseits mochte und andererseits bei der Premiere an meiner Seite sein würde, beruhigte mich ungemein (wenn er auch nicht das Lampenfieber beseitigen konnte). Ich hatte zumindest die innere Gewißheit, dass nichts mehr so richtig schief gehen könne. Danke, Frank Schirrmacher. Ich bereue sehr, dass ich viel zu aufgeregt und verpeilt war, um mich um eine Video- oder wenigstens Audioaufnahme von diesem für mich so wichtigen Abend zu kümmern. Beides gibt es dadurch nicht und auch nur sehr wenige Bilder. Die Worte, mit denen er seine ersten Eindrücke schilderte, ließen mich rot werden. Ich habe mich sehr selten in meinem Leben über Lob so sehr gefreut wie an jenem Abend über das von Frank Schirrmacher. Er beschrieb dabei auch, wie er mit seinen Zeitungskollegen im Herbst 1989 darüber diskutierte, wie diese Menschen, die die Wende in ihrer Jugend selbst und prägend erlebt haben, wohl später einmal drauf sein werden. Mein Buch gab ihm dafür eine mögliche Antwort. (Update 17.06.2014: Wolfgang Noelke hat einen kleinen Ausschnitt der Debatte mitgeschnitten und genau den beschriebenen Moment dabei eingefangen – HIER kann man es sich in 4Min anschauen. Danke, Wolfgang @carnationberlin, dafür!)

Und das ist die gedruckte - gekürzte - Version des Frank Schirrmacher Zitates auf dem Rückumschlag meines Buches "Mauern einreißen"

Und das ist die gedruckte – gekürzte – Version des Frank Schirrmacher Zitates auf dem Rückumschlag meines Buches „Mauern einreißen“


Ich verdankte Frank Schirrmacher auch einen Vorabdruck aus meinem Buch in der gedruckten FAZ, darin ging es um einen Text aus dem Buchteil zu gläsernen Decken, der von den Barrieren handelt, die noch heute Geschlechtergerechtigkeit verhindern. Auch zum Thema Feminismus haben wir mehr als einen Verbindungspunkt, so lud mich Frank Schirrmacher ein, einen Text über Sexismus im Internet für die FAZ zu schreiben. Er erschien zwei Wochen vor der Buchpremiere unter dem Titel „Frauenhass im Internet – Das Medium braucht eine inklusive Kultur“. Ich frage mich, ob sich die Offenheit der FAZ, (auch) sehr progressive Texte zu Internet und Feminismus zu drucken, in Zukunft verändern wird. Konservative Texte gibt es ja leider schon genug. Wenn das Gegengewicht wegfiele, wäre das für die notwendige Debatte ein herber Rückschlag. Ich bin nicht sehr optimistisch. Zu viel hängt ja doch immer wieder von Einzelpersonen ab und für diese Themen war offensichtlich Frank Schirrmacher der progressive Geist in der FAZ. Aber vielleicht ehrt man sein Vermächtnis in einer Weise, die diese Kultur fortsetzt statt sie zu beenden. Es wäre mir ein großer Wunsch.
Frank Schirrmacher - fotographiert bei der Buchpremiere von Mike Herbst (@cyzen), zu finden auch auf Flickr (CC-BY-NC)

Frank Schirrmacher – fotographiert bei der Buchpremiere von Mike Herbst (@cyzen), zu finden auch auf Flickr (CC-BY-NC)


Vor ein paar Wochen verriet er mir hinter vorgehaltener Hand, dass er noch eine Überraschung für mich in petto hätte. Es würde noch eine Rezension in der FAZ geben, und die Überraschung wäre der Autor, es wäre jemand Besonderes, aber es sei ja eine Überraschung, also verrät er mir nichts, aber er sei sich sicher, ich würde mich über diese Person als Rezensent sehr freuen. Ich soll einfach noch eine Weile warten. Ich habe nie erfahren, wen er meinte. Vermutlich werde ich es auch nicht mehr erfahren. Eine Winzigkeit verglichen mit all den anderen Beiträgen, die wir alle nicht mehr von ihm erfahren werden. Es ist ein schwacher Trost, dass Frank Schirrmacher trotz seines frühen Todes im Alter von 54 Jahren eine beeindruckende Menge intellektueller Glanzleistungen hinterläßt. Denn so wunderbar diese sind, so lassen sie doch auch den Verlust an verpaßten Möglichkeiten ahnen.
Im Gespräch mit Frank Schirrmacher bei meiner Buchpremiere im Januar 2014 in Berlin

Im Gespräch mit Frank Schirrmacher bei meiner Buchpremiere im Januar 2014 in Berlin, Foto: Dr. Wolfgang Domscheit


Mir ganz persönlich wird am meisten die direkte Auseinandersetzung mit ihm fehlen. Jede einzelne hatte mich so inspiriert. Ich hätte gern noch über so vieles mit Frank Schirrmacher geredet. Ich kann mir nicht ansatzweise vorstellen, wie es seiner Familie gehen muss. Sie hat mein aufrichtiges Beileid. Seine Angehörigen und viele andere haben einen Menschen verloren, der für sie persönlich wichtig war, aber er war es auch für „Die Sache“. Und „Die Sache“ war nichts weniger als die Zukunft der Gesellschaft, unser aller Zukunft, die Zukunft der Demokratie und der Freiheit. R.I.P., Frank Schirrmacher.
Ich wünschte, er hätte sich in diesem Kampf nicht so gefährlich selbst verbrannt. Möge sein früher Tod uns allen daher auch eine Warnung sein, denn Weltretten braucht einen langen Atem und das heißt auch einmal eine Pause machen und einen Gang runterschalten. Ich werde mir das zu Herzen nehmen, als letzten unausgesprochenen Rat von Frank Schirrmacher. Ich würde zwar auch gern so ein strahlendes Glühwürmchen sein wie er eines war, aber ich möchte nicht so früh verglühen.

Terminhinweis: Debatte mit meinem Mann und mir in Wien am 12.6.14 zu "Widerstand im digitalen Zeitalter"

Das Bruno Kreisky Forum lädt am 12.6.2014 in Wien zu einer Debatte ein, die aktueller nicht in die heutige Zeit passen könnte. Es geht um die Frage des Widerstands im digitalen Zeitalter, um Transparenz und mehr Mitbestimmung für Bürgerinnen und Bürger, darum, wie wir uns etwa gegen unkontrollierte und ausufernde Massenüberwachung durch Geheimdienste im In- und Ausland wehren können.
Wann: 12.06.2014, 19:00 Uhr
Wo: Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog, Armbrustergasse 15, 1190 Wien, Österreich
Wer: Anke und Daniel Domscheit-Berg als Debattengäste, Moderation: Isolde Charim, Autorin und Philosophin
Anmeldung: Ist erwünscht. Details dazu finden sich in der Einladung (pdf)
Logo Kreisky ForumIch freue mich auf die Debatte, gerade weil ich sie gemeinsam mit meinem Mann führen kann. Das ist zwar nicht unser erster Auftritt als Experten-Paar, aber es ist mir jedes mal ein besonderes Vergnügen. Wir führen ja tatsächlich ähnliche Debatten auch zuhause bei Tisch und auch das ist spannend, aber mit Publikum, das mit diskutiert, ist es noch einmal etwas Anderes. Wir freuen uns auf eine lebendige Diskussion in Wien und hoffentlich ein paar bekannte Gesichter! Kommt zahlreich 🙂
 

Leaken für die Demokratie? Lobbyismus sichtbar machen!

Es gibt wohl keine Gesellschaftsform, die sich nicht von selbst zum Schlechteren entwickelt, das gilt auch für die Demokratie. Zu einflussreich sind manche Eigeninteressensvertreter*innen, zu ineffektiv die Grenzen, die diesen Einflüssen gesetzt werden. Es sind doch seltsame Zufälle, wenn, knapp drei Wochen nach der Bundestagswahl und ein paar Tage nachdem Angela Merkel erfolgreich die Verschärfung der CO2 Ausstoßgrenzen für Autos in der EU verhindert hatte, die Quandtfamilie (BMW) fast 700.000 Euro an die CDU überweist. Weil hier hohe Spendengrenzen überschritten wurden und das Feingefühl der Quandts hinreichend klein war, haben wir davon zeitnah erfahren und können uns unseren Teil dabei denken.
Der Regelfall ist Transparenz nicht und das, obwohl Transparenz das effektivste Mittel gegen unlautere Einflussnahme auf politische Meinungsbildungsprozesse ist. Lobbyismus ist normal, er wird nicht nur von Industrieverbänden und Einzelunternehmen sondern auch von Vertretern der Zivilgesellschaft wie Greenpeace betrieben. Aber es herrschen Ungleichgewichte in den Einflussmöglichkeiten, verursacht durch den Umstand, dass sich einige Einflussnehmer leisten können, Vollzeitlobbyisten mit hohen Budgets auf den Weg zu schicken, während andere das in ihrer Freizeit und oft mit geringsten Ressourcen leisten. Daraus ergeben sich unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu interessanten Personen und Informationen. Sie erzeugen ein Informationsgefälle und ein Informationsgefälle erzeugt immer auch ein Machtgefälle. Damit ist Lobbyismus eben nicht “gleichberechtigt” und der Staat muss für einen Ausgleich dieses Informationsgefälles sorgen. Dieser Ausgleich muss auf zwei Wegen erreicht werden.

Sichtbarmachung von Lobbyeinflüssen

Ist das noch transparent oder schon durchsichtig?
Spiegelneuronen.kilu.de (CC BY-NC-SA2.0)

Der eine Weg ist die vollständige Sichtbarmachung von Lobbyeinflüssen, denn ihre Transparenz verringert die Wahrscheinlichkeit, dass etwa Abgeordnete nicht nach ihrem Wissen und Gewissen sondern nach ggf. unlauterer Einflussnahme entscheiden. Unsere Regelungen zur Transparenz von Nebeneinkünften Abgeordneter oder zur Offenlegung der Parteienfinanzierung verhindern bisher, dass wir mehr erfahren über mögliche wirtschaftliche Einflüsse. Drei Viertel aller Parteispenden bleiben anonym, viele Spenden werden erst anderthalb Jahre nach Zahlung offengelegt. Es gibt auch kein verpflichtendes Lobbyregister in Deutschland, in dem alle Lobbyisten sich registrieren müssen – egal ob sie einen Verband oder ein einzelnes Unternehmen vertreten. Dabei bräuchte es sogar einen Lobbykalender, um den tatsächlichen Einfluss auf die Politik nachvollziehbarer zu machen und eine Kennzeichnung von Texten, die von Lobbyisten in Entscheidungsvorlagen von Politik und Verwaltung eingeflossen sind und noch viele weitere Instrumente, um den gläsernen Staat zu schaffen und Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit der Kontrolle von unten zu geben.

Bringschuld statt Holschuld

Zum anderen brauchen wir eine Umwandlung der Holschuld staatlicher Informationen auf Seiten der Bürger*innen hin zu einer Bringschuld für diese Informationen auf Seiten des Staates. Im Sinne des „Open Government” – eines transparenten und partizipativen Staates – sind alle staatlichen Informationen automatisch und in maschinenlesbarer Form zu veröffentlichen, mit nur zwei Ausnahmen: personenbezogene Daten und Daten mit begründeter, besonderer Sicherheitsrelevanz. Das betrifft nicht nur statistische Daten sondern eben auch Gutachten, Ausschussprotokolle, Entwürfe für Gesetze und dergleichen, die zeitnah zu veröffentlichen sind.
Es ist nicht nachvollziehbar, warum selbst Verträge mit enormen Auswirkungen auf das Leben der Menschen nicht unter den wachsamen Augen der Zivilgesellschaft verhandelt werden. Erkennbar ist jedoch, dass solche unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelten Verträge oft einen schlechten Interessensausgleich abbilden oder mit anderen Worten zum Nachteil der Allgemeinheit ausgehandelt wurden. Dagegen gibt es nur eine Form der Selbstverteidigung und das ist Transparenz von unten zu schaffen, etwa durch das Leaken von Vertragsentwürfen oder, wenn es dafür zu spät ist, wenigstens der finalen Vertragsunterlagen, wie das bei den Berliner Wasserverträgen geschah.

Transparenz als Chance

Das rechtzeitige Leaken solcher Entwürfe hat im Fall ACTA gezeigt, dass die Zivilgesellschaft damit eine Voraussetzung erhält, sich substanziell zu wehren. Wir erleben diesen Prozess gerade erneut nach dem Leak der Entwürfe des transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP, auf den erneut zwar Industrievertreter*innen aber nicht die Zivilgesellschaft Einblick und damit Einfluss hatten. Diese Transparenz ist für uns eine Chance, denn es lassen sich viel einfacher Menschen auf der Basis von Fakten mobilisieren, als aufgrund von Vermutungen. Viele Beispiele überall auf der Welt haben das gezeigt. Die arabische Revolution erhielt einen starken Auftrieb, als die Machenschaften der Regierenden durch geleakte Dokumente nachvollziehbar wurden. Die Wahlen in Kenia fielen anders aus, als die lange vermutete Korruption an der Spitze des Landes endlich nachgewiesen wurde – in beiden Fällen durch einen Leak auf WikiLeaks.
Als in Island geleakte Dokumente für jeden durchschaubar machten, wie Bankmanager*innen, Freund*innen und Verwandte die Bank mit Krediten in Milliardenhöhe ohne Sicherheiten plünderten und wie selbst Politiker höchsten Ranges Fehlverhalten verdeckten, weil sie eigene Vorteile davon hatten, befeuerte das die “Kochtopfrevolution” des Landes, in deren Ergebnis die Ablehnung der Sozialisierung von Bankverlusten in einer Volksabstimmung stand, die Bestrafung von Bankmanagern und Politikern sowie die Verabschiedung neuer Gesetze zur Schaffung von mehr Transparenz und einen besseren Whistleblowerschutz.
Whistleblower sind oft unser letztes Sicherheitsnetz, wenn die Demokratie auf Abwege gerät. Sie bringen Fakten ans Licht, die genug Momentum schaffen können, Fehlentwicklungen wirksam zu stoppen. Die Leaks von Edward Snowden gaben uns diese Möglichkeit, denn nur mit detaillierter Kenntnis zum Ausbau eines digitalen Totalitarismus können wir uns dem entgegenstellen. Galten Aktivisten, die vor dem Missbrauch technischer Überwachungsmöglichkeiten warnten noch vor wenigen Monaten als paranoid, nimmt man jetzt ihre Warnungen ernst.

Bedrohliches Potential

Die Snowden-Enthüllungen werfen jedoch auch viele neue Fragen auf, die zu beantworten sein werden. Dass sich die Bundesregierung hier in weitgehendes Schweigen hüllt und wenig Aktionismus an den Tag legt, hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Wahrheit für sie unangenehm ist und zu einer Dynamisierung der Protestbewegung führen kann. Mehr Kenntnis über Missstände, wie in diesem Fall über die fehlende Kontrolle der Geheimdienste und die mangelnde Einhaltung der Grundrechte durch staatliche Stellen würde es der Zivilgesellschaft leichter machen, konkrete Forderungen zu stellen und dafür Druck aufzubauen. So schafft Transparenz die Grundlage nicht nur für die Kenntnis sondern auch für die Erkenntnis – für die Durchschaubarkeit von Zusammenhängen, Netzwerken, Seilschaften, Verflechtungen von Interessen. Es ist genau diese Durchschaubarkeit, die nach wie vor von vielen Vertretern der politischen Klasse nicht gewünscht ist, denn Wissen ist Macht. Wer ein System durchschaut, der kann aufzeigen, an welchen neuralgischen Punkten es nicht mehr funktioniert und wie man diese Fehler korrigieren kann und Verflechtungen auflöst. Das ist für einige Vertreter*innen dieser Klasse ein bedrohliches Potenzial, deshalb ziehen sie es vor, im Dunklen zu Handeln. Umso wichtiger ist es daher, für Transparenz im staatlichen und politischen Handeln zu kämpfen, denn sie ist ein wichtiger Hebel in der Auseinandersetzung für eine saubere Demokratie und für die Verteidigung der Grundrechte aller Bürger.
Dieser Artikel von mir erschien bereits im Online Magazin Prager Frühling, Ausgabe Februar 2014.

Mein Versprechen bei wepromise.eu – Digitale Rechte möchte ich im Europa-Parlament verteidigen!

Die Initiative wepromise hat einen 10 Punkte Forderungskatalog für digitale Rechte (siehe unten) aufgestellt und Kandidat*innen für die Wahl zum Europa-Parlament aufgefordert, sich zur Umsetzung dieser Forderungen zu verpflichten. Das habe ich bei meinem Besuch in Brüssel im Europa-Parlament getan (siehe hier meine Berichte Teil 1, Teil 2 und Teil 3 zu dieser Reise).
In einem 2 Min Videostatement, zu dem es auch englische und französische Untertitel gibt, habe ich erklärt,

  • warum ich mich dazu verpflichte,
  • wofür ich mich in Brüssel besonders einsetzen würde und
  • warum es wichtig ist, wählen zu gehen.

HIER oder bei Klick auf das Bild könnt Ihr das Video auf YouTube sehen:
YT - Selbstverpflichtung zu Wepromise
Die 10 Forderungen von wepromise sind die folgenden (Details gibts bei Klick auf die einzelnen Forderungen):

  1. Ich werde mich für Transparenz, Zugang zu Dokumenten und Bürgerbeteiligung einsetzen.

  2. Ich werde Gesetze zur Stärkung von Datenschutz und Privatsphäre unterstützen.

  3. Ich werde mich für uneingeschränkten Zugang zum Internet und Internetdiensten einsetzen.

  4. Ich werde die Modernisierung des Urheberrechts unterstützen.

  5. Ich setze mich gegen flächendeckende, unkontrollierte Überwachungsmaßnahmen ein.

  6. Ich werde Anonymität und Verschlüsselung im Internet unterstützen.

  7. Ich werde Maßnahmen zur privatisierten Rechtsdurchsetzung außerhalb der Rechtsstaatlichkeit ablehnen.

  8. Ich werde mich für Exportkontrollen von Zensur- und Überwachungstechnologien  einsetzen.

  9. Ich werde mich für das Multistakeholder- und Mitbestimmungsprinzip einsetzen.

  10. Ich werde die Nutzung von Freier Software unterstützen (Open Source Software).

Auch Wählerinnen und Wähler bittet wepromise.eu, eine Verpflichtung abzugeben, nämlich, dass sie ihre Stimmabgabe bei den Wahlen zum Europa-Parlament an die Abgabe der Selbstverpflichtung durch wählbare Kandidat*innen binden werden.
 

Quer durch die Republik: Open Government, Guerillastricken, Debatten, Lesung – so bunt ist Wahlkampf

Man kommt ganz schön herum, so beim Wahlkämpfen, die Bahncard macht es leicht(er). Die letzten Tage führten mich nach Bielefeld und Kassel, nach Berlin und Brandenburg, nach Regensburg und Nürnberg.

42 - die Antwort auf alle Fragen... (vor der Open Government Veranstaltung im historischen Saal der Alten Spinnerei in Bielefeld)

42 – die Antwort auf alle Fragen… (vor der Open Government Veranstaltung im historischen Saal der Alten Spinnerei in Bielefeld)


In Bielefeld war ich am 09.04.2014. Im historischen Saal der Alten Spinnerei habe ich einen Vortrag zu Open Government gehalten. Die Veranstaltung war gut besucht, die anschließende Debatte war lebendig. Ringsherum hatten die Lokalpiraten Wahlplakate aufgehängt, die ich z.T. noch nie gesehen hatte. Auf dem lustigsten stand einfach nur „42“. Die Bielefelder Piraten haben dazu was gebloggt, im Text verlinkt ist eine Videoaufzeichnung von Vortrag und Debatte, Bilder gibts dort auch.
ADB-Bielefeld-klein

Guerillastricken am „Siggi“ in Bielefeld


 
In Bielefeld wurde die Idee geboren, an „meinen“ Wahlkampforten überall orangenes Guerillastricken zu hinterlassen – als kleine Markierung, Geschenk mit Verschönerungswirkung an den Ort und seine Einwohner*innen, als originelles und unaufdringliches Wahlplakat. Am nächsten Tag wollte ich nach Kassel, zur Whistleblowerpreisverleihung, bei der das „Kasseler Nebelhorn“ zum ersten Mal verliehen wurde. Aber das war erst am Nachmittag, ich hatte den Vormittag in Bielefeld noch Zeit. Perfekte Gelegenheit, zum Stadt bestricken. In der Bahn und am Abend hatte ich vorgestrickt und dann gings los. Erst waren wir am „Siggi“,  ich glaube richtig heißt er Siegfriedsplatz, wo wir vor einem Gemeindezentrum ein Geländer geflauscht haben.
Ja - sieht gut aus, der Piratenbutton sitzt perfekt!

Ja – sieht gut aus, der Piratenbutton sitzt perfekt!


Danach wurde ein Hundetütenspender in der Innenstadt in einer Einkaufsstrasse verschönt. Zum Schluss kam immer ein kleiner Piratenparteibutton dran, schließlich ist das eine Art Wahlplakat :-).
Übergabe "Kasseler Nebelhorn" an Whistleblowerin Cornelia Harig

Übergabe „Kasseler Nebelhorn“ an Whistleblowerin Cornelia Harig


Die nächste Station war Kassel, wo einer ehemaligen städtischen Angestellten, Cornelia Harig, das erste Kasseler Nebelhorn, ein Preis für Whistleblower und Zivilcourage, verliehen wurde. Mein Mann Daniel sprach eine Laudatio, eine Musikerteam begleitete die Zeremonie auf der großen Treppe des Kasseler Rathauses mit schöner Musik, und dort – neben der Musik – habe ich am Geländer der Rathaustreppe auch ein klitzebißchen was gestrickt. Mein orangener Fußabdruck, sozusagen. Untenstehend ist ein Video von der Preisverleihung verlinkt (Klick auf das Bild oder HIER), auf dem man mein kleines Strickstück auch bewundern kann :-).

YouTube Video zur Preisverleihung des Kasseler Nebelhorns an Cornelia Harig


Nur einen Tag darauf – am 11.04.2014 – hatte ich gleich zwei Termine, beide liefen gänzlich ohne Stricken ab. Immerhin mußte ich nicht weit reisen. Die European Initiative hatte in der Stadt Brandenburg zu einer Kandidatendebatte geladen, die erst recht normal verlief aber bei Öffnung für das Auditorium schon – sagen wir überdurchschnittlich – lebendig wurde, vor allem immer dann, wenn der anwesende Henryk M. Broder ins Wüten kam.
v.l.n.r.: Susanne Melior (SPD), Alfred Eichhorn (Moderator), Anke Domscheit-Berg (Piraten), Christiane Gaethgens (FDP), Michael Cramer (Grüne), Helmut Scholz (Linke)

v.l.n.r.: Susanne Melior (SPD), Alfred Eichhorn (Moderator), Anke Domscheit-Berg (Piraten), Christiane Gaethgens (FDP), Michael Cramer (Grüne), Helmut Scholz (Linke)


Kaum eine Zahl, die ein Kandidat erwähnte, die nicht von ihm lautstark korrigiert wurde, natürlich nicht ohne den Vorwurf, dass man als MdEP doch diese Zahlen alle ganz genau wissen müßte. Das EU Parlament ist für ihn sowieso nur eine „Schmierenkomödie“, er wetterte und fuchtelte mit den Armen, prangerte mal dies und mal jenes an. Leider fiel ihm keine einzige konstruktive Idee ein, so war das zwar reichlich unterhaltsam aber eben doch sinnlos. Gerade in Brandenburg, wo die Wahlbeteiligung bei den letzten Europa-Wahlen bei erschütternden 23 Prozent lag, ist ein Lamento darüber, wie blöd die EU und wie albern seine Institutionen sind, doch eher wenig hilfreich. Denn selbst wenn man an der Art und Weise, wie in der EU Politik gemacht wird, etwas ändern möchte (und das habe ich ja zum Beispiel vor), kann man das vor allem von innen heraus tun – oder von außen, in dem man wählen geht und anders wählt als bisher. Wer sich die Argumente eines H.M.Broder zu eigen macht, dürfte jedenfalls wenig Verlockungen spüren, am 25.5. auch wählen zu gehen. Damit schaden solche einseitigen Tiraden der Demokratie, weil sie demokratische Beteiligung verringern. Die übrige Debatte war in jedem Fall spannend. Eine Rolle spielte dabei TTIP, das transatlantische Handelsabkommen aber auch die Asyl- und Migrationspolitik der EU, die Bürger vor Ort als genauso unmenschlich empfanden wie ich. Der RBB berichtete, leider ist deren Beitrag wie üblich schon nach wenigen Tagen aus der Mediathek verschwunden. Einen Artikel in der Märkischen Allgemeine Zeitung gab es auch, darin steht dieses schöne Zitat:

Anke Domscheit-Berg (Piraten), bekommt mit ihrer Kritik am Transatlantischen Freihandelsabkommen(TTIP), das sie als Hinterzimmerpolitik bezeichnet und ihrer patriotischen Rede über ihren Glauben ans Mauerneinreißen und Weltverändern den ersten spontanen Beifall von den bis dahin still lauschenden Gästen.

Von Brandenburg ging es auf schnellstem Wege nach Berlin, wo ich beim Tazsalon u.a. mit Marina Weisband, Julia Reda (unsere Spitzenkandidatin), der Kunst-und Performancegruppe Bitnik aus der Schweiz, dem politischen Aktionserfinder @Jeangleur, Markus Beckedahl von Netzpolitik, Anne Roth, Jan Josef Liefers (der Pathologe vom Münster-Tatort 🙂 ) rund um das Überwachungsthema debattierte, bei Käse, leckerem Brot und Rotwein.

Der Käsetisch - nach dem Essen...vor dem Aufbruch, irgendwann so gegen 2 Uhr morgens

Der Käsetisch – nach dem Essen…vor dem Aufbruch, irgendwann so gegen 2 Uhr morgens


Das Konzept des Tazsalon ging auf, jeder Gast bringt einen Käse mit. Brot und den ganzen Rest stellt Martin Kaul, taz Journalist und Gastgeber. Man sitzt in der Küche seiner WG, die auf diese Weise zu einer Art „Hinterzimmer“ wurde. Passend zum Thema wurde nicht nur entschieden, Vertrauliches in diesem Raum zu lassen sondern sicherheitshaltber auch alle Smartphones in den Kühlschrank einzusperren. Die Mischung der Gäste und das entspannte Setting sind schon fast ein Garant für sehr spannende Diskussionen. Diesmal vor allem zur Frage, ob wir mehr digitalen Widerstand brauchen, welche Arten zivilen Ungehorsams vielleicht zielführender wären, als die x-te Demonstration gegen die NSA und inländische Massenüberwachung. Es ging um digitale Anarchie, die Legitimation und Notwendigkeit vielfältiger Widerstandsformen. Ideen wurden getauscht und geboren, wie man dem Thema mehr Aufmerksamkeit in der Breite und mehr Gewicht in der politischen Landschaft verschaffen kann. Wie zur Hölle man mehr Menschen vermitteln kann, dass diese Art digitaler Überwachung das Ende von Meinungsfreiheit und Freiheit im Großen und Ganzen in der digitalen Gesellschaft (also unserer Gesellschaft) bedeutet und mithin das Ende der Demokratie einläuten kann. Dabei gab es jede Menge Inspirationen, aber natürlich gelten die Regeln des Abends 🙂 deshalb steht hier jetzt nicht mehr dazu. Dass der Abend eine halbe Nacht wurde, war jedenfalls kein Zufall. Es war spannend verbrachte Zeit.
Am nächsten Tag moderierte unser Gastgeber des Abends, Martin Kaul, gleich drei Panels zum digitalen Widerstand beim tazlab, dem Jahreskongress der Tageszeitung im Haus der Kulturen der Welt. Fast alle Gäste des Abends waren auch Debattengäste auf dem tazlab. „Mein“ Panel drehte sich um die Möglichkeiten und die Pflicht zur (Selbst-) Verteidigung gegen Überwachung. Im Tazblog und im Hauptstadtblog konnte man darüber lesen.
kurz vor der Lesung aus "Mauern einreißen" in der Regensburger Buchhandlung Dombrowski

kurz vor der Lesung aus „Mauern einreißen“ in der Regensburger Buchhandlung Dombrowski


Meine nächsten Stationen lagen im tiefsten Süden. Am 14.04.2014 fuhr ich nach Regensburg, wo ich am Abend auf Einladung der Piratenpartei-Stadträtin Tina Lorenz aus „Mauern einreißen“ vorlas. Es waren zwar nicht sehr viele Gäste da, aber die waren alle so bei der Sache, dass wir nach einer Stunde Lesung und Anderthalb Stunden angeregter Debatte doch abbrechen mußten, da der Buchhändler verständlicherweise auch mal Feierabend machen wollte. Wie bei jeder Lesung habe ich viele spannende Geschichten von meinen Gästen gehört. Eine der Debattantinnen war in der DDR Lehrerin, u.a. für Geschichte. Sie erzählte, wie durcheinander es an den Schulen zuging in der Wendezeit, als viele Lehrer nicht mehr wußten, welchen Stoff sie vermitteln sollen und auf welche Weise. Das war natürlich bei ideologisch geprägten Fächern besonders der Fall, dazu gehörte auch Geschichte. Ich hatte erst kurz zuvor mit großer Begeisterung das Buch „Eisenkinder“ von Sabine Rennefanz gelesen, die zur Wendezeit als Schülerin eine Erweiterte Oberschule in Eisenhüttenstadt besuchte, und in deren Buch das Durcheinander an den Schulen aus Schülersicht lebendig beschrieben ist. (Ein Buchauszug der „Eisenkinder“ findet sich in der ZEIT.)
Der letzte Befestigungsfaden wird abgeschnitten - beim Guerillastricken am Alten Rathaus in Regensburg

Der letzte Befestigungsfaden wird abgeschnitten – beim Guerillastricken am Alten Rathaus in Regensburg


Der nächste Vormittag stand wieder im Zeichen des Guerillastrickens. Mit Tina Lorenz schaute ich mir die wunderschöne Altstadt von Regensburg an (Weltkulturerbe!) und an zwei Orten haben wir flauschige Marken hinterlassen.
Zuerst waren wir am Alten Rathaus, wo ich ein Geländer ummantelt habe – sorgfältig an den senkrechten Streben oben und unten befestigt, damit die Wolle nicht rutscht, wenn jemand sich daran festhält. Das Ambiente war einfach wunderschön. Die Treppe wirkt sehr majestätisch, das Portal rund um die uralte Tür natürlich erst recht. Man fühlt sich etwas klein auf dieser Treppe, aber in ehrwürdiger Umgebung.
Auf der Treppe des Alten Rathaus in Regensburg

Auf der Treppe des Alten Rathaus in Regensburg


Vom Alten Rathaus zogen wir zum Haidplatz, ebenfalls in der Altstadt gelegen, wo ein Halteverbotsschild eine Hülle aus schöner, bunter Wolle erhielt – und natürlich den obligatorischen Piratenbutton, denn es soll ja ein flauschiges Wahlplakat sein.
Haidplatz in Regensburg - verschönt mit Guerillastricken am 15.4.2014

Haidplatz in Regensburg – verschönt mit Guerillastricken am 15.4.2014


Lokale Medien berichteten über diese Aktion, so z.B. die Mittelbayerische Zeitung mit der Überschrift „Mehr Farbe mit den Piraten“. Der Artikel zeigt, wie man durch kreative und unkonventionelle Ideen Aufmerksamkeit auch für politische Themen erzeugen kann.
Ausschnitt Nürnberger Zeitung 15.04.2014

Ausschnitt Nürnberger Zeitung 15.04.2014


Von Regensburg ging es dann mittags nach Nürnberg, wo ich mich zuerst mit einer Autorin traf, die gerade ein Buch über die Wende schreibt. Ich erzählte Ihr meine Erlebnisse und sie mir ihre. Wenn im Herbst ihr Buch erscheint, werde ich hier im Blog rechtzeitig darauf hinweisen. In der Wolleabteilung eines Kaufhauses trafen mich dann die ortsansässigen Piraten beim Kaufen von Nachschub für das Guerillastricken.
Guerillastricken an der Nonnengasse in Nürnberg

Guerillastricken an der Nonnengasse in Nürnberg


Aber bevor Nürnberg geflauscht wurde, hatte ich noch einen Pressetermin bei der Nürnberger Zeitung. Der Artikel bezog sich vor allem auf meinen Vortrag am Abend zum Thema Open Government und wies freundlicherweise darauf hin, dass durch den Wegfall der Dreiprozenthürde keine Wählerstimmen mehr verloren gehen. Bei der Bundestagswahl betraf das immerhin 16% aller gültigen Stimmen, die wegen der Fünfprozenthürde faktisch verloren waren.
Ein „wolliges Wahlplakat“ haben wir dann an einem Halteverbotsschild an der Nonnengasse angebracht – an einem Platz mit Blick auf eine schöne Kirche, deren Namen ich dort leider nicht erfragt habe. Auch hier fehlt der Piratenbutton natürlich nicht, ohne den es sich ja kaum um ein Wahlplakat handeln würde ;-).
unser "wolliges Wahlplakat" der Piratenpartei für die EU Wahlen in Nürnberg, Nonnengasse

unser „wolliges Wahlplakat“ der Piratenpartei für die EU Wahlen in Nürnberg, Nonnengasse


Es war lausekalt an diesen Tagen, selbst beim kurzen Annähen der Stricksachen froren einem schier die Finger ab. Da war es nicht unangenehm, mal wieder drinnen zu sein. Im „Archiv“, einem linken Buch- und Dokumentenarchiv in einem Arbeiterstadtviertel Nürnbergs, habe ich am Abend in einem maximal vollbesetzten Raum einen Vortrag zu Open Government gehalten. Die Jungen Piraten hatten das maßgeblich organisiert, und das auch noch kurzfristig. Sie haben einen großartigen Job gemacht! Auch nach diesem Vortrag gab es eine längere Debatte mit dem Publikum.
StrickutensilienDanach war ich platt wie eine Flunder. Ein Bier mit den Lokalpiraten in einem irischen Pub mußte trotzdem noch sein, aber alt wurde ich dabei nicht und war froh, irgendwann in das Gästebett eines Piraten zu fallen. Bei der Heimfahrt am nächsten Tag habe ich wieder fleißig gestrickt, denn mein Ehrgeiz ist geweckt: ich möchte, wie in Bielefeld beschlossen, an jedem Ort, an dem ich Wahlkampf mache, etwas mit Guerillastricken verschönern. Mal sehen, ob mir das gelingt. Seit Bielefeld habe ich es nur in Brandenburg nicht geschafft. Okay, Berlin auch nicht gleich – aber das habe ich ein paar Tage später nachgeholt. Beim Text zum Zombiewalk kann man im demnächst mehr dazu lesen.

Besuch im Europäischen Parlament – Teil 3 – PPEU Gründung und Wahlkampfauftakt

Vorsitzende Amelia Andersdotter (rechts) und ihre Vize Martina Pöser (links) direkt nach der Wahl in den ersten PPEU Vorstand

Vorsitzende Amelia Andersdotter (rechts) und ihre Vize Martina Pöser (links) direkt nach der Wahl in den ersten PPEU Vorstand


Am Freitag, 21.03.2014 wurde die Gründung der Europäischen Piratenpartei abgeschlossen. So ein Prozess dauert schon aus formellen Gründen länger – in Brüssel fand als letzter Schritt die Wahl des ersten Vorstandes statt. An der Spitze der PPEU stehen nun zwei FrauenAmelia Andersdotter, die schwedische EU Abgeordnete der Piratenpartei als Vorstandsvorsitzende und Martina Pöser, Piratin aus Deutschland, als ihr Vize. Einen zweiten Vize gibt es auch: Maxime Rouquet aus Frankreich. Auch die übrigen Vorstandsmitglieder kommen aus ganz Europa und stehen für die Vielfalt der PPEU: Radek Petron aus Polen, Antonis Motakis aus Griechenland, Anders Kleppe aus Norwegen, Gilles Bordelais – Franzose aus Deutschland, Paul Bossu aus Belgien und Christian Bulumac aus Rumänien.
PPEU Gründung in Brüssel

PPEU Gründung in Brüssel


Mitglieder der PPEU sind Piratenparteien (und vergleichbare Organisationen) in ganz Europa, aktuell sind es Piratenparteien aus 20 europäischen Ländern. Mit dabei in Brüssel waren hunderte Pirat*innen, die wie ich begeistert waren von der transnationalen Atmosphäre und dem historischen Moment, den wir gemeinsam im Europäischen Parlament in Brüssel erlebten.
Delegierte von Piratenparteien aus Europa mit ihren Stimmkarten bei der PPEU Gründung

Delegierte von Piratenparteien aus Europa mit ihren Stimmkarten bei der PPEU Gründung


Wahlberechtigt waren jedoch nur Delegierte der Mitgliedsparteien. Deutschland hatte mit vier Delegierten die größte Gruppe an Repräsentanten entsenden können. Die Anzahl hängt ab von der Mitgliederzahl und der Repräsentation in Parlamenten. Es gab Debatten und Kritik am Delegiertensystem, aber ich halte das für die PPEU für den einzig sinnvollen Weg, wenn man verhindern möchte, dass jeweils die Lokalpirat*innen des Landes, in dem eine Abstimmung der PPEU stattfindet, die Mehrheiten bestimmen. Auch wenn es darum geht, Länder an der Peripherie der EU oder finanzschwächere Länder fair zu vertreten, macht ein Delegationssystem Sinn, denn sonst kämen aus NRW immer mehr PPEU Stimmen als aus Estland, Portugal und Island zusammen. Das wäre ungerecht und widerspräche dem Geist der PPEU.
Gewählt wurden auch zwei Kandidaten der PPEU für das Amt des Kommissionspräsidenten. Dieses Amt muss durch das EU Parlament bestätigt werden, in der Regel werden also nur Kandidat*innen der größten Fraktionen eine realistische Chance haben. Aber so what. Die PPEU ist selbstbewußt und für uns ist diese Kandidatur einfach eine politische Ansage! Unsere beiden Kandidat*innen sind Peter Sunde, u.a. Gründer der Piratebay und von Flattr sowie EU Kandidat der finnischen Piratenpartei und Amelia Andersdotter. Peter konnte leider selbst nicht dabei sein, er wird per Haftbefehl gesucht – wegen seiner Arbeit für die Piratebay. Sein Leben steht für die Absurditäten des aktuellen Urheberrechts, das aus engagierten Menschen Kriminelle macht. Ich empfehle, sein Grußwort an die PPEU noch einmal zu lesen, das ich für ihn vorgetragen habe (einen Videomitschnitt von der Rede aus dem EU Parlament gibts HIER).
Neben Stevan Cirkovic - ebenfalls Europa-Kandidat der Piratenpartei aus Deutschland bei der PPEU Gründung

Foto: Piratenpartei / Borys Sobieski (CC-BY); Neben Stevan Cirkovic – ebenfalls Europa-Kandidat der Piratenpartei aus Deutschland bei der PPEU Gründung


Für mich war es ein ganz besonderes Erlebnis, bei der Geburtsstunde der PPEU dabei zu sein. Bei der Gründungsveranstaltung und der sich anschließenden Internet Governance Conference, die mit hervorragenden Sprecher*innen besetzt war, wurde deutlich:

Es gibt einen Grund dafür, dass Piratenparteien entstanden sind. Und er ist immer noch da.
Es gibt einen Grund dafür, dass sie in Parlamente gehören. Immer noch.
Es gibt einen Grund dafür, dass unsere Visionen weiterhin niemand anders in der politischen Landschaft vertritt.
Alle diese Gründe sind ein Auftrag an uns, für diese Visionen aufzustehen: die Demokratie in einer digitalen Gesellschaft zu verteidigen, Grundrechte zurückzuerobern, Machtverhältnisse zugunsten der Zivilbevölkerung zu verschieben, den einseitigen Einfluss der Industrielobbyisten auf die Politik zu durchbrechen, die Freiheit des Internets mit Zähnen und Klauen zurück zu erkämpfen (nein, nicht verteidigen, denn das Internet ist schon längst nicht mehr frei), das Abdriften in einen digitalen Totalitarismus mit allgegenwärtiger Massenüberwachung zu verhindern – und noch viel mehr. Es gibt so viel zu tun für uns! So vieles, das höchste Priorität hat – und haben muss. Wir haben einfach keine Zeit und keine Energie übrig für alles, was uns davon ablenkt.

Es war mir wichtig, diesen „Spirit“ dort in Brüssel zu spüren. Im Alltag können diverse Gates und Querelen auf Twitter oder in Mailinglisten uns von diesen Zielen abbringen. Viel zu viele Pirat*innen befassen sich mit Nebensächlichkeiten, persönlichen Streitereien oder einem Fokus auf innerparteiliche Unzulänglichkeiten.
Logo PPEUAber so berechtigt die Frustrationen im Einzelfall sein können, jetzt geht es gerade um sehr viel mehr. Es geht schlicht ums Ganze. Es geht darum, dass sich ein Möglichkeitsfenster schließt und darum, dass wir nicht daneben stehen können, damit beschäftigt, uns zu zanken statt damit, den Fuß in den Spalt zu stellen und mit aller Kraft das Fenster aufzuhalten. Es wird sonst eines Tages zu spät sein und ich möchte mich nicht rückblickend fragen müssen, wie es denn kam, dass wir unseren Auftrag vergaßen, in einer Zeit, in der wir am dringendsten gebraucht wurden und wo wir denn da waren. Bei der Gründung der PPEU habe ich dieses gemeinsames Verständnis von Dringlichkeit für unsere Ziele und der Bedrohung der Gesellschaft gespürt. Es hat meinen Optimismus wachsen lassen und mir Kraft gegeben. Ich bin den vielen Pirat*innen aus allen Ecken Europas dafür sehr dankbar. Now is the time to act.
Dem Piratenmagazin KOMPASS habe ich zur Gründung der PPEU folgendes Statement gegeben:

“In jeder Minute war hier in Brüssel bei der Gründung der PPEU der Spirit einer internationalen Bewegung, die für die digitale Gesellschaft und damit für die Zukunft steht, zu spüren. Es ist inspirierend und motivierend, mit Piratinnen und Piraten aus ganz Europa mitten im europäischen Parlament Debatten zu brennenden Fragen zu führen.
Welche Bereicherung für die Demokratie Piratenparteiabgeordnete im EU Parlament wären, haben diese Debatten zu Themen wie Urheberrechtsreform, transatlantisches Freihandelsabkommen und Schutz vor staatlicher Massenüberwachung gezeigt. Auch unsere höhere Priorität hinsichtlich Transparenz und Teilhabe im politischen Betrieb wird hier in Brüssel dringend gebraucht.
Ich habe mir Rückenwind für den anstehenden Wahlkampf hier holen können und freue mich jetzt darauf, gemeinsam mit den anderen Kandidat*innen unserer Europaliste durchzustarten.”

Und wo ich gerade vom Wahlkampf schreibe – am 29.03.2014 fand der offizielle Wahlkampfauftakt der Piratenpartei Deutschland in Berlin statt. Fast alle Kandidat*innen waren da, unsere Kampagne wurde vorgestellt – u.a. die Wahlplakate, ein Wahlkampf-Radiospot eingespielt (ich habe dabei GOTT gesprochen!) und jede*r hat sich kurz mit seinem/ihrem Schwerpunkt für die Wahl und die Arbeit im EU Parlament vorgestellt. Passend dazu hat der Bayerische Rundfunk ein Interview mit mir zum EU Wahlkampf und unsere Schwerpunkte dabei ausgestrahlt. Es wird jetzt ernst – aber wir werden Spaß dabei haben!

Foto: Piratenpartei / Borys Sobieski (CC-BY), EU Kandidaten v.l.n.r.: Martin Kliehm, Fotio Amanatides, Julia Reda, Gilles Bordelais, Bruno Kramm, ich

Foto: Piratenpartei / Borys Sobieski (CC-BY), EU Kandidaten v.l.n.r.: Stevan Cirkovic, Martin Kliehm, Fotio Amanatides, Julia Reda, Gilles Bordelais, Bruno Kramm, ich


Den ersten Teil meines Berichts zum Besuch im EU Parlament, der sich vor allem mit Lobbyismus und der Urheberrechtsreform befaßt, gibt es HIER.
Teil 2 meines Berichts zum Besuch im EU Parlament mit vielen Eindrücken vor Ort und zu Gesprächen mit Abgeordneten des EU Parlamentes findet sich HIER.
 

Besuch im Europäischen Parlament – Teil 2 – Gespräche mit Piraten MEPs und Eindrücke

Dies ist Teil 2 meiner Berichte zum Besuch im Europäischen Parlament vom 19-22.03.2014. In Teil 1 habe ich über Lobbyismus und das Thema Copyright geschrieben. In diesem Teil soll es um die Eindrücke am gleichen Tag gehen. In einem dritten Teil schreibe ich zur Gründung der European Pirateparty und zur Internet Governance Conference, die am 21.03.2014 stattgefunden haben.

EU Parlament - Glasgang

EU Parlament – Glasgang zwischen Gebäuden


An meinem ersten Besuchstag im Europaparlament haben wir, Julia Reda, Fotio Amanatides und ich, mehrere Mitglieder des Europaparlaments und Mitarbeiter treffen können. Von allen Gesprächen habe ich sehr profitiert.
Unser Tag sah in der Übersicht so aus: Donnerstag, 20.03.2014

  • 08:00 Meet up am EU Parlament, Eingang Rue Wiertz, Akkreditierung
  • 08:30-10:00 Copyright Breakfast mit MEP Amelia Andersdotter. Member Salon
  • 10:00-10:45 Abstimmung deutscher Piratenpartei Kandidat*innen (Julia, Fotio, Anke).
  • 10:45-11:30 Führung durch das EU Parlament mit Mattias Bjarnemalm, Mitarbeiter im EU Parlament, Gespräch mit Christian – Mitarbeiter der Grünen-Fraktion für die Piraten-MEPs
  • 11:30-12:30 Video-shooting für wepromise.eu pledge mit Fotio und Anke
  • 12:30-14:00 Lunch mit MEP Martin Ehrenhauser
  • 14:15-14:30 Foto-shooting mit Team von wepromise.eu (goVeto)
  • 14:30-16:00 Meeting mit MEPs der schwedischen Piratenpartei: Amelia Amersdotter und Christian Engström
  • 16:00-16:45 Kaffee mit Strategieberater der Grünen-Fraktion Eduard Gaudot
  • 18:30-20:00 European Pirates Internet Governance Conference – opening event

EU Parlamant Kunst am BauDas Gebäude des Europa-Parlamentes besteht eigentlich aus mehreren Gebäuden, die teilweise über Brücken miteinander verbunden sind. Die meisten Teile sind hell und freundlich, hier und da steht ein riesiges Kunstelement herum. Das hier abgebildete soll sogar im ganzen Haus Töne verbreiten, wenn man an eine der Stangen schlägt ;-). Ohne Mattias, unserem „Reiseführer“ mit Insiderkenntnissen, wären wir sehr schnell in all diesen Gängen verloren gegangen. Er zeigte uns Bereiche, in die man als normale Besucher gar nicht kommt, die Fraktionsbüros der Grünen-Fraktion zum Beispiel, die diversen Cafés (es gibt sogar eines, das Mickey Mouse heißt), und die Labyrinthe, die alle möglichen Gebäudeteile miteinander verbinden.
Eindrucksvoll war die „Newsstation“ (wie der Ort tatsächlich heißt, weiß ich nicht – Update: Julia wußte es, es heißt „voxbox“). Dieser Counter sah jedenfalls aus wie eine TV Station, mit vielen flimmernden Bildschirmen, auf denen Interviews oder Einspieler liefen, Menschen, die wie Moderatoren oder Berichterstatter aussahen herumsaßen, und einem hinteren Gelände, in dem man jederzeit einen fertigen Hintergrund hatte für eine beliebige EU Talkshow, ein Interview oder was auch immer. Im diesem Bild steht Julia Reda, unsere Spitzenkandidatin daneben – wenn sie gewählte MEP ist (dafür reichen 0,5%!) – wird sie dort bestimmt noch oft stehen :-).

Julia Reda, Spitzenkandidatin der Piratenpartei Deutschland für die EU Wahlen, am Newscounter im EU Parlament

Julia Reda, Spitzenkandidatin der Piratenpartei Deutschland für die EU Wahlen, am Newscounter im EU Parlament (Update: das Ding heißt „voxbox“)


Die Glasgänge hatten es mir angetan – nachstehend nur eines von vielen Bildern, die ich dort gemacht habe. Im Foto: Julia Reda mit Martin Ehrenhauser. Ein wenig spacig sah es dort schon aus. Mir gefiel der transparente Charakter dieser Architektur.
Julia Reda, Piratenpartei Deutschland, mit Martin Ehrenhause in den Glasbrückengängen des EU Parlamentes

Julia Reda, Piratenpartei Deutschland, mit Martin Ehrenhause in den Glasbrückengängen des EU Parlamentes


Mit Martin Ehrenhauser – fraktionsloses Mitglied des EU Parlaments – sind wir in der Mittagspause in die Sonne gegangen. In einem Imbiß haben wir uns ein paar Kleinigkeiten geholt, die wir in einem Park in der Nähe als Picknick verspeist haben. Nebenbei haben wir uns über Alltag im Europa Parlament unterhalten, über Fraktionspolitik und solche Dinge.
EUParl-MitJuliaBeimPicknick
Ernster wurde es wieder nach dem Mittag, als wir mit den Piraten-MEPs Amelia Andersdotter und Christian Engstrom zusammen trafen. Nicht alles, was wir erfuhren, war ermutigend und machte Lust auf Europapolitik. Aber besser, man weiß vorher, was einen erwartet. Spannend war für mich, was die beiden MEPs erreichen konnten und in wie weit man überhaupt als einzelne Person dort einen Unterschied machen kann.
Christian Engstrom, Piraten-MEP aus Schweden. Mate gibt es in Brüssel offenbar genug.

Christian Engstrom, Piraten-MEP aus Schweden. Mate gibt es in Brüssel offenbar genug.


Gerade beim Widerstand gegen ACTA haben die beiden Parlamentarier jedoch viel erreichen können. In der Grünen-Fraktion, der die Piraten angehören, gab es keine besonderen Netzpolitik Kompetenzen, erst auf Bestreben der Piraten MEPs wurde ein Mitarbeiter dafür eingestellt.
Die Piraten-MEPs sorgten dafür, dass die Zivilgesellschaft Druck auf einzelne Abgeordnete machte, dass Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Initiativen entstanden, sie bereiteten den Boden innerhalb des Europa Parlamentes, auf den dann der externe Druck durch weltweite Anti-ACTA Proteste traf – so wurde der Widerstand besonders effektiv und am Ende kippte ACTA. Amelia Andersdotter hatte als Rapporteurin des Industrie-Ausschusses in diesem Gremium ein Proposal eingereicht, das einer der Sargnägel für ACTA wurde.
Amelia Andersdotter und ihr Team im EU Parlament (ganz links Mattias Bjarnemalm) - Ihr Büro befindet sich im Gebäudebereich 6E - außerhalb der Grünen-Fraktion, daher "Exile"

Amelia Andersdotter und ihr Team im EU Parlament (ganz links Mattias Bjärnemalm) – Ihr Büro befindet sich im Gebäudebereich 6E – außerhalb der Grünen-Fraktion, daher „Exile“


Amelia riet uns, im Wahlkampf verstärkt auf das Thema Copyright zu setzen, denn das Parlament kann sich nicht selbst aussuchen, welche Themen auf seine Tagesordnung kommen, da nur die Kommission das Initiativrecht für Gesetze hat. Bei einigen Themen steht jedoch schon fest, dass die kommende Legislatur sie auf den Tisch bekommt – dieses gehört dazu. Wir lernten, dass jede*r MEP Vollmitglied in einem der 20 Ausschüsse ist und stellvertretendes Mitglied in einem weiteren. Wer in welchen Ausschuss kommt, ist Verhandlungssache – vor allem innerhalb der Fraktion, der man angehört, denn jede Fraktion hat nur eine begrenzte Anzahl Ausschußmitgliedschaften zu verteilen. Mit einem Thema befasst sich meist ein Ausschuss federführend, andere arbeiten ggf. zu etwa durch Stellungnahmen. Beim Urheberrecht wird die Federführung wohl der Rechtsausschuss haben aber der Kultur und Bildungsausschuss und weitere werden Zuarbeit leisten.
Foto: GoVeto, von links nach rechts: Julia Reda, ich, Fotio Amanitides, Martin Ehrenhauser (MEP) vor dem Altiero Spinelli Gebäude des EU Parlamentes

Foto: GoVeto, von links nach rechts: Julia Reda, ich, Fotio Amanatides, Martin Ehrenhauser (MEP) vor dem Altiero Spinelli Gebäude des EU Parlamentes


Wir haben auch gefragt, welche Erfahrungen die MEPs gesammelt haben, von denen sie sich gewünscht hätten, sie hätten sie früher davon gewußt. Hier sind ein paar dieser Tipps (manche finde ich traurig):

  • Was immer Ihr sagt – geht davon aus, dass es auf die negativst mögliche Weise ausgelegt werden wird
  • Was immer Ihr versprecht – geht davon aus, dass es nie vergessen wird und auch unter widrigsten Bedingungen eingefordert
  • Vertraut nicht darauf, dass die Brüsseler Administration Euch die richtigen Prozessinformationen rechtzeitig zur Kenntnis gibt – stellt sicher, dass sich Eure Mitarbeiter*innen darum kümmern, dass alle erforderlichen Schritte frühzeitig bekannt sind
  • Vertraut nicht darauf, dass sich politische Gegner an die Regeln halten – sie werden tricksen, wo immer es geht
  • Delegiert alles, was mit Admin zu tun hat – Ihr braucht jede Minute für die inhaltliche, politische Arbeit; Ihr werdet immer zu viele Akten auf Eurem Tisch liegen haben
  • Erarbeitet Euch die Historie von Anträgen/Akten, die Ihr auf den Tisch bekommt, oft vermittelt die mehrjährige Entwicklungsgeschichte bestimmter Proposals ein besseres Verständnis, auch dazu, wie man die Inhalte entsprechend der eigenen politischen Schwerpunkte beeinflussen kann – und wie man das am besten anstellt.
  • Es gibt kaum MEPs, die ein Transparency Log pflegen – es ist aufwändig und die Grauzonen sind groß. Laßt Euch beraten von NGOs, die Expertise haben – von Transparency oder Lobby Control, wie man das am besten macht.

Illusionen hatten wir bestimmt alle keine, aber trotzdem war es nicht besonders ermutigend, vor allem Warnungen zu erhalten. Ich bin froh, dass wir mit einem guten Team einziehen werden – gemeinsam sind wir stärker.
Am Abend des 20.03.2014 begann die Internet Governance Konferenz der European Pirateparty – die Rede, die ich dort für meinen Mann Daniel und für Peter Sunde, den Gründer der Piratebay und Spitzenkandidat der finnischen Piratenpartei für die EU Wahlen gehalten  habe, habe ich bereits HIER veröffentlicht. In meinem 3. und letzten Bericht zum Besuch im Europäischen Parlament werde ich über die Fortsetzung der Internet Governance Konferenz am 21.3.2014 und die am gleichen Tag stattfindende Gründung der European Pirateparty schreiben.

Platz vor dem EU Parlament Richtung Place Luxembourg

Platz vor dem EU Parlament Richtung Place Luxembourg


Den ersten Teil meines Berichts zum Besuch im EU Parlament, der sich vor allem mit Lobbyismus und der Urheberrechtsreform befaßt, gibt es HIER.
Teil 3 meines Berichts zum Besuch im EU Parlament zu Gesprächen mit Abgeordneten und vielen Eindrücken vor Ort gibt es HIER.
 

Zu Besuch im Europäischen Parlament – Teil 1 – "Copyright Frühstück" – Lobbyismus in Aktion

Foto: www.goveto.orgvrnl: Martin Ehrenhauser (MEP), Julia Reda, Fotio Amanatides und ich

Foto: www.goveto.org vrnl: Martin Ehrenhauser (MEP), Julia Reda, Fotio Amanatides und ich


Zwei Tage lang habe ich gerade im EU Parlament in Brüssel verbracht, mich mit den Örtlichkeiten vertraut gemacht, am 20.03. zusammen mit unseren Spitzenkandidat*innen Julia Reda und Fotio Amanatides drei Europa-Abgeordnete (Martin Ehrenhauser – unabhängig, sowie Amelia Andersdotter und Christian Engstrom von der Schwedischen Piratenpartei) und mehrere Mitarbeiter von Abgeordneten (Grüne und Piraten) getroffen, ihnen allen Löcher in den Bauch gefragt, nebenbei einen kleinen Film für wepromise.eu gedreht, und dann die Gründung der Europäischen Piratenpartei miterlebt und die daran anschließende Internet Governance Konferenz am 21.03.2014 besucht.
Fotoshooting wepromise.eu

Fotoshooting wepromise.eu


Mattias Bjarnemalm, Mitarbeiter im Europäischen Parlament, hatte nicht nur alles für uns organisiert sondern sich auch vor Ort als gute Seele um uns gekümmert. Das war auch gut so, denn ich hätte mich in den Labyrinthen des Europäischen Parlamentes wohl oft verlaufen.
Aber eins nach dem anderen. Ich werde in mehreren Blogtexten davon berichten. Gestern habe ich bereits die Reden veröffentlicht, die ich für meinen erkrankten Mann und Peter Sunde, Gründer der Pirate Bay und finnischer Spitzenkandidat der Piratenpartei für die EU Wahlen, gehalten hatte.
In diesem Beitrag geht es um eine kleine Schule in Lobbyismus  und um die anstehende Urheberrechtsreform, mit der sich die nächste Legislatur beschäftigen wird.Logo PPEU
 
Lobby-Frühstück zur Copyright Reform mit Amelia Andersdotter
Einen sehr authentischen Eindruck von der klassischen Lobbyarbeit im Parlament bekam ich gleich am morgen nach meiner Ankunft in Brüssel: Amelia Andersdotter, schwedische Europaabgeordnete der Piratenpartei, war gemeinsam mit zwei Verbänden Gastgeberin eines „Copyright-Breakfast“, das schon früh um 08:00 Uhr begann und zu dem etwa 25-30 Vertreter von Verbänden, Institutionen, Unternehmen oder Parteien erschienen. Es gab ein paar kurze Vorträge zum Thema Copyright Reform in Europa mit dem Schwerpunkt Bibliotheken und Archive und einem Bezug zu einer Internationalen Regelung auf der Ebene der WIPO (World Intellectual Property Organisation). Ich habe in dieser Stunde eine Menge gelernt. Viele Hindernisse, die das veraltete Copyright verursacht, waren mir schon bewußt, aber ich habe von noch mehr Seltsamkeiten des aktuellen Rechts erfahren, die dringend einer Reform bedürfen.
Amelias Büro im EU Parlament von außen

Amelias Büro im EU Parlament von außen


So beklagten sich Vertreterinnen internationaler Bibliotheksverbände darüber, dass internationale Kooperationen zwar immer wichtiger aber auch immer komplizierter werden, weil es kein einheitliches Lizenzrecht gibt und selbst das Indizieren und Durchsuchen vorhandener elektronischer Archive dem Urheberrecht unterliegt und oft nicht auf legalem Wege stattfinden kann. Überhaupt bewegten sich die Hüter*innen großer digitaler Sammlungen stets am Rande der Illegalität, das Urheberrecht wirke als Forschungsverhinderungsrecht, das Zugang zu Wissen selbst für Forschende erschwert. Eine der Hauptaufgaben von Archiven – das Erhalten ihrer Sammlungen für die Zukunft – ist rechtlich besonders schwierig, denn dazu müssen digitale Werke oft in andere Formate umgewandelt werden und das ist fast immer ein Verstoß gegen das Urheberrecht.
Es gibt große bedrohte Bibliotheken, die ihre Archive daher auslagern, z.B. aus dem Kongo oder zur Zeit der Taliban aus Afghanistan nach Paris. Dort sind diese Sammlungen zwar sicher, aber wenn jemand etwa aus den Ursprungsländern dieser Kulturgüter Zugang dazu haben möchte, dann gibt es dafür keine Rechtsgrundlage. Dringlich waren die Appelle, die unter anderem von der Vertreterin des internationalen Verbandes der Forschungsbibliotheken kam. Die Befürchtung ist groß, dass wieder einmal eine Urheberrechtsreform vor allem die Interessen von Industrien widerspiegelt aber nicht der Zivilgesellschaft und damit eine Gemeinwohlorientierung.
In den letzten 100 Jahren gabe es 8 internationale Urheberrechtsverträge, die die Interessen der Rechteinhaber verstärkten. Es gab jedoch nur einen einzigen – und den erst im Jahr 2013, der im Interesse der Zivilgesellschaft entstand – er regelte die Rechte bei der Erstellung von Lesematerial für Sehbehinderte und Blinde, erst am Vortag des Frühstücks, am 19.3.2014, hatte der Europarat entschieden, den diesbezüglichen Entwurf der EU Kommission zu unterschreiben.
Eine Vertreterin der Kommission lobte die intensive Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den letzten Monaten, die dazu diene, einen besseren Einblick in den Reformbedarf zu bekommen. Piratenabgeordnete Amelia Andersdotter drückte sich zwar gewählt und diplomatisch aus, aber ihre Kritik blieb dennoch sehr deutlich: Aus Kreisen der Kommission sei verlautbart worden, dass eine Beteiligung an der Online Befragung eigentlich sinnlos sei, da man an Feedback nicht sonderlich interessiert ist. Diese Informationen wurden noch vor Ende der Beteiligungsfrist bekannt und hätten einen negativen Einfluss auf die Bereitschaft an Beteiligungen und sendeten ein maximal negatives Signal. Eine solche Einstellung wurde von der Kommissionsvertreterin selbstverständlich vehement abgestritten. Meine Meinung dazu war, dass wir ja alle sehen werden, wie ernst es die Kommission mit dem Bürgerfeedback meint, denn die über 11.000 eingereichten Rückmeldungen europäischer Bürgerinnen und Bürger sollen veröffentlicht werden, so dass nachvollziehbar wird, in wie weit die Meinung der Menschen Berücksichtigung fand. Dieser Prozess soll aber noch ein paar Wochen dauern. Für Ende Juni wurde jedoch ein Whitepaper der Kommission dazu angekündigt.
HP Help reform Copyright

HP Help reform Copyright


Dass es so viele Rückmeldungen wurden – 4.000 kamen in den letzten 24 Stunden – ist ein Verdienst von Amelia Andersdotter, die die Website http://copywrongs.eu/ www.savetheinternet.eu initiierte. Diese Plattform stellte in neun Sprachen ein Webfrontend bereit, in dem man besonders einfach Orientierung für die Online Beteiligung der EU finden konnte. Über alle Piratenkanäle in Europa wurde zur Beteiligung aufgerufen.
** Update 24.03.2014: Nach einem Kommentar zu diesem Blogtext wurde die Entwicklung der Website (richtig ist copywrongs.eu) von Amelia angestoßen und durch einen Workshop beim Kongress des Chaos Communications Club 30c3 von einer Gruppe österreichischer Piraten auf Basis der Arbeit eines Mitglieds der deutschen Open Knowledge Foundation (die mit youcan.fixcopyright.eu auch massiv zur hohen Anzahl an Antworten beitrugen) umgesetzt. Zu den Piratenkanälen, die europaweit für die Beteiligung trommelten, gehörten auch isländische Piraten – in der Tat ein sehr schönes Beispiel für Kollaboration in der internationalen Piratenbewegung.**
Hoffen wir, dass diese massive Mobilisierung Erfolg hat und es eine Urheberrechtsreform geben wird, die nicht nur die Interessen großindustrieller Rechteinhaber der Unterhaltungsbranche vertritt. Passend dazu habe ich gerade einen Text zu einem Interview mit Cory Doctorow auf irights.info gefunden. Mein Lieblingszitat daraus:

„Der Zweck des Urheberrechts aber liege nicht darin, „dass fünf Hollywoodstudios, drei Majorlabels und fünf Großverlage solvent bleiben“. Er liege vielmehr darin, dass die „größte Zahl an Menschen die größtmögliche Anzahl unterschiedlichster Inhalte produzieren und damit verschiedenste Menschen erreichen kann“.

Eine der Lobbyistinnen, Susan Reilly, kam von der European Association of European Research Libraries, LIBER. Sie sieht enorme Risiken für den Forschungsstandort Europa, der nicht Schritt hält mit der Entwicklung technischer Möglichkeiten:

„As the infrastructure evolves to accommodate rapid advances in information technology, an explosion in the production of data and a culture shift towards collaboration and openness, so too must the surrounding policies and legislation. So far, however, the evolution of copyright and associated intellectual property legislation has not kept pace with the digital age. Without significant changes to European legislation, Europe’s research potential will not be fully realised.“

Die Hauptforderungen dieses Verbandes ist eine Orientierung eines modernen Urheberrechts an folgenden Grundprinzipien:

  • Zugang und Nutzung von öffentlich finanzierter Forschung sollte nicht durch Urheberrecht unangemessen erschwert werden
  • Urheberrecht soll Innovation und Wettbewerbsfähigkeit fördern – nicht behindern
  • Der Erhalt und der Zugang zum kulturellen Erbe muss durch Ausnahmen vom Urheberrecht unterstützt werden

Eine Stellungnahme von LIBER mit den darüber hinaus geforderten Maßnahmen findet sich HIER. Ebenfalls dabei war Ellen Broad, Manager Digital Projects and Policy, bei der International Federation of Library Associations and Institutions, einem Verband, der zu den Gastgebern des Copyright Frühstücks gehörte (IFLA hat auch einen Bericht zu diesem Copyright Frühstück verfaßt).. Ihre Position war so ähnlich wie der Interessenshintergrund. Auch von der IFLA gibt es ein Statement zur Dringlichkeit der Copyrightreform, gerichtet an die World Intellectual Property Organisation, zu deren Entscheidungsmeetings auch die EU eine Delegation entsendet. Daran sollte auch ein*e Vertreter*in für die Bibliotheken teilnehmen – so die Forderung von Ellen Broad – damit die Interessen derer vertreten werden, die Forschung und Zugang zu Wissen einfach machen wollen, für möglichst viele Menschen.

beim Betrachten eines Models des EU Parlamentes (Foto: XXXX)

beim Betrachten eines Models des EU Parlamentes (Foto: Uwe Stein/ @mitkrieger)


Ich habe während meiner früheren beruflichen Tätigkeit ab und zu an Terminen teilgenommen, die man auch in Schublade „Lobbymeeting“ einsortieren könnte. Einmal war ich sogar in Brüssel mit Vertretern der ITK Industrie aus Deutschland. Wir trafen eine EU Kommissarin beim Abendessen (ich erinnere mich daran, dass sie einen flammenden Vortrag über Open Data gehalten hat), besichtigten Schauplätze der Politik und der eine oder andere Industrievertreter tat das, wozu er da war, offensiv die Interessen der Industrie vertreten. Zivilgesellschaft war nicht anwesend damals. Dieses Frühstück mit Amelia Andersdotter erschien mir anders, hier waren die Interessensvertreter für das Gemeinwohl eindeutig in der Überzahl. Es zeigte sehr deutlich, dass nicht jeder Lobbyismus schlecht ist. Auch das Gemeinwohl braucht Stimmen in Brüssel.
Leider ist das wohl immer noch die Ausnahme. Am Tag danach sprach E. Moody bei der Internet Governance Conference im EU Parlament, die ebenfalls auf Einladung von MEP Andersdotter stattfand. Seine Worte sinngemäß:

„Ich habe sehr oft an Terminen teilgenommen, die die EU organisierte, um die Zivilgesellschaft anzuhören. Selbst auf diesen Terminen habe ich regelmäßig Zweidrittel Vertreter der Großindustrie angetroffen, die stets eine Mehrheit bildeten gegenüber den tatsächlichen Vertreter*innen der Zivilgesellschaft. Dieses System ist strukturell kaputt.“

Genau dieses Strukturproblem macht die Präsenz von Piraten im Europaparlament so wichtig. Amelia zeigt, wie viel Unterschied eine einzelne Abgeordnete machen kann. Sie ist mir ein Vorbild.
Die Position der Piratenpartei zum Urheberrecht aus unserem Wahlprogramm für die Europawahl findet man übrigens HIER.
Teil 2 meines Berichts zum Besuch im EU Parlament mit vielen Eindrücken vor Ort und zu Gesprächen mit Abgeordneten des EU Parlamentes findet sich HIER.
Teil 3 des Berichts mit Bezug auf die Gründung der PPEU und den EU Wahlkampfauftakt gibt es HIER.